Kolumbien: Arauca ist Schauplatz eines Krieges gegen die sozialen Bewegungen

Die von sozialen Organisationen geschaffenen alternativen Projekte sollen mit allen Mitteln zerstört werden

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Straßensperre in Arauca während des landesweiten Streiks 2021
Straßensperre in Arauca während des landesweiten Streiks 2021

Wer das Glück hatte, mit den sozialen Anführer:innen der Region Arauca zusammenzukommen, wird sicherlich die Freude und Stärke gespürt haben, die von den alternativen Projekten ausgeht, in denen ihr politisches Programm für eine neue Gesellschaft Gestalt annimmt. Es ist ermutigend, Unternehmen vorzufinden, denen es auf Grundlage der gemeinschaftlichen Organisation gelingt, wirksame und überdies gut funktionierende Antworten auf die sozialen Bedürfnisse zu geben, wie es etwa bei der Wasserversorgung und bei der Müllabfuhr der Fall ist.

Dazu kommen populare Initiativen wie die Lebensmittelketten, die darauf abzielen, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, die Produktionskapazitäten zu erweitern und stabile und gut bezahlte Arbeitsplätze mit einer allgemeinen sozialen Absicherung zu schaffen; zudem Projekte zur Schaffung der kollektiven Konsumgüter und zur Verbesserung der sozialen Versorgung in allen grundlegenden Bereichen des menschlichen Lebens wie Gesundheit, Bildung und Wohnen.

Inmitten eines Kapitalismus, in dem weniger als zwei Prozent der Bevölkerung 98 Prozent des Einkommens auf sich vereinen, erlangen diese Initiativen eine hoffnungsvolle Bedeutung, da sie eine Gesellschaft schaffen wollen, in der diejenigen, die sich bemühen zu produzieren, von den Ergebnissen ihrer Arbeit profitieren und zudem gemeinschaftlich entscheiden, was und wie es zu tun ist. Bedauerlicherweise missfällt dies den Eigentümern des Kapitals in all seinen Formen, einschließlich der multinationalen Ölkonzerne, der Drogenhändler, der Regierung und deren Militärs, die ‒ mittels Stigmatisierung, Verfolgung, politisierter und ungerechter Strafverfolgung, Mordanschlägen und Bomben ‒ diese alternative Lebensweise versuchen auszulöschen. Auf der Grundlage dieser politischen und moralischen Elemente können wir die Überlegungen zur Verschärfung des Krieges gegen die soziale Bewegung im Departamento de Arauca am besten anstellen.

Es handelt sich um einen Krieg gegen die soziale Bewegung, wie die "Frente 28 der Dissidenten der Farc" (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) selbst in einem Kommuniqué vom 23. Januar bestätigte, in dem sie erneut mit der Ermordung der sozialen Anführer droht, nachdem bereits in der Nacht des 19. Januars versucht wurde, sie durch eine Autobombe zu töten. Erfolglos versucht die Gruppe, die Absicht, die soziale Bewegung zu zerstören, unter dem Deckmantel eines angeblichen Kriegs gegen die Guerilla "Nationale Befreiungsarmee" (ELN) zu verbergen. Bei diesem Angriff dürfen wir weder die mögliche Rolle des sich auf dem Höhepunkt befindenden Rennens um die Präsidentschaft (welches das Uribe-Regime so gut wie verloren zu haben scheint) aus den Augen verlieren noch die Tücken des sich entwickelnden geopolitischen Kampfes des Weltkapitalismus unterschätzen, insbesondere in der Beziehung zwischen den USA, Kolumbien, Venezuela und Russland.

Grundsätzlich muss vermieden werden, die Verschärfung dieses Krieges systematisch auf einen bloßen Streit um Drogenhandelsnetze zwischen diesen Farc-Dissidenten und der ELN zu reduzieren. Es sei daran erinnert, dass eines der Ziele der aktuellen uribistischen Regierung darin bestand, die Friedensvereinbarungen mit den Farc zu zerstören und zugleich den politischen Charakter aller bewaffneten Akteure vollständig zu leugnen, indem sie sie auf bloße organisierte, kriminelle Gruppen reduzierte und die politischen Guerrillas mit reinen Kartellen und kriminellen Banden gleichsetzte. Parallel betreibt die Regierung verstärkt die Stigmatisierung sozialer Organisationen, indem sie diese mit bewaffneten Aufständen in Verbindung bringt, um sie zu isolieren und zu beschädigen.

Die sozialen Bewegungen in Arauca haben seit Jahresbeginn die Menschenrechtsverletzungen in der Region beklagt und mehrfach darauf bestanden, dass die Zivilbevölkerung nicht in den Krieg zwischen diesen Parteien hineingezogen werden darf. Zugleich haben sie die paramilitärischen Handlungen der sogenannten Frente 28 der Farc-Dissidenten angeprangert.

Es sei daran erinnert, dass der Paramilitarismus in Kolumbien von Großgrundbesitzern, Viehzüchtern und Großkapitalisten verschiedener Regionen des Landes eingesetzt wird, vorgeblich um gegen die Guerrillas vorzugehen. Diese Söldnerstrukturen, die von hochrangigen Politikern, Unternehmern und Armeekommandeuren organisiert, bewaffnet und trainiert werden ‒ wie viele von ihnen vor der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden zugegeben haben ‒, verhängten das Gesetz der verbrannten Erde, das den Diskurs der Armee, "dem Fisch das Wasser abzugraben", reproduzierte, und erklärten Gewerkschafter, Bauernführer, Gemeinschaftsaktivitäten, Kooperativen, Menschenrechtsverteidiger und soziale Kommunikatoren zu ihrem zentralen militärischen Ziel.

Genau diese Methode wendet die angebliche Front der Farc-Dissidenten an, die, wie der am 21. Januar im Portal Las dos orillas veröffentlichte Artikel "Deserteure, Betrüger und falsche Dissidenten" zeigt, von Opportunisten geführt wird, die bereit sind, für die Drogenmafia und die Ultrarechten zu arbeiten.

Historisch ist eine der wichtigen Forderungen der Linken weltweit diesbezüglich immer gewesen, zwischen politisch-militärischen und politischen Akteuren zu differenzieren. Denn nur so ist es möglich, dass in einem vom Kapitalismus dominierten Umfeld andere gesellschaftliche Alternativen öffentlich zum Ausdruck kommen und sich ein politisches Leben für den sozialen Wandel entwickeln kann. Es ist diese grundlegende Unterscheidung, gegen die die Ultrarechte in der Welt allzu oft wettert. Mit der Aufhebung dieser Unterscheidung hatten die Paramilitärs freie Hand, die Bevölkerungen ganzer Regionen durch Terror zu unterwerfen. Deshalb ist dies eine politische und moralische Grenze, die von niemandem überschritten werden darf, und wer das tut, hat alles verloren und seine Eroberungen verwandeln sich in die dunklen Gewitterwolken seiner späteren Beerdigung. Diese Grenze muss von linken Demokraten angenommen und als eines der großen historischen Vermächtnisse der Menschheit mit allen unserer Kräften verteidigt werden.

Es ist lebenswichtig, dass soziale Organisationen angesichts eines durch und durch verfaulten Kapitalismus als Ausdruck des Nonkonformismus und als Trägerinnen eines Projekts für eine alternative Gesellschaft verstanden werden. Denn nur so kann ein bewaffneter Akteur von einem anderen unterschieden werden, der nur mit zivilen Mitteln vorgeht. Es ist diese Grenze, die von denen überschritten wird, die mit Attentaten und Bomben versuchen, die Lichter der Zukunft auszuschalten.

Dementsprechend muss man die Böswilligkeit sehen, mit der die hochrangigen Befehlshaber der Armee sowie Minister Molano1 selbst handeln. Es geht nicht nur um die gerichtliche Verfolgung und die politisierte und ungerechtfertigte Inhaftierung einiger Führungspersönlichkeiten der sozialen Bewegung der Region Centro Oriente, sondern um die systematische Stigmatisierung des sozialen Protestes. Wie im jüngsten Fall, als Jugendliche gegen die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr in Bogotá protestierten und vom Minister mit der Farc- und ELN-Guerrilla in Verbindung gebracht wurde ‒ eine Anschuldigung, die in einem Land wie Kolumbien einer Todesdrohung gleichkommt.

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Arauca, im Grenzgebiet zu Venezuela gelegen, wird immer stärker militarisiert
Arauca, im Grenzgebiet zu Venezuela gelegen, wird immer stärker militarisiert

Laut dem, was in der Presse und in den sozialen Netzwerken zu lesen ist, soll der jüngste Zusammenstoß wiederum durch die Ermordung eines ELN-Mitglieds durch diese angeblichen Dissidenten ausgelöst worden sein, die schon zuvor an der Ermordung anderer Mitglieder der Segunda Marquetalia2 beteiligt waren. Diese Todesfälle lösten einige Zusammenstöße aus, die dem Uribismus sehr gelegen kommen, da sie die Militarisierung an der Grenze zu Venezuela verschärfen und rechtfertigen und außerdem dazu dienen, seine abgenutzte Idee der demokratischen Sicherheit zu verkaufen, die mit dem zutiefst chauvinistischen Diskurs der Verteidigung des Heimatlandes einhergeht. Und das geschieht mitten in der Vorbereitungsphase für eine Präsidentschaftswahl, die der Uribismus mehr als verloren zu haben scheint, so dass all dies nichts mit Zufall zu tun haben dürfte.

Der Uribismus ist der narko-paramilitärische und extremistische Ausdruck der Bourgeoisie des Landes, die im Kontext einer institutionellen Krise und einer Verschärfung des Krieges 2002 an die Macht kam. Dies geschah nach dem Scheitern der Friedensgespräche von El Caguán zwischen der Regierung und der inzwischen aufgelösten Farc. Es folgte eine schwarze Propagandakampagne der 20. Geheimdienstbrigade, bei der wahllos Bomben in Städten gelegt wurden. Damit wurde eine Atmosphäre des sozialen Chaos geschaffen, woraufhin die Massenmedien sofort die Idee verbreiteten, Uribe als Retter des Landes zu wählen. Ohne diese Ereignisse wäre ein unbekannter und einige Monate zuvor in den Umfragen abgeschlagener Politiker nicht in das Casa de Nariño3 gekommen.

Der Einsatz von extremer und psychopathischer Gewalt als politisches Mittel hat als einen seiner Bezüge den von Hitler angeordneten Reichstagsbrand, für den er die Sozialisten und Kommunisten verantwortlich machte, um daraufhin das Parlament zu schließen, die Diktatur zu errichten, seine Gegner (Sozialisten) physisch zu eliminieren und sich militärisch auf ganz Europa zu stürzen.

Der Diskurs der "demokratischen Sicherheit" schützte die großen Kapitalisten durch die Verfolgung und Ermordung sozialer Anführer und unschuldiger Menschen, wie die Geständnisse der Militärs selbst belegen, die an den Falsos Positivos4 beteiligt waren. Die Araucaner:innen kennen jene Phase der Gewalt nur zu gut, denn Hunderte Anführer wurden in dieser Zeit inhaftiert.

Diese verborgene Form des politischen Wahlkampfs scheint sich im Land mit der beispiellosen Zunahme schwerer Überfälle in den Städten und der Verschärfung verschiedener Formen der Gewalt in den ländlichen Gebieten zu wiederholen.

So wäre es nicht undenkbar, dass die offizielle Armee sich inmitten des derzeitigen politischen Zusammenbruchs des Uribismus die Situation zunutze macht, um ihre Fäden zu ziehen und die Widersprüche zwischen der sogenannten Frente 28 der Dissidenten der Farc und der ELN zu instrumentalisieren, um wiederum ihren Diskurs der demokratischen Sicherheit und den nationalistischen Chauvinismus gegen Venezuela zu verstärken. In jedem Fall kommt eine der verheerenden Folgen der Situation bereits zum Tragen: die Zunahme militärischer Streitkräfte in einer ohnehin schon hypermilitarisierten und durch geopolitische Machtspiele belasteten Region.

Uns allen, die diese Situation schmerzt, bleibt die tägliche Aufgabe, vor dem Land und der Welt die kritische Lage anzuprangern, in die die Bewohner der Region gebracht wurden; auf das barbarische und ungerechtfertigte Szenario der Gewalt hinzuweisen, dem sie ausgesetzt sind, den Lügen und den Darstellungen entgegenzutreten, die die Geschehnisse für den eigenen Vorteil verdrehen. Uns bleibt die Aufgabe, an ihr Beispiel zu erinnern und unsere Achtung vor denjenigen zu stärken, die an vorderster Front des Kampfes stehen, die Barbarei niederreißen und die Hoffnung näherbringen.

Dieser Beitrag wurde vom Centro de pensamiento y teoría crítica PRAXIS verfasst, einer Gruppe von Hochschuldozent:innen und Forscher:innen in Kolumbien, die eng mit Basisorganisationen arbeiten

  • 1. Kolumbiens aktueller Verteidigungsminister Diego Molano Aponte
  • 2. Die Organisation "Farc-Ep Segunda Marquetalia" definiert sich als revolutionäre kommunistische politisch-militärische Organisation. Sie wurde von einer Gruppe ehemaliger Guerillakommandanten gegründet, die die verschiedenen Blöcke und mobilen Kolonnen der Farc-EP repräsentieren. Unter ihnen ist Iván Marquéz, der die Delegation der Farc-EP bei den Friedensverhandlungen in Havanna leitete. Im August 2019 erklärte er mit rund 20 weiteren Ex-Kommandanten die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes
  • 3. Bezeichnung für den Präsidentenpalast
  • 4. Als "Falsos Positivos" (Falschmeldungen) werden extralegale Hinrichtungen bezeichnet, bei denen ermordeten Zivilisten als im Gefecht gefallene Guerilleros präsentiert wurden. Auftraggeber waren Befehlshaber der Streitkräfte. Zu dieser staatlichen Politik gehörten zudem Anreize für die Soldaten für diese Morde ‒ freie Tage, Zusatzzahlungen oder Aufstiegschancen ‒ und Druck seitens hochrangiger Kommandeure auf ihre Untergebenen, "Erfolge" im Kampf gegen die Guerilla vorzuweisen