Schuld sind nicht immer die anderen

Die Stagflationskrise in Venezuela ist nicht allein mit einem "Wirtschaftskrieg" zu erklären. Aktuelle Maßnahmen drohen die strukturelle Krise zu verschärfen

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Bolívares
Bolívares

In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte der damalige Erdölminister und Initiator der Organisation der Erdöl produzierenden Staaten (OPEC), Juan Pablo Pérez Alfonso, den Reichtum Venezuelas in weiser Voraussicht als das "Exkrement des Teufels" bezeichnet. Seitdem erlebt  Venezuelas Wirtschaft in regelmäßigen Abständen und dabei paradoxerweise insbesondere in Phasen sprunghaft steigernder Einnahmen aus den Petrodollars schwere Krisen.

Bedingt durch die Nationalisierung der Förderanlagen, der wachsenden Macht der OPEC und steigender Nachfrage auf den internationalen Märkten hatten die hohen Erdöleinnahmen der siebziger Jahre dem südamerikanischen Land ein goldenes Jahrzehnt beschert. Der Staat, oder besser, die von ihm kontrollierte Zentralbank überschüttete das Land mit über einen festen Wechselkurs de facto subventionierten Fremddevisen. Die Mittelschichten erlangten als die Damedos ("So billig, gib mir zwei") Berühmtheit in den Shoppingmalls Floridas. Die unteren Einkommensschichten wurden durch staatlich organisierte Importe von Lebensmitteln und Haushaltsgeräten zufrieden gestellt und die Eliten häuften Reichtümer auf Konten im Ausland. Als die Nachfrage nach den US-Dollars schneller wuchs als die Einnahmen aus dem Ölverkauf, verlor die Bonanza erst an Fahrt und endete letztlich in eine mittelschwere Schuldenkrise, die den Eliten des Landes erst die politische Legitimation und dann die Macht kostete.

Als 1998 eine in Teilen erneuerte Elite versprach, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben, waren die internationalen Erdölmärkte auf einem historischen Rekordtief angelangt. Mit wenig finanziellen Spielraum zwischen hohem Schuldendienst und relativ geringen Deviseneinkünften wollte die Allianz um den Präsidenten Hugo Chávez ein bereits in den neunziger Jahren angeschobenes heterodoxes Wirtschaftsmodell weiterführen, in dem es sich für die Venezolaner lohnen sollte, zu produzieren, statt zu importieren. Neben der produzierenden Unternehmerschaft, die die Kampagne des damaligen politischen Außenseiters Chávez massiv unterstützte, sollten nach der 1999 verabschiedeten Verfassung vor allem demokratische Unternehmensorganisationen wie Genossenschaften Grundlage eines neuen Anlaufs einer importsubstituierenden Entwicklung des Landes werden. Chávez sprach in Interviews von einem "dritten Weg" und meinte damit nicht Anthony Giddens und die neoliberale Wende der europäischen Sozialdemokratie.

2002 und 2003 erhob sich gegen diesen Plan erst die alte Elite und im Jahr 2004 die internationalen Energiemärkte. Der Weltmarktpreis für Rohöl sollte sich bis zur europäischen und US-amerikanischen Bankenkrise 2008 fast verzehnfachen und letztlich das tot geglaubte Modell der Konsumbonanza der siebziger Jahre wiederbeleben.

2003 führte die venezolanische Regierung nach den Irrungen und Wirrungen von Putschversuch, Kapitalflucht, Generalstreik und Sabotage der Erdölindustrie durch das ancien regime eine weitgehende Devisenverkehrskontrolle ein. Nicht nur die Möglichkeit in Venezuela erwirtschaftete Gewinne als US-Dollars auf die Konten in den karibischen Steuerparadiesen zu bugsieren, sollte unterbunden werden. Durch einen festgelegten Wechselkurs sollten venezolanische Unternehmer und Verbraucher wieder Vertrauen in die einheimische Währung gewinnen, die seit den 1980er Jahren das 300-fache ihres Wertes eingebüßt hatte. Öffentliche Förderprogramme sollten helfen, akkumuliertes Kapital im Inland vor allem zur Finanzierung von Klein- und mittelständischen Unternehmen, der Gründung von Kooperativen und zur Förderung der unternehmerischen Initiative von Frauen einzusetzen. Zudem erneuerte die Regierung die gesetzliche Wohnungsbauprämie und verpflichtete private Banken zu günstigen Konditionen ihrer Bausparverträge.

Der venezolanische Staat zahlte seine Schulden bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds zurück und half sogar Argentinien dabei, sich aus der Abhängigkeit dieser dubiosen Inkasso-Organisationen des globalen Finanzkapitals zu lösen. Gleichzeitig wurden mit steigenden Erdöleinahnen zunächst die Devisenreserven erhöht und die nationale Geldmenge nur moderat ausgeweitet. Bei Wachstumszahlen um die zehn Prozent lag die Inflationsrate zwar für orthodoxe Monetaristen immer noch in der Bluthochdruckzone, für eine sich entwickelnde Volkswirtschaft aber im Bereich des Vertretbaren.

Doch während in den Jahren 2004 und 2005 das zu dieser Zeit noch moderate Inflationsdifferenzial zu der Volkswirtschaft der Leitwährung (also der USA und dem US-Dollar) von der venezolanischen Zentralbank angeglichen wurde, verblieb der Wechselkurs des Bolívars zum Dollar zwischen 2005 und 2010 konstant bei 2,15 Bolívares pro US-Dollar. Bei einem Inflationsdifferenzial von durchschnittlich über 20 Prozent im Jahr, sollte der Kampf um die Petrodollars somit in den folgenden Jahren – und ganz im Gegensatz zum ursprünglich Beabsichtigten – wieder zur lukrativsten Erwerbsquelle des venezolanischen Unternehmungsgeistes werden. Die Kapitalverkehrskontrolle hatte nämlich nur den privaten Devisenverkehr eingeschränkt. Unternehmer die vor den staatlichen Devisenkontrollbehörden den Bedarf für den Import von Gütern anmeldeten, bekamen mit den massiv steigenden Erdöleinnahmen weitgehend jeden Devisenantrag bewilligt.

Zusätzlich intervenierte die Zentralbank auch mit Milliardensummen in den mit der Einführung von Devisenkontrollen natürlicherweise entstehenden Schwarzmarkt. Zwar konnte damit der Unterschied zwischen offiziellem und frei gehandeltem Kurs über längere Zeit und unter Einsatz immer weiter steigender Mittel zunächst mit 30 Prozent relativ gering gehalten werden.

Als jedoch die Kurse des Ölpreises bei über 140 US-Dollar pro Barrel eine Kehrtwende einlegten, und im Laufe der Finanzkrisen der USA und Europas weiter nachgab, geriet auch die zweite venezolanische Bonanza aus dem Tritt. Ein verzehnfachtes Importvolumen verzehrte einen Großteil der Dollareinnahmen der venezolanischen Zentralbank und des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA. Vor allem riss der Verkauf von Devisen zu einem Bruchteil des Marktwertes in Bolívares ein Haushaltsloch, dass mittlerweile jährlich fast 20 Prozent am BIP ausmacht. Die Zentralbank warf deshalb die Druckmaschinen an und erhöhte die Geldmenge bei stagnierender wirtschaftlicher Entwicklung um mehr als 30 Prozent jährlich.

Gleichzeitig zu der sich damit entfaltenden Inflationsrate im Inland, fehlten der Zentralbank nun auch noch die US-Dollar, um durch gezielte Marktinterventionen zumindest den Schwarzmarktkurs niedrig zu halten. Der Versuch, im Jahr 2010 mit einem Wechselbandsystem (SITME) die offiziellen Devisenverkäufe auszuweiten, konnte wegen zu niedriger Ansetzung des Bandes gegenüber der explodierenden Nachfrage nach Fremddevisen kaum für eine Sättigung des Marktes sorgen. Auch die Abwertungen des offiziellen Kurses auf zunächst 4,3 Bolívar und dann 6,3 Bolívares pro US-Dollar waren viel zu moderat, um die Nachfrage nach den staatlich de facto hochgradig subventionierten Devisen zu zügeln.

Da auch venezolanische Importunternehmer ihre betriebswirtschaftlichen Kalkulationen nicht von den Entscheidungen einer staatlichen Devisenkontrollbehörde abhängig machen, sondern ihre Investitionsentscheidungen auf Basis des frei verfügbaren Schwarzmarktkurses berechneten, war spätestens seit 2010 die auch als holländische Krankheit bekannte Spirale aus Abwertung und Inflation nicht mehr aufzuhalten. Während die venezolanische Zentralbank zunehmend die Devisenreserven aufzehrte, mussten die Devisenverkäufe zu einem nicht unerheblichen Teil über Staatsanleihen finanziert werden. Da die venezolanischen Anleger diese Dollar-Staatsanleihen ebenso zu Vorteilkonditionen in Bolívares erwerben konnten, hat sich bisher zumindest die externe Schuld des Landes in Grenzen gehalten. Venezolanische Unternehmer und Anleger konnten jedoch nach offiziellen Angaben in den letzten Jahren mehr als 180 Milliarden US-Dollar auf ausländischen Konten akkumulieren. Das Vertrauen von Sparern in die einheimische Währung blieb also genauso aus, wie der erhoffte und politisch bezweckte Effekt der Subventionierung von Devisen für den Import, eine Verbilligung von Importwaren für venezolanischen Verbraucher.

Die Tatsache, dass venezolanische Einzelhändler die günstigen Einkaufspreise der Importe nicht an die Verbraucher weitergeben, hat aber nicht nur aus den bereits genannten Gründen nichts mit der von der Regierung und manchem internationalen Beobachter unterstellten "Spekulation" zu tun. Dass Unternehmer nichts für die Hälfte anbieten, wenn sich auch für das Doppelte eine Nachfrage findet, ist nicht nur allgemein nachvollziehbar, sondern handlungsrational. Die Differenz zwischen offiziellem Kurs und Schwarzmarktkurs ist in Venezuela ein zusätzlicher unternehmerischer Gewinn, Volkwirtschaftler nennen diese Differenz auch Arbitrage. Dieser ist zwar aufgrund von Profitraten jenseits der 1.000 Prozent moralisch verurteilenswert. Verantwortlich ist jedoch gerade nicht der gewinnorientiert denkende Unternehmer, sondern die Bedingungen, in denen er unternehmerisch handelt.

Auch der Schwarzmarktkurs selbst ist nicht die Ursache oder Folge von Spekulation. Da der venezolanische Staat durch zunehmend intransparente bürokratische Hürden wie dem eigentlich für Staatsanleihenverkäufe entwickelten Auktionsverfahren SICAD den Zugang zu den verbilligten Dollars seit Beginn des Jahres nochmals massiv erschwert hat, treibt die überschüssige Nachfrage nun auf dem Schwarzmarkt den Preis. Zudem beginnen angesichts der extrem hohen Inflation nun auch die Mittelschichten das Vertrauen in die eigene Währung zu verlieren und konvertieren Löhne und Erspartes in US-Dollar.

Bei einer Inflationsrate von über 50 Prozent im Inland und maximal möglichen Zinsgewinnen von 30 Prozent handeln Besitzer von venezolanischen Devisen dabei vollkommen rational, wenn sie auch einen gegenüber dem offiziellen Kurs zehnfachen Wert für den US-Dollar bezahlen um damit zumindest einen Teil ihrer Einkünfte und Vermögen vor der Entwertungsspirale der inländischen Inflation zu schützen. Der Versuch der venezolanischen Regierung durch das Verbot der Nennung des Schwarzmarktes und dessen Kurses in den Medien, dessen Existenz gesetzlich totzuschweigen, ist nicht nur bizarr, sondern erhöht letztlich noch zusätzlich die Transaktionskosten der Illegalität, damit den Kurs und damit die Inflation.

Auch der jetzige Versuch der Regierung, den Folgen ihrer Währungspolitik mit allgemeinen Preiskontrollen zu begegnen, wird den Druck auf den Schwarzmarktkurs noch weiter steigen lassen. Zwar können durch die nun verordneten staatlichen Preissenkungen die bereits importierten Waren einmalig für die Verbraucher günstig abverkauft werden. Die betroffenen Unternehmer haben nun jedoch wenig Anlass ihr Importgeschäft fortzuführen und werden größtenteils ihr noch verbliebenes Kapital aus Venezuela beginnen abzuziehen.

Zusammen mit der Ankündigung, zukünftig alle Preise zu kontrollieren, sollen deshalb zukünftig auch alle Importe des Landes durch den Staat verwaltet werden. Was für eine Volkswirtschaft, die 70 Prozent aller nachgefragten Güter importieren muss, notwendig ist, soll nach Plänen von Präsident Nicolás Maduro zukünftig von Funktionären entschieden werden. Zwar ist davon auszugehen, dass angesichts dieser kaum zu bewältigenden logistischen Aufgabe der Versorgung von 30 Millionen Einwohnern in einem geographisch nicht einfachen Territorium mit der dreifachen Größe der Bundesrepublik auch weiterhin private Unternehmer über klientelistische Netzwerke in die Distributionskette eingebunden werden. Der wichtigste Sektor der venezolanischen Volkswirtschaft steht damit jedoch vor der Abwicklung.

Da aber auch die Preise für im Inland produzierte Güter von der Regierung festgelegt werden, werden die privaten Importunternehmer auch im produktiven Sektor kaum neue Investitionsmöglichkeiten finden. Zahnpasta und Klopapier besipielsweise verschwinden in Venezuela deshalb aus den Regalen, weil die Unternehmer gezwungen sind, diese Waren zu Preisen zu verkaufen, die vor mehr als zwei Jahren gesetzlich festgelegt, und seitdem trotz mehr als 80 Prozent Inflation nicht angeglichen wurden.

Bereits jetzt verlagern die wenigen Industrieunternehmer des Landes angesichts der Aussichtslosigkeit eines Wettbewerbs gegen die staatlich festgelegten "fairen Preise" ihre Produktion in die lateinamerikanischen Nachbarländer und ihr liquides Kapital auf Konten in den von den globalen Eliten so geschätzten und bereits erwähnten Steuerparadiesen der Karibik. Angesichts einer um mehr als das Zehnfache überbewerteten Währung ist der Wettbewerb um globale Exportmärkte sowieso aussichtslos.

Das strukturelle Problem der Importabhängigkeit des Landes, das bereits jetzt fast die gesamten Einnahmen aus dem Erdölexport verschlingt, wird sich also auch unter einer staatlichen Organisation der Importe nicht verringern. Politisch getrieben von der in den letzten Jahren geweckten Nachfrage nach billigen Importgütern, wird zudem der Spielraum für dringend benötigte Investitionen in die Förderanlagen der Erdölindustrie, die Verkehrsinfrastruktur, den Technologieimport, aber auch für Gesundheit und Bildung fehlen.

Der Plan durch bessere Konditionen für transnationale Ölkonzerne die Fördermengen im Orinoco-Becken zu erhöhen, wie ihn Präsident Maduro zuletzt dekretierte, wird die Abhängigkeit des Landes vom "Exkrement des Teufels" nicht nur weiter verstärken, sondern auch mit dem letzten Eckpfeiler des ursprünglichen Regierungsprojekts brechen.