Chile: Rückkehr geraubter Kinder in ihre leiblichen Familien

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Führen in Chile den Kampf für Familienzusammenführung und die Rechte geraubter Kinder: Hijos y Madres del Selencio
Führen in Chile den Kampf für Familienzusammenführung und die Rechte geraubter Kinder: Hijos y Madres del Selencio

Santiago de Chile.  Am vergangenen Sonntag konnten nach vielen Jahrzehnten sieben Männer und Frauen ihre leiblichen Mütter wieder umarmen. Die in den USA lebenden Personen waren während der Militärdiktatur als Kleinkinder gewaltsam von ihren Eltern getrennt worden. Eine Zusammenführung konnte nun dank der Organisation Connecting Roots realisiert werden. 

Begleitet wurden die sieben von Tyler Graf, Präsident und Gründer von Connecting Roots. Graf wusste immer von seiner chilenischen Abstammung. Er kam während eines Ausbildungslehrgangs für chilenische Feuerwehrleute in Houston mit Juan Luis Inzunza in Kontakt, einem Kollegen aus Chile. Dem erzählte er seine Adoptionsgeschichte. Inzunza begann in Chile mit Nachforschungen und nahm Kontakt zur Organisation Hijos y Madres del Silencio auf. Es dauerte zehn Jahre bis mit ihrer Hilfe Grafs Mutter gefunden wurde. 2021 konnten sich beide erstmals in Texas sehen.

Graf teilt sein Glück mit bisher mehreren Hundert erfolgreichen Familienzusammenführungen. Die Suche gestaltet sich kompliziert, aufwendig und zeitraubend. Dokumentationen sind entweder verschwunden, unvollständig oder gefälscht. Was bleibt sind DNA-Abgleiche. Die Kosten sind ungeheuer hoch und oftmals verläuft die Suche im Sande, weil sich Mutter und Kind gegenseitig suchen müssen. Es gibt zum Teil staatlich finanzierte DNA-Proben, deren Ausführung Privatlabore übernehmen, die aber wegen fehlende Datensicherheit kritisiert werden. Außerdem drängt die Zeit, die Mütter werden immer älter und manche verstarben, bevor ein Nachforschungsprozess abgeschlossen werden konnte.

Während der Diktatur von General Augusto Pinochet wurden bis zu 20.000 Neugeborene und Kleinkinder über ein ausgeklügeltes Netzwerk illegal ins Ausland verschoben. Vor allem in die USA und nach Europa. In Chile wurden alle Spuren der Identität verwischt, um zu verhindern, dass die Kinder später ihre leiblichen Eltern kontaktieren könnten. Im Ausland wirkte trotz gelegentlicher Zweifel das ideologische Konstrukt, dass "armen Kindern aus der dritten Welt" bei kinderlosen Eheleuten ein gutes Leben ermöglicht worden sei.

Die Zwangsadoptionen galten als ein Mittel, den Widerstandwillen der Bevölkerung zu brechen und ein Klima von Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Historikerin Karen Alfaro von der Universidad Austral de Chile sieht in der erzwungenen Adoptionen wegen ihres Ausmaßes auch ein Mittel der demografischen Kontrolle armer Bevölkerungsschichten und Indigener. So gibt es Berichte von Polizeistreifen, die Mapuche-Kinder im Süden von der Straße entführten.

Eine Form der Zwangsadoption bestand in der offenen Wegnahme etwas älterer Kleinkinder unter Drohungen sowie Versprechungen, den Kindern werde es besser gehen. In anderen Fällen wurden Neugeborene für tot erklärt und von der Regierung angeblich beerdigt. Auch wurde Müttern unter Vorlage von Dokumenten, die sie oft gar nicht verstanden, eine Freigabe zur Adoption aufgezwungen.

Die damalige Diktatur hatte ein ausgeklügeltes Netzwerk erschaffen. Krankenschwestern, Hebammen und Sozialarbeiter:innen übernahmen die Auswahl der Kinder und erpressten die Adoptionszusage. Rechtsanwälte verfassten die Adoptionspapiere und Richter gaben dem angeblichen Adoptionsgesuch statt. Um die Kinder außer Landes zu schaffen, steuerten die Auswanderungsbehörden die Ausreisegenehmigung bei. In den Empfängerländern übernahmen in vielen Fällen private Agenturen die Vermittlung der Kinder, die sie sich teuer bezahlen ließen (amerika21 berichtete).

Eine Aufarbeitung dieses Menschenhandels gestaltet sich schwierig und schleppend. Seit vielen Jahren sind Betroffenenverbände und gemeinnützige Organisationen bei der Suche und Zusammenführung zerrissener Familienbande aktiv. In einigen Ländern gab es schnelle Fortschritte.

In Deutschland dauerte es lange, bis das Thema ins öffentliche Bewusstsein gelangte. Zwar wurde das Adoptionsrecht verschärft, eine Aufarbeitung alter Fälle findet jedoch nicht statt. In Holland verklagen Betroffene den Staat auf Schadenersatz, während das Justizministerium keinen Handlungsbedarf sieht. Es will die strafrechtliche Seite von Chile geregelt wissen. In Chile haben Ermittlungen wegen Kindesentführung und unrechtmäßigen Adoptionen bisher keine gerichtsverwertbaren Ergebnisse erzielt.