Port-au-Prince. Was einige Beobachter schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Haiti prophezeit hatten, ist nun eingetreten: Ein Sturm der Entrüstung und verzweifelter Wut hat das Land erfasst. Unmittelbar nach Bekanntgabe der offiziellen Wahlergebnisse am Dienstagnachmittag entlud sich dieser Unmut. Tausende strömten auf die Straßen und errichteten Barrikaden aus brennenden Autoreifen auf den großen Achsen der Hauptstadt Port-au-Prince. Die überdimensionierten Wahlplakate des Regierungskandidaten Jude Célestin wurden zu Boden gerissen und zertrampelt, Büros der Wahlbehörde zerstört und der sofortige Rücktritt der Regierung gefordert.
Auch in vielen anderen Städten fanden gewalttätige Demonstrationen statt, erste Todesopfer sind bereits zu beklagen. In der südwestlich gelegenen Küstenstadt Les Cayes lief eine aufgebrachte Menge mit Macheten und langen Stöcken bewaffnet durch die Straßen. Andernorts wurde eine Kaserne der UN-Stabilisierungstruppe MINUSTAH angegriffen.
Das verkündete Wahlergebnis sieht den Regierungskandidaten Célestin mit 22,48 Prozent nur wenige Zehntel Prozentpunkte vor dem Drittplatzierten, dem poulären Sänger Michel Martelly, der laut Wahlrat auf 21,84 Prozent der Stimmen kam. In der Stichwahl im Januar soll demnach zwischen der konservativen christdemokratischen Mirlande Manigat (31,37 Prozent) und Célestin, dem ungeliebten Schwiegersohn des amtierenden Präsidenten Préval, entschieden werden.
Es ist kaum damit zu rechnen, dass die haitianische Polizei die Lage unter Kontrolle bekommen wird. Gewalttätige Einsätze der Blauhelmsoldaten werden die angespannte Lage noch mehr anheizen. Die Einsatzleitung der UN-Truppen hat nicht zuletzt durch ihr Insistieren auf der Durchführung des Wahlgangs, durch ihre starre abweisende Haltung gegenüber einer eventuellen Mitschuld an der Entstehung der Cholera-Epidemie und schließlich durch das arrogante Auftreten des Leiters der Mission – des Guatemalteken Edmond Mulet, der mit dem kompletten Abzug der "internationalen Gemeinschaft" drohte, sollte "der Wille des Volkes nicht respektiert werden" – zu der extrem aufgeladenen Stimmung in der Bevölkerung beigetragen.
Die US-Regierung betonte nach der Bekanntgabe des Wahlresultats, dass diese Zahlen nicht dem Willen des Volkes entsprächen. Damit gießt sie zusätzliches Öl ins Feuer. Eine weitere Eskalation könnte den USA für eine erneute Intervention dienen. Eine entsprechende "humanitäre Mission" hatte die US-Armee schon nach dem verheerenden Erdbeben Anfang dieses Jahres unternommen. Die Entsendung von gut 20.000 Soldaten und Kriegsschiffen war in Lateinamerika, den USA und auch in der Europäischen Union auf harsche Kritik gestoßen.