Bolivien / Politik

Bolivien: Weltpremiere direkter Demokratie

Erstmals weltweit werden Richterämter per Direktwahl bestimmt. Kirche und UNO rufen zur Wahl, Opposition zum Boykott auf

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Ein Plakat des Obersten Wahlrats in Bolivien wirbt für die Beteiligung an der Justizwahl
Ein Plakat des Obersten Wahlrats in Bolivien wirbt für die Beteiligung an der Justizwahl

La Paz. In Bolivien werden am heutigen Sonntag die höchsten Richterämter in freien, geheimen und direkten Justizwahlen bestimmt. Es handelt sich dabei um die ersten Wahlen dieser Art weltweit. Insgesamt sind etwa 5,2 Millionen Abstimmungsberechtigte aufgerufen, über die Spitzenbesetzung des Obersten Gerichtshofs, des Verwaltungsgerichts, des in Bolivien ebenfalls einzigartigen Umweltgerichtshofs und über die Mitglieder eines Kontrollrats, der über die Arbeit von Richtern und Staatsanwälten wacht, zu entscheiden. Für die 54 Ämter stehen 74 Kandidaten zur Auswahl, wovon je zur Hälfte Männer und Frauen sind, wie es die Gleichstellungsklausel in der Verfassung vorschreibt. Neben der Regierung und etlichen sozialen Gruppen rufen sowohl die UNO, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), als auch die katholische Kirche zu den Wahlen auf. Gerade der Wahlaufruf der eigentlich als regierungskritisch geltenden katholischen Kirche gilt für viele Bolivianer als wichtiges Argument für eine Teilnahme.

Die Oppositionsparteien hingegen rufen in einer groß angelegten Kampagne zum Boykott der Wahlen auf. Laut ihrer Einschätzung soll mit diesen Wahlen die Justiz unter die Kontrolle der Regierung gebracht werden. Die Regierung wiederum bezeichnet die Wahlen als überparteiliche Demokratisierung der Justiz und betont, dass per Gesetz keiner der Kandidaten einer Partei angehören oder zuvor angehört haben darf. In der Plurinationalen Versammlung, die aus den zahlreichen Bewerbern die zur Wahl stehenden Kandidaten bestimmt, sei außerdem auch die Opposition vertreten. Diese aber verzichtete auf ihre Einflussmöglichkeiten und votierte für keinen der Kandidaten. Des weiteren steht das Wahlkampfverbot in der Kritik, das sowohl den Wahlkampf für, als auch gegen einen Kandidaten verbietet. Die Regierung argumentiert, damit solle die Politisierung der Wahlen verhindert und Chancengleichheit der Kandidaten garantiert werden. Die Kandidaten bräuchten sich dadurch nicht den Medien unterwerfen und ihr Wahlerfolg hinge so nicht vom teuersten Wahlkampf und somit von finanziellen Mitteln ab.

Die Opposition und private Medien kritisieren das Verbot, weil sie die in der Verfassung festgeschriebene Informationsverpflichtung der Medien dadurch beschränkt sehen. Ihrer Argumentation nach könne man nicht ausreichend über die Kandidaten informieren, da man sie nicht bewerten dürfe. Die Bevölkerung wisse daher gar nicht, für wen sie ihre Stimme abgebe. Boliviens größte Tageszeitung La Razón sowie die regierungsnahe Zeitung Cambio informierten in den letzten Wochen allerdings über jeden Kandidaten. In Kurzinterviews wurden die Kandidaten mit den gleichen Fragen konfrontiert, zusätzlich wurde ein Profil mit Lebenslauf veröffentlicht. Im staatlichen Fernsehsender Bolivia TV wurden jedem Kandidaten zwei Minuten zur Verfügung gestellt um ebenfalls gleiche Fragen zu beantworten. Des weiteren wurden landesweit kostenlos Hefte verteilt, in denen auf 48 Seiten über jeden Kandidaten neutral informiert wird. Die Regierung sieht die Informationsverpflichtung daher als ausreichend gegeben und verwirft die Kritik als politisch motiviert.

Die Wahlen werden zur Zeit allerdings auch von Protesten gegen eine Verbindungsstraße durch das Natur- und Indigenenschutzgebiet TIPNIS überschattet. Seit Mitte August protestieren hunderte Tiefland-Indigene gegen den Bau und marschieren seit fast einem Monat vom TIPNIS-Gebiet auf La Paz zu. Als die Polizei ein Protestcamp der Demonstranten gewaltsam auflöste, bezeichnete der bolivianische Präsident Evo Morales das Vorgehen der Polizei als unverzeihlich, setzte das Projekt aus und verabschiedete ein Gesetz zum Schutz des TIPNIS-Parks. Dennoch befindet sich die Regierung seit dem Polizeieinsatz in einem Umfragetief. Die täglichen Aktionen der Protestler bestimmen außerdem die mediale Berichterstattung. Auch deshalb gilt eine niedrige Beteiligung an den Wahlen als wahrscheinlich, auch wenn Evo Morales kürzlich noch eine Beteiligung von über 90 Prozent prophezeite.