Mexiko / Menschenrechte

Mexiko: Weder Rechte noch Sicherheit

Human Rights Watch veröffentlicht Bericht zur Menschenrechtssituation in Mexikos Drogenkrieg. Schwere Vorwürfe gegen staatliche Stellen

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Vorwürfe schwerer Menschenrechtsverletzungen: Mexikanische Soldaten
Vorwürfe schwerer Menschenrechtsverletzungen: Mexikanische Soldaten

New York. Der "Krieg" der mexikanischen Regierung gegen den Drogenhandel ist doppelt gescheitert. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), der am 9. November unter dem Titel "Weder Rechte noch Sicherheit" veröffentlicht wurde. Das Ergebnis der Studie ist ein vernichtendes Urteil über die Strategie der Regierung von Staatspräsident Felipe Calderón. Die Sicherheitslage habe sich verschlechtert und es sei "zu einem dramatischen Anstieg schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen" gekommen, heißt es in dem über 200 Seiten umfassenden Bericht. Staatliche Stellen seien verantwortlich für extralegale Hinrichtungen, systematische Folter und das Verschwinden von Menschen.

Die Untersuchung beruht auf zweijährigen Recherchen in den Bundesstaaten Baja California, Chihuahua, Guerrero, Nueva León und Tabasco. Neben einer umfangreichen Durchsicht von Dokumenten, wurden mehr als 200 Interviews mit Regierungsbeamten, Sicherheitskräften, Opfern von Menschenrechtsverletzungen und Menschenrechtsverteidigern geführt.

In den fünf untersuchten Bundesstaaten kommt es zur systematischen Anwendung von Folter durch die Sicherheitskräfte und die vorliegenden Beweise deuten auf die Beteiligung von Soldaten und Polizisten an extralegalen Hinrichtungen und gewaltsamem Verschwindelassen hin. Dabei zwinge das "Muster der Menschenrechtsverletzungen" zu der Schlussfolgerung, dass es sich bei den im Bericht dokumentierten Fällen nicht um "isolierte Taten", sondern um Beispiele missbräuchlicher Praktiken handelt, die für die gegenwärtige Strategie der öffentlichen Sicherheit endemisch sind. Im Licht der HRW vorliegenden Beweise für über 170 Fälle von Folter, ist es besonders gravierend, dass Verurteilungen "in nahezu allen Fällen" einzig und allein auf den unter Folter erzwungenen Geständnissen basierten.

Die faktische Straflosigkeit, mit der sowohl die Polizei als auch das Militär Menschenrechtsverletzungen begehen, ist auf einen "systemischen Mangel" der mexikanischen Gerichtsbarkeit zurückzuführen, so HRW. Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen und ihre Angehörigen haben die schwere Wahl, an ihnen begangene Verbrechen einfach hinzunehmen oder diese auf eigene Faust zu untersuchen, was häufig mit erheblichen Risiken verbunden sei. Der Versuch, bei den zuständigen Stellen Anzeige zu erstatten, laufe zumeist ins Leere. Oft weigern sich die Beamten, solche Anzeigen überhaupt entgegen zu nehmen. Falls sie es doch tun, kommt es häufig zu Unregelmäßigkeiten bei der Bearbeitung der Fälle und so gut wie nie zu einer Verurteilung.

Im Abschnitt "Gefährliche Rhethorik" geht HRW auf das von Präsident Calderón benutzte "Modell des sich selbst widersprechenden Diskurses" ein. Einerseits verkündet der mexikanische Präsident, dass die Menschenrechte die "zentrale Voraussetzung" für die Strategie seiner Regierung gegen das organisierte Verbrechen seien. Andererseits bringt er seine Frustration über Beschwerden zu Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte zu Ausdruck, "die nicht zutreffen" würden. Der Bericht von Human Rights Watch kritisiert vehement, dass mexikanische Politiker Menschenrechtsorganisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft als Komplizen des organisierten Verbrechens darstellen, die mit ihrer Arbeit die Reputation von Regierungsinstitutionen beschädigen würden.

Das universale juristische Prinzip einer Unschuldsvermutung bis zum Vorliegen von Beweisen ist auch in der mexikanischen Verfassung verankert. Doch die Praxis funktioniere genau anders herum, so der HRW-Bericht: Opfer müssten simultan ihre eigene Unschuld und darüber hinaus die von den Beamten begangenen Menschenrechtsverletzungen beweisen. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung der mexikanischen Politik der "Vorteil des Zweifels" (benefit of the doubt) zugestanden wird, der in der jüngeren Vergangenheit wiederholt bemüht wurde, um die Kooperationsbereitschaft Deutschlands mit den mexikanischen Behörden zu begründen.