In ak520 fordert Albert Sterr "detaillierte Untersuchungen", um sich des fortschrittlichen Charakters der bolivarianischen Revolution versichern zu können. Diese Untersuchungen liegen bereits vor. Die interessantere Frage lautet, warum ausgerechnet Venezuela von einigen deutschen Linken in einer permanenten Nachweispflicht für seine Solidaritätsbezugsberechtigung gehalten wird. Dabei sprengt die venezolanische Revolution die gewohnten Maßstäbe der Bewertung.
Nicht nur, dass ein gesamtes Land mit Staat und Gesellschaft Gegenstand eines Umwälzungsprozesses geworden ist. Dieser Prozess nahm seinen Weg auch noch über den legislativen Weg. Keine Experimente in vermeintlich kuscheligen Nischen mit putzigen ethnischen Minderheiten, sondern gleich das ganze Land. Keine Aufständischen, die auf Lkw mit roten Fahnen und klarer Programmatik in die Hauptstadt rollen, sondern ein diffuses Wahlbündnis, dessen Zentrum von außen nur schwer auszumachen ist. Das irritiert. Und wo die gewohnten Interpretationsschemata nicht funktionieren, greift mensch gerne auf andere Angebote zurück.
Von CNN bis taz gibt es solche Angebote. Im Kern umkreisen deren Fragen penetrant den demokratischen Charakter dieser Revolution, obwohl sie mit einer breiten Diskussion über eine neue Verfassung begann, obgleich diese in einer Volksabstimmung angenommen wurde, obzwar die Bevölkerung zwei Mal die Revolution auf der Straße und in den Betrieben verteidigte, obschon Hugo Chávez im Referendum der antidemokratischen Opposition wiedergewählt wurde, obwohl etwa zwei Drittel der Bevölkerung ihn 2006 mit einem Programm für den Aufbau des Sozialismus wählten, obzwar alle Initiativen von den Gesundheitsposten über die Genossenschaften bis zu den kommunalen Räten von der Bevölkerung selbst umgesetzt werden müssen, obschon Venezuela inzwischen zum Modell für Bolivien und Ecuador wurde und so weiter und so fort.
Nur ein Beispiel en détail: Die kommunalen Räte
Ein Paradebeispiel für die Adaption reaktionärer Politikvorstellungen lieferten Rivas, Zehatschek, Dröscher in ak 518. Die kommunalen Räte, schreiben sie, würden installiert, unterständen Vorgaben, seien Verwaltung der eigenen Armut, abhängig von einer Präsidialkommission, würden sich reduzieren auf und bekämen zugeschoben - ein Mischung aus handfesten Unwahrheiten und konsequent pejorativer Bezeichnung sozialer und demokratischer Fortschritte.
Um nur mit dem ersten Punkt zu beginnen: Die Stadtteilräte wurden nicht installiert, sondern entstanden als Bündelung verschiedener sozialer Bewegungen in den Barrios, lange bevor die Regierung sie zu unterstützen begann, vor allem - aber nicht nur - in der Hauptstadt Caracas. So berichtet Cañizales Lomelli schon im Dezember 2005, also mehr als vier Monate vor der Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes, von überregional vernetzten Strukturen der Consejos Comunales im Westen von Barquisimeto, einer extrem armen und indigen geprägten städtischen Randzone.1
Hier hatten sich in einigen Gemeinden regelmäßige Bürgerversammlungen etabliert, um den durch die Ausweitung der misiónes erhöhten Regelungsbedarf zu bewältigen. Praktisch bedeutet das, dass in Gemeinden, die bis vor kurzem von allen öffentlichen Dienstleistungen ausgeschlossen waren, derartig viele Initiativen entstanden sind, dass sie sich in übergeordneten Gremien koordinieren mussten. Aus den Vollversammlungen wurden VertreterInnen für neun bis elf Kollektive pro Consejo (kommunaler Rat) gewählt, die thematisch und personell eng mit schon existierenden Komitees und den misiónes zusammenhingen (Gesundheit, Infrastruktur, Land, Bildung, Sicherheit, Sport usw.). Die verschiedenen Consejos Comunales führten Koordinationstreffen auf unterbezirklicher Ebene (Sub-Parroquial) durch, für die alle lokalen Kollektive je eineN SprecherIn delegierten.
Cañizales Lomelli erwähnt Versammlungen mit etwa 110 SprecherInnen, die sich thematisch austauschten und auf einer weiteren Planungsebene, dem Consejo Parroquial "Anasoli", einen regionalen Entwicklungsplan erarbeiteten. Das alles elbstorganisiert und selbstbestimmt als Auseinandersetzung mit den traditionellen Machtstrukturen: "Alle diese Vorschläge für eine partizipative öffentliche Verwaltung umzusetzen, erforderte ernsthafte Anstrengungen, um die ,puntofijistischen` Konzepte und Praxen vieler Gouverneure und Bürgermeister zu überwinden, die darauf beharren die Macht zu konzentrieren und ihre persönlichen, familiären und ökonomischen Interessen durchzusetzen."
Ähnlich sieht Frank Parada die Entwicklung der Consejos: "Es ist richtig, dass die Politik der Consejos Comunales mit der Billigung des Gesetzes und seiner Veröffentlichung in der Gaceta Oficial vom 10.4.06 einen offiziellen Auftakt hatte, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon viele Consejos Comunales in ganz Venezuela entstanden waren."2 Er beschreibt ähnliche Prozesse wie Cañizales Lomelli für die Stadt Upata im Süden des Landes, wo zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes bereits mehr als 40 Consejos Comunales in einer Gemeinde mit 120.000 EinwohnerInnen existierten. Die ersten Zahlen nach der Verabschiedung des Gesetzes bestätigen, dass der Gesetzesfassung ein massiver und von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachteter Prozess der Selbstorganisation vorausgegangen sein muss - nur vier Monate nach der Veröffentlichung hatten sich bereits 14.655 Stadtteilräte angemeldet.3 Das Ministerium für Partizipation und Soziale Entwicklung (Minpades) nennt für diese Stadtteilräte einen Gründungszeitraum seit 2004.
Die Stadtsoziologen Holm und Bernt kommen in einer entsprechenden Untersuchung zu dem Ergebnis: "Beteiligung ist hier nicht eine von oben definierte Spielwiese, sondern verteilt Ressourcen und Entscheidungsmacht tatsächlich neu. Beteiligung an der Stadtentwicklung ist damit nicht nur ein ,Gnadenakt`, der vom Staat gewährt wird - wie es selbst in den progressiven Beispielen, die wir aus Deutschland kennen, der Fall ist - sondern sie ist ein Recht, für dessen Durchsetzung den Bewohnern Hebel in die Hand erhalten."4
Im September 2007 waren mehr als 30.000 Consejos Comunales gegründet, deren Finanzplan für das Jahr 2008 etwa elf Billionen Bolivar umfasst, was ungefähr 3,7 Mrd. Euro entspricht. An dieser Stelle von "Verwaltung der eigenen Armut" zu sprechen, ist rational kaum noch zu erklären.
Genauso beispielhaft ist es, wenn Albert Sterr findet, es sei bedenklich, dass die bolivarianische Revolution an den großen Universitäten des Landes nur geringe Unterstützung finde. Selbst wenn man über die sachlichen Fehler dieser Behauptung hinwegsieht, bleibt seine implizite Vorraussetzung stehen, nach der Revolutionen von Oberschichtskindern unterstützt werden müssten. Diese Annahme basiert möglicherweise auf den eigenen (west-)deutschen Sozialisationsbedingungen, in denen "die Linke" nach 1968 über weite Teile mit postmaterialistischen Subkulturen gleichgesetzt wurde, die in wesentlichen Teilen eben akademisch und zumindest mittelständisch geprägt sind. Das ganze Ausmaß möglicher Ausblendungen und die metropolitane Selbstbezüglichkeit der Werturteile über Befreiungskämpfe lassen sich deutlich illustrieren, wenn man sich anschaut, welche Bewegungen der Solidarität wert sind.
Albert Sterr führt als Positiv-Beispiel aus der neueren Geschichte die zapatistische Bewegung in Mexiko an. Sachlich beschrieben findet dort das Gleiche wie in Venezuela statt - nur in viel geringem Ausmaß und mit weniger formal-demokratischer Legitimation. Eine politisch-militärische Bewegung hat mit Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der lokalen Bevölkerung ein neues System aufgebaut. Sie haben Räte gegründet, das Land verteilt, die Wirtschaftsstrukturen demokratisiert, eigene Schulen und eigene Medien gegründet und die Institutionen des bürgerlichen Staates abgeschafft.
Aber auf der Erscheinungsebene wirkt die zapatistische Bewegung völlig anders auf das potenzielle Solidaritätsspektrum. Die gleichen Menschen, die als Ergebnis ihrer Kulturalisierung ernsthafte Probleme mit dem Gehorchen wie mit dem Befehlen haben, ergingen sich in den 1990er Jahren in kindlicher Freude über den Anspruch der EZLN gehorchend zu befehlen (mandar obedeciendo). Das Konstrukt einer der Solidarität würdigen Befreiungsbewegung basierte auf der anhaltenden Ausblendung der Tatsache, dass die EZLN vor allem eine Nationale Befreiungsarmee ist, in der, dem entsprechend, sehr viel befohlen und gehorcht wird.
In Massen, in Maßen und die eigenen Maßstäbe
Dass der Begriff individueller Freiheit in den traditionellen indigenen Gemeinden ohnehin nicht in der Form existiert, wie er in den postmodernen Milieus der Metropolen ausgeprägt ist, führte denn auch zu einigen Enttäuschungen unter denen, die auszogen, um ihre Projektionen vor Ort zu überprüfen. Die Zu-Hause-Gebliebenen hielten sich unterdessen an ihrem Bild von der Person des Subcomandante Marcos fest, der als Guerillaführer selbst bürgerlichen Feministinnen außerordentlich attraktiv erschien. Dieses Problem der Personalisierung politischer Prozesse scheint ein zentrales Element von Ausblendungen und der Aufwertung von Teilaspekten zu sein, die eine selektive Wahrnehmung begleiten. Im gleichen Maß wie Subcomandante Marcos zu einem positiven Label für die zapatistische Politik wurde, löst die Buchstabenfolge H-u-g-o C-h-á-v-e-z bei einigen Leuten Antipathien aus.
Doch selbst bei den die Bewegungen repräsentierenden Personen gibt es in diesem Fall wenig sachliche Unterschiede. Beide sind "unentbehrliche, alles überragende und schillernde Führerfiguren" (siehe Sterr über Chávez). Beide reden gerne viel und lange. Um beide existiert eine Art Personenkult. Beide pflegen einen effektiven und zentralistischen Arbeitsstil. Beide sind Militärs. Einer ist Akademiker. Der andere ist ein Bauer. Der eine hat es bewusst verstanden, die habituellen Codes der altruistische Oberschichtsfraktionen weltweit anzusprechen. Der andere sagt den gleichen Leuten mit jeder Faser seines Auftretens, dass ihm ihre Meinung letztendlich egal ist. An diesem Punkt sind GeisteswissenschaftlerInnen bekanntlich besonders sensibel: Sie haben nichts zu verkaufen als ihre Meinung.
Protagonismus der Ausgeschlossenen
Was den bolivarianischen Prozess ausmacht, ist eine reziproke Politik von sozialen Bewegungen und Regierung. Egal ob man die kommunalen Räte betrachtet, oder die Landreform, oder die Enteignungen von Betrieben, die Komitees für Gesundheit, oder die alternativen Medien: Immer griff die bolivarianische Regierung Initiativen und Forderungen aus linken Gruppen und aus den sozialen Bewegungen auf, schuf den juristischen Rahmen, stellte die finanziellen Mittel bereit und ermöglichte so eine gesellschaftsübergreifende Umsetzung vormals isolierter Konzepte. Die Wahrnehmung, dass diese Initiativen von der Regierung bzw. dem Präsidenten ausgehen würden, dürfte eher darauf zurückzuführen sein, dass sie erst dann einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden, wenn die Regierung sie auf die Agenda setzt.
Die Probleme einiger Teile der deutschen Linken mit dem bolivarianischen Prozess lassen sich nicht auf die Realität und die Praxis dieser Revolution zurückführen, sondern sind interkulturellen Problemen geschuldet. In der eigenen politischen Realität gibt es weder eine Entsprechung für den Typ Chávez noch bieten sich folkloristische Anknüpfungspunkte. Die Lebenswelt der Barrios bleibt fremd - es gibt in Deutschland keine Erfahrung mit massenhafter Armut und ihren Konsequenzen.
Anstatt Debatten über Venezuela zu führen, sollten die Meinungen der sozialen Bewegungen in Venezuela ernst genommen werden. Statt Meinungen über Venezuela kund zu tun, sollten vielleicht mehr Fragen an die venezolanische Realität gestellt werden - nach der zapatistischen Devise marchamos preguntando (fragend schreiten wir voran). Die Bedingung für eine internationalistische Politik ist zunächst die Akzeptanz der eigenen lebensweltlichen, politischen und kulturellen Beschränktheit.
- 1. Francisco Cañizales Lomelli: La Red de Consejos Comunales y Parroquiales y la Construcción del Poder Popular, 2005.
- 2. Frank Parada: Los Consejos Comunales, Caracas 2007.
- 3. Agencia Bolivariana de Noticias (ABN), 17.8.06: Minpades destacó que ya hay más de 14 mil consejos comunales en Venezuela.
- 4. Andrej Holm/Matthias Bernt: Protagonismus der Ausgeschlossenen: Ansätze partizipativer Stadtentwicklung in den Barrios von Caracas, in: Andrej Holm (Hg.): Revolution als Prozess. Hamburg 2007.