Bolivien / Soziales

Zwölf Prozent mehr Lohn für Boliviens Arbeiter

Linksregierung und Gewerkschaften einigen sich auf neuen Tarifvertrag

Alltag in Boliviens Hauptstadt ist kein leichtes Brot. "Endlich können die Paceños wieder in Frieden und Ruhe leben", freute sich am Montag nicht nur Roberto Tórrez, Polizei-Chef von La Paz. Mehr als zehn Tage Verkehrschaos, Protestmärsche und Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten liegen hinter den genervten Hauptstädtern. Nach einem Verhandlungsmarathon von 36 Stunden zwischen Linksregierung und Gewerkschaftsdachverband "Arbeiterzentrale Boliviens" (COB) ist die Normalität zu Wochenbeginn gewohnt schnell in die protesterprobte Andenstadt zurückgekehrt. Weil die mächtige COB mit ihren zwei Millionen Mitgliedern das Regierungsangebot der "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) von zehn Prozent Lohnerhöhung als zu niedrig eingestuft hatte, war das Gewerkschaftsurgestein der Revolution von 1952 in den Ausstand gegangen. Zwar legte der einwöchige Streik für eine Erhöhung von 15 Prozent die Innenstad in La Paz zeitweise total lahm, doch lief die Arbeit in Fabriken, Industrie, Handel, Bankwesen und Reiseverkehr normal weiter. 

"Die Lohnerhöhung reicht für elf Mittagessen, zwölf Busfahrten und 260 Brote", rechnet die Tageszeitung "El Mundo" vor. Für einen Lehrer mit einem Lohn von 1.000 Bolivianos (etwa 97 Euro) sind das im Monat 120 Bs. mehr, wovon 12 Prozent für die Krankenkasse abgehen. Elf Prozent mehr Lohn mit der Möglichkeit auf zwölf Prozent sind das wichtigste Ergebnis des Abkommens, das die COB-Führung mit den MAS-Spitzen am Sonntag ausgehandelt und am Montag von der Basis "einstimmig" hatte absegnen lassen. "Von Herzen" bedankte sich COB-Chef Pedro Montes bei den Bürgern für "ihre Geduld während der Tage des Protestes". Allein mit Druck von der Straße "konnten wir unsere Forderungen geltend machen, unser Recht durchsetzen", so Montes. Dabei habe man sich allein auf das Streikrecht und die Meinungsfreiheit in der Verfassung berufen. Nun erwarte man von den Ministerien, das Abkommen werde ehrlich und "ohne Betrug" umgesetzt.

Im Palacio Quemado, dem bolivianischen Regierungssitz, interpretiert die Protestwelle weniger freundlich. "Wir denken, das Thema hätte mit längerem Vorlauf und ohne die Gewaltausbrüche gelöst werden können", warf Regierungssprecher Iván Canelas "einigen Gewerkschaftsfunktionären den Missbrauch einer gerechtfertigten Forderung für politische Zwecke" vor. Dabei spielt der Journalist im Dienste des MAS auf die Mobilisierung von freien Minenarbeitern an, die den Regierungspalast nach einer Demonstration mit Dynamitstangen angegriffen hatten. Ehrgeizige Gewerkschafter hätten "den Prozess des Wandels beeinträchtigen" wollen, verurteilte Canelas das Geschehen. Nachdem man die Gewerkschafter in die Staatsfinanzen hatte blicken lassen, hatten auch die Arbeitervertreter den begrenzten Spielraum für Lohnerhöhungen erkannt. Statt Mehrausgaben von 30 Mio. US-Dollar für die Lohnerhöhung von zehn Prozent, wie von der Regierung im März verabschiedet, würden nun 70 Millionen ausgegeben, kalkuliert MAS-Minister Walter Delgadillo. Die Lohnerhöhungen für die Beschäftigten im Gesundheits- und Bildungssektor werden ab August 2010 rückwirkend ausgezahlt. Das Abkommen gilt jedoch nicht für Staatsbedienstete, Armee und Beschäftigte im freien Arbeitsmarkt, sie bekommen seit dem Regierungsdekret im Februar dieses Jahres zehn Prozent mehr Geld. Das ehrgeizige öffentliche Investitionsprogramm von drei Mrd. US-Dollar für 2011, doppelt so viel wie im Vorjahr, sei durch die Mehrausgaben aber nicht gefährdet, so die MAS-Regierung.

Allen Unkenrufen von MAS-Kritikern zum Trotz ist der COB-Streik ein Beleg für die neue Demokratie in Bolivien. Diktaturen in den 1970ern und neoliberale Regierungen der 1990er Jahre hatten Lohnforderungen und Straßenproteste regelmäßig mit Repression erstickt. COB-Legenden wie der spätere Vizepräsident Boliviens Juan Lechín (1960-1964) mussten das Land wegen Verfolgung durch rechte Machtgruppen mehrfach verlassen. Bei Protesten gegen eine Steuererhöhung, die der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Land im Februar 2003 verordnet hatte, waren 32 Menschen von Scharfschützen und Staatsgewalt ums Leben gekommen.