Bolivien

"Unsere Völker erwarten Ergebnisse"

Rede des Präsidenten Bolivines, Evo Morales, auf dem XV. UNO-Gipfeltreffen über den Klimawandel. Kopenhagen, Dänemark, 17. Dezember 2009

Zunächst möchten wir unserem Unmut über die mangelnde Organisation und die Verzögerungen Ausdruck verleihen, die auf dieser internationalen Konferenz herrschen. Dabei erfordert unsere Verantwortlichkeit, mit großer Effektivität vorzugehen. Unsere Völker erwarten Ergebnisse, die dazu dienen, das Leben, die Menschheit und den Planeten Erde zu retten.

Als wir wegen dieser Debatten gefragt haben, welche Probleme die Gastgeber aufhalten, verwies man uns an die Vereinten Nationen. Als wir nach den Problemen bei den Vereinten Nationen fragten, sagte man uns, dass Dänemark zuständig sei. So wissen wir nicht, wer eigentlich diese internationale Veranstaltung organisiert. All dies geschieht, während die ganze Welt von den Staatschefs eine Lösung erwartet, einen Lösungsvorschlag zur Rettung des Lebens.

Deshalb möchte ich auf sehr aufrichtige, ehrliche und verantwortungsvolle Weise unsere enorme Besorgnis über die hier herrschende Desorganisation zum Ausdruck bringen.

Nachdem ich einige Beiträge von Präsidenten aus der ganzen Welt gehört habe, bin ich überrascht. Sie haben nur die Auswirkungen und nicht die Gründe des Klimawandels behandelt. Es tut mir sehr leid sagen zu müssen, dass wir offenbar aus Feigheit nicht die Gründe für die Umweltzerstörung auf dem Planeten Erde berühren möchten.

Deswegen möchten wir von dieser Stelle aus bekräftigen, dass die Ursachen im Kapitalismus liegen. Wenn wir nicht feststellen, wovon die Zerstörung der Umwelt und folglich des Lebens und der Menschheit ausgeht, werden wir dieses Problem, das alle und nicht nur einen Kontinent, nur eine Nation, nur eine Region angeht, sicherlich niemals lösen können.

Deshalb ist es unsere Pflicht, die Gründe für den Klimawandel auszumachen und ich möchte Ihnen vor meinem Volk und vor der Weltbevölkerung sagen, dass die Ursachen für all dies im Kapitalismus begründet sind.

Selbstverständlich haben wir von Präsident zu Präsident, von Regierung zu Regierung tief greifende Differenzen. Worin aber liegen diese Differenzen? Wir haben zwei verschiedene Lebensweisen. Es stehen zwei verschiedene Lebenskulturen zur Debatte: die Kultur des Lebens und die Kultur des Todes.

Die Kultur des Todes, das ist der Kapitalismus oder wie wir als indigene Völker sagen, die Kultur des Lebens auf Kosten des Anderen; und die Kultur des Lebens aber, das ist der Sozialismus, das gute Leben.

Was sind die Unterschiede? Auf der einen Seite steht das Leben auf Kosten anderer, in Ausplünderung der natürlichen Ressourcen, in der Vergewaltigung der Mutter Erde, in der Privatisierung der grundlegenden Dienstleistungen. Währenddessen bedeutet das gute Leben ein Leben in Solidarität, in Gleichheit, in Ergänzung. In wissenschaftlichen Begriffen, aus marxistischer, aus leninistischer Sicht heißt dies: Kapitalismus und Sozialismus (...).

Diese beiden Lebenskulturen stehen zur Debatte, wenn wir vom Klimawandel reden. Und wenn wir keine Entscheidung darüber treffen, was die bessere Lebensart ist, werden wir dieses Thema sicherlich niemals lösen. In der Tat haben wir Probleme mit der Lebensart, mit dem Luxus, mit dem Konsumismus, der der Menschheit Schaden zufügt. Wir fürchten uns bei dieser Art internationaler Veranstaltungen davor, diese Wahrheit auszusprechen.

Zu Beginn meiner Aktivitäten in der UNO war ich sehr darüber besorgt, dass es offensichtlich keine Präsidenten gibt, die diese Wahrheit aussprechen. Alle lamentieren über den Klimawandel - aber niemand protestiert gegen den Kapitalismus, gegen den übelsten Feind der Menschheit. (...)

Hoffentlich können einige der Präsidenten des kapitalistischen Systems unsere Verfassung des bolivianischen Staates durchlesen. Glücklicherweise konnten wir diese Verfassung, wenn auch unter großen Mühen, verabschieden. Darin sind die Prinzipien des ama sua, ama llulla, ama q'ella (Quechua-Sprache, d. Red.) enthalten: das Nichtstehlen, Nichtlügen und Nichtfaulsein. Diesen Prinzipien zu folgen heißt, dem Volke zu dienen, den Völkern der Welt, den Völkern in Bolivien.

Es tut mir sehr leid, dass, während ich von diesem Pult aus spreche, die Leute hinausgeschickt werden und ich vor leeren Sitzen reden muss. Ich frage mich, was wohl passiert ist, bevor wir hier eingetroffen sind. (...) Aber wir werden noch die Möglichkeit haben, uns auf anderen internationalen Foren bei den sozialen Bewegungen Gehör zu verschaffen. Hier kann man uns sabotieren. Doch es ist egal, ob man die Leute hier hinaus schickt, damit sie uns nicht zuhören. (...)

Wenn das unsere tiefen ideologischen, programmatischen, kulturellen Differenzen sind, dann komme ich zu der Schlussfolgerung, liebe Präsidenten und hier anwesende Delegationen, dass es in diesem Jahrtausend wichtiger ist, die Rechte der Mutter Erde zu verteidigen als die Menschenrechte.

Die Erde oder der Planet Erde oder die Mutter Erde oder die Natur existiert und wird auch ohne die Menschen existieren. Aber der Mensch kann nicht ohne den Planeten Erde existieren. Von daher ist es unsere Pflicht, das Recht der Mutter Erde zu schützen. Den Planeten Erde zu verteidigen, ist wichtiger als die Menschenrechte zu verteidigen. (...) Wenn es keinen Planeten Erde mehr gibt, wenn dieser zerstört wird, was nützen dann die Menschenrechte (...)?

Ich grüße die Vereinten Nationen, die in diesem Jahr endlich den Internationalen Tag der Mutter Erde ausgerufen haben. Die Erde ist unsere Mutter, die Mutter ist etwas Heiliges, die Mutter bedeutet unser Leben. Die Mutter wird nicht vermietet, wird nicht verkauft, wird nicht vergewaltigt, sie muss respektiert werden. Die Mutter Erde ist unsere Heimstatt. Wenn die Mutter Erde all dies ist, wie kann es dann eine Politik der Zerstörung der Mutter Erde geben, der Vermarktung der Mutter Erde? Wir haben tief greifende Differenzen zum westlichen Modell. Dies steht im Augenblick zur Debatte.

Und deshalb, so möchte ich Ihnen, liebe Präsidenten, sagen, haben wir die Verpflichtung, die Mutter Erde vom Kapitalismus zu befreien (...).

Wenn wir die Versklavung der Mutter Erde nicht beenden, werden wir die Fragen des Lebens, der Menschheit, des Planeten niemals lösen können.

Natürlich haben wir, wie ich wiederholen möchte, tief greifende Differenzen mit dem Westen. Ich nutze diese Gelegenheit daher auch, zu unterstreichen, dass es jetzt so wichtig wie nie zuvor ist, das Thema der Klimaschuld zu erörtern.

Die Klimaschulden betreffen nicht nur ökonomische Ressourcen, sondern auch unser vorrangiges Vorhaben: die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen dem Menschen und der Natur, der Mutter Erde. Es geht um die Wiederherstellung dieses Gleichgewichtes, es geht darum, das Gleichgewicht innerhalb der Gesellschaft wieder herzustellen, die diese Welt bewohnt.

Ich bin hier in Europa und wie Sie wissen leben viele bolivianische Familien, lateinamerikanische Familien, in Europa. Sie sind hierher gekommen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. In Bolivien könnten sie 100 bis 200 US-Dollar im Monat verdienen. Eine Person kommt hierher, um zum Beispiel einen europäischen Großvater zu pflegen oder eine europäische Großmutter und verdient 1000 Euro im Monat. Das sind Asymmetrien, die wir von Kontinent zu Kontinent haben und die wir zu diskutieren gezwungen sind. Wir müssen darüber sprechen, wie ein gewisses Gleichgewicht zu erreichen ist, wie man diese tiefen Asymmetrien von Familie zu Familie, von Land zu Land und besonders von Kontinent zu Kontinent verringern und abbauen kann.

Wenn aber unsere Familien hierher kommen, wenn unsere Schwestern und Brüder kommen, um zu überleben oder um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, dann werden sie ausgewiesen. Sie bekommen dann Dokumente, die vom Europäischen Parlament "Rückkehrpapiere" genannt werden. Als die Großeltern der Europäer nach Lateinamerika gekommen sind, wurden sie niemals ausgewiesen.

Meine Brüder kommen auch nicht hierher, um Minen oder tausende Hektar Land zu vereinnahmen, um zu Großgrundbesitzern zu werden. Früher hat es weder Visa noch Reisepässe gegeben, um nach Abya Yala zu kommen, das heute "Amerika" genannt wird. (...)

Nun reden wir hier also über tief greifende Lösungen, tief greifend und historisch. Dabei möchte ich das Thema der Schulden ansprechen, über die Anerkennung des Rechtes der Mutter Erde. Wenn wir das Recht der Mutter Erde nicht anerkennen, dann werden wir vergebens über zehn Millionen, über 100 Millionen (US-Dollar für einen Klimafonds, d. Red.) reden, was eine Beleidigung für die Menschheit darstellt.

Wie gibt man der Mutter Erde ihr Recht zurück? Stellen Sie sich vor, im vergangenen Jahrhundert, vor 70 Jahren, da hatten die Vereinten Nationen gerade das Recht des Menschen erklärt, die Universelle Erklärung der Menschenrechte. (...)

Man hat den Völkern schließlich ihre Rechte zuerkannt und nun sehen wir uns in diesem Jahrtausend dazu gezwungen, die Rechte der Mutter Erde zu debattieren. Wenn wir das Recht der Mutter Erde nicht anerkennen, werden wir alle verantwortlich für die Folgen sein. (...)

Eine zweite Komponente ist die Rückgabe der Atmosphäre an die Entwicklungsländer, die die reichen Länder oder die Industrieländer mit ihren Treibhausgasen verschmutzt haben. Um diese Emissionsschuld zu bezahlen, müssen sie ihre Treibhausgase reduzieren und abfangen, sodass sich eine gerechte Aufteilung der Atmosphäre unter allen Ländern unter Berücksichtigung ihrer Bevölkerungszahl ergibt. Wir, die wir uns auf dem Weg der Entwicklung befinden, bedürfen dieser Ressourcen zur Entwicklung unserer Regionen.

Eine dritte Komponente ist natürlich die Beseitigung der gegenwärtigen und zukünftigen Schäden, die durch den Klimawechsel angerichtet werden. Diejenigen oder die Systeme, die dabei sind, die Umwelt und die Mutter Erde zu zerstören, haben die Verpflichtung, diese Schäden wieder gut zu machen.

Wegen dieser Schäden, das ist unser Vorschlag, müssen die reichen Länder alle Migranten aufnehmen, die vom Klimawandel betroffen sind. Sie dürfen sie nicht wieder wegschicken, zurück in ihre Länder, so wie sie das zurzeit tun, weil es schließlich die westlichen Länder sind, die die Verantwortung für diesen Klimawandel tragen.

Liebe Präsidentinnen und Präsidenten: Es ist unsere Verpflichtung, die ganze Menschheit zu retten und nicht nur die Hälfte der Menschheit. Das Ziel muss sein, die Temperatursteigerung soweit zu senken, um zu verhindern, dass viele Inseln verschwinden, dass Afrika einen klimatischen Holocaust erleidet, und dafür zu sorgen, dass unsere Gletscher und unsere geheiligten Seen nicht verschwinden. Die Reduzierung der Treibhausgase muss in den entwickelten Ländern realistisch umgesetzt werden. (...)

Ich möchte diese Gelegenheit dazu nutzen, um einen neuen Ansatz zu unterbreiten. Ich bin vorgestern Abend hier angekommen und habe von unseren Compañeros von der Staatskanzlei und unseren Botschaftern die Einschätzung gehört, dass es kein Abkommen geben wird. Da wir tiefgehende Differenzen in unseren Lebensformen haben, wird es bei dieser Art von Versammlungen niemals irgendwelche Abkommen geben (...). Ich grüße von hier aus Amerika, den Kontinent Amerika, wo wir Dank der Völker und einiger Präsidenten mit der permanenten Ausplünderung Schluss gemacht haben, die vom nordamerikanischen Imperialismus ausgeht.

Mein Respekt gilt Fidel, gilt Hugo Chávez, den sozialen Bewegungen, die Jahre zuvor das ALCA-Projekt aufgehalten haben, die Gesamtamerikanische Freihandelszone. Ich habe dazu stets nicht Amerikanische Freihandelszone, sondern Amerikanische Freikolonisierungszone gesagt (...). Wenn wir aus wirtschaftlicher Sicht über die ALCA sprechen, dann habe ich sie ALGA genannt, Area Libre de Ganancias de las Américas (Freie Profitzone Amerikas).

Dank der Kraft der Völker haben wir diese Projekte abgeschmettert. Hier möchte ich Ihnen sagen: Nur mit dem Kampf des Volkes, dem Kampf der Völker der Welt, werden wir den Kapitalismus stürzen, um die Menschheit zu retten.

Da wir uns hier nicht einigen können und es keine Abkommen gibt, möchte ich Sie darum bitten, von den Vereinten Nationen aus eine Lösungsmöglichkeit zu diskutieren, die nicht von den Staatschefs ausgeht, sondern von den Völkern der Welt: ein weltweites Referendum über den Klimawandel. Lassen Sie uns das Volk befragen, lassen Sie uns hören, was unsere Völker sagen. Was die Völker sagen, das sollte in verbindlicher Weise in allen Ländern der Welt respektiert werden. Auf diese Weise werden wir schließlich zu Lösungen kommen, obgleich wir tief greifenden Differenzen von Präsident zu Präsident, von Kontinent zu Kontinent gegenüber stehen, ganz besonders mit den Ländern des Kapitalismus.

Und ich möchte hier fünf Fragen aufwerfen, damit die Vereinten Nationen vom Verhandlungstisch die Befragung der Völker der Welt über den Klimawandel einleiten können.

Die Fragen für das weltweite Referendum über den Klimawandel lauten:

  • Erstens: Sind Sie damit einverstanden, unter Anerkennung der Rechte der Mutter Erde, die Harmonie mit der Natur wieder herzustellen? (...)
  • Zweitens: Sind Sie damit einverstanden, das System des Überkonsums und der Verschwendung zu ändern, welches im kapitalistischen System begründet ist? (...)
  • Drittens: Sind Sie damit einverstanden, dass die entwickelten Länder ihre Treibhausgasemissionen reduzieren und abfangen, damit die Temperatur nicht um mehr als ein Grad Celsius ansteigt? (...)
  • Viertens: Sind Sie damit einverstanden, alles, was für Kriege ausgegeben wird, umzuwidmen und einen Etat, der höher ist als der Etat für Verteidigung, dem Problem des Klimawandels zuzuweisen? (...)

Es ist in diesem Zusammenhang einfach nicht möglich, dass einige Länder wie die USA massenweise Gelder dafür ausgeben, um zu töten und zugleich kein Geld dafür da ist, um Leben zu retten. Das sind zwei Kulturen: die Kultur des Todes und die Kultur des Lebens. Und ich kann einfach nicht verstehen, dass die USA Ausgaben einplanen, um mehr und mehr Truppen zu mobilisieren, die dann Menschen töten. Selbstverständlich hat jedes Land das Recht, sich zu verteidigen. Das aber geschieht im eigenen Land. (...) Doch diese Art, Truppen nach Afghanistan und in den Irak zu schicken, Militärbasen in Südamerika, in Lateinamerika zu unterhalten, ist die beste Form der Unterstützung von Staatsterrorismus. Anstatt Gelder auszugeben für Staatsterrorismus, sollten wir lieber Geld ausgeben, um Leben zu retten (...).

Und als fünften Punkt, als letzte Frage, die wir uns stellen sollten, einen Vorschlag zur Diskussion unter Präsidenten, den wir natürlich noch verbessern können:

  • Sind Sie mit einem Tribunal für Klimagerechtigkeit einverstanden, um diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die die Mutter Erde zerstören?

Ich habe also bereits eine Stimme dafür abgegeben. Nun, liebe Präsidenten, möchte ich diesen Vorschlag hier vorstellen. Wir müssen uns entscheiden und es ist unser Vorschlag, dieses Tribunal für Klimagerechtigkeit bei der UNO einzurichten, ein Tribunal, das diejenigen verurteilt, die die Umwelt zerstören, diejenigen die zum Beispiel den Kyoto-Vertrag nicht respektieren.

Es ist höchste Zeit, diese schwierige Aufgabe anzugehen, um das Leben und die Menschheit zu verteidigen. (...)


Übersetzung: Klaus E. Lehmann (amerika21.de)