Venezuela

Venezuela: Partizipation in Maßen

Den Weg in den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" gibt vor allem Chávez vor

Seitdem Chávez unmittelbar nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2006 den Aufbruch zum Sozialismus ausgerufen hat, dreht sich der politische Diskurs der venezolanischen Regierung um die "Radikalisierung der Revolution". Wesentliche Elemente dabei sollen die Umgestaltung des Staatsapparats zum Instrument der "Basismacht" und die "Explosion der Macht des Volkes" sein. Gleichzeitig findet jedoch eine Personalisierung der Macht in der Figur Chávez statt. Ein Paradox?

Dem herrschenden Diskurs innerhalb des Chavismus zufolge, gibt es in Venezuela nur zwei vertrauenswürdige Figuren: Hugo Chávez und das Volk [1]. Während ersterer intelligent, ehrlich und fähig erscheint, die notwendigen Entscheidungen zu treffen und mit harter Hand auszuführen, wird das Volk als grundsätzlich gut verstanden, sofern es als Masse und nicht als Ansammlung von Individuen auftaucht. Seinen Bedürfnissen folgend steht das Volk intuitiv immer auf der richtigen Seite, eigene, gar widersprüchliche Interessen scheint es nicht zu haben. Über alle weiteren sozialen Akteure denkt man nichts Gutes, insbesondere dann nicht, wenn sie mit der Opposition oder der Bürokratie und staatlichen Einrichtungen in Verbindung gebracht werden.

Auch wenn deren Ineffizienz und Korruption offensichtlich sind, ist es wichtig zu sehen, dass dieser Diskurs die zunehmende Konzentration der Macht in einer Person legitimiert. So hat die Nationalversammlung auf Chávez Wunsch Anfang des Jahres ein Gesetz verabschiedet, das es ihm für 18 Monate ermöglicht, in wichtigen Fragen per Präsidialdekreten an der Nationalversammlung vorbei zu regieren, und zwar mit der Begründung, dass eben jene Nationalversammlung zu langsam arbeite. Anzumerken bleibt, dass dieselbe nur aus Abgeordneten der Regierungskoalition besteht, da die Opposition zu den letzten Wahlen aus taktischen Gründen nicht angetreten war. Auf ähnliche Weise wird durch die Unfähigkeit der MinisterInnen deren ständige Neuberufung gerechtfertigt. Am Ende bleibt nur Chávez, nicht nur als einzige ehrliche Figur, sondern überhaupt als Einziger im ganzen Staatsapparat, der über ein politisches Profil verfügt. Sein Führungsanspruch ist längst unhinterfragbar geworden. Zum einen gründet dieser Diskurs darauf, Effizienz als wichtigstes Element politischen Handelns zu setzen. Zum anderen funktioniert er über die Vorstellung, es gäbe unabänderbare historische Bedürfnisse des Volkes, aus denen sich sowohl die politischen Ziele als auch der Weg zu ihnen automatisch ableiteten.

Regieren per Präsidialdekret und Sondervollmacht

Es wird weitgehend akzeptiert, dass es Chávez ist, der diese vorhersehen kann und erkennt. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen, scheint so eine grundlegende Diskussion über die Richtung, welche die venezolanische Gesellschaft einschlagen soll, nicht für notwendig gehalten zu werden. Dass sie auch nicht erwünscht ist, zeigt sich an den Feindseligkeiten gegen die drei Parteien der Regierungskoalition, die sich nicht aufgelöst und in die auf Chávez Initiative hin kreierte Venezolanische Sozialistische Partei der Einheit (PSUV) eingereiht haben. Während noch Anfang des Jahres hervorgehoben wurde, wie wichtig eine tiefgehende Diskussion über den Charakter der zu gründenden Partei ist, wurden jene Stimmen, die Kritik an Chávez Vorstellungen äußerten, schon zwei Monate später als Verräter und Oppositionelle beschimpft.

In diesem Beispiel spiegelt sich die Struktur der politischen Debatten wider. Chávez bringt nicht nur die Themen ein und bestimmt den Rhythmus der Debatten, sondern spricht auch das letzte Wort. So erklärt sich, dass sich jede soziale oder politische Initiative, um gehört zu werden, auf seinen Diskurs beziehen muss, wodurch dessen Autorität immer wieder bestätigt wird. Unabhängig zu intervenieren ist kaum möglich, denn damit ein Thema politische Relevanz gewinnt, muss es von ihm in einer seiner Reden erwähnt werden, so wie es Anfang des Jahres mit der Partei der Einheit, dem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" oder selbst der Stadtpolitik Caracas passiert ist. Die Widersprüchlichkeit des Diskurses, der von Demokratie und Partizipation redet, aber hierarchisch strukturiert ist, ohne dies zu reflektieren, findet in dessen Beziehung zur politischen Praxis seine Entsprechung. Auch wenn erklärt wird, dass der Staat zu Gunsten einer besseren und breiteren sozialen Mitbestimmung reorganisiert werde, weisen die konkreten Schritte in Richtung einer weiteren Zentralisierung der Macht: Im Fall des Regierens per Dekret ist das offensichtlich, aber auch die angestrebte Verfassungsreform, die u.a. die Einführung der unbeschränkten Wiederwahl vorsieht, sowie die Reformen im Bildungsbereich, die Neuaufteilung des Staatsgebiets und die so genannte Explosion der Basismacht, werden über Präsidialkommissionen direkt von Chávez kontrolliert. Die Volksbefragungen, die ab und an durchgeführt werden, sind nicht bindend.

Erklärtes Ziel und eingeschlagener Weg widersprechen sich so offensichtlich, dass man fragen muss, ob ersteres nicht auf der Strecke bleibt. Es stellt sich die Frage, warum nicht schon bei den Reformen mit der Partizipation begonnen wird. Die vielbeschworene "Basismacht" wird letztlich aus den Entscheidungen, die sie betreffen, ausgeschlossen.

So ergibt sich eine sehr ungleiche Verteilung der Macht. Während Chávez die Richtung vorgibt, darf sich das "organisierte Volk" nach den vorgegebenen Richtlinien selbst verwalten und kontrollieren. Das Beispiel der Nachbarschaftsräte, die zurzeit überall installiert werden, ist dafür paradigmatisch: Wie auch die anderen formalisierten Basisorganisationen unterstehen sie Vorgaben über Organisierungsform und Aufgabenbereich, die sie kaum beeinflussen können. Die so genannte protagonistische Partizipation geht kaum über die Verwaltung der eigenen Armut hinaus, und selbst darin ist sie von einer Präsidialkommission abhängig, die die Finanzierung von Projekten genehmigen muss. Was bisher an vorgesehenen Gesetzesänderungen bekannt wurde, reduziert sich auf eine Erweiterung des Aktionsradius (Projekte auf Bezirks-, nicht nur Nachbarschaftsebene). Dazu kommt die Tendenz der Regierung, den Nachbarschaftsräten ohne Rückfrage all jene Angelegenheiten zuzuschieben, mit denen die Verwaltung überfordert ist, insbesondere die Kontrolle der Lebensmittelpreise und parapolizeiliche Aufgaben in den ärmeren Vierteln.

Zentrale Probleme sind so das Fehlen einklagbarer Mitbestimmungsrechte, die nicht vom Wohlwollen Chávez oder guten Beziehungen zu höheren Machtebenen abhängen. Noch schwerer fällt ins Gewicht, dass unabhängige soziale Bewegungen, die jene Rechte einfordern oder sie sich einfach nehmen, marginalisiert sind. Doch ist es die Aufgabe emanzipatorischer Politik, solche Bewegungen, die über die staatliche Integration von Basisorganisationen hinaus weisen, sichtbar zu machen und zu stärken. Dazu muss u.a. der Begriff des intuitiv guten, aber unselbstständigen und letztendlich homogenen Volkes aufgegeben werden, auch von all jenen, die über Venezuela und den "bolivarianischen Prozess" berichten.

Anmerkung:

[1] Der spanische Begriff "pueblo" unterscheidet sich zwar vom deutschen "Volk", insbesondere weil er nicht rassistisch konnotiert ist. Da wir hier jedoch auf die homogenisierenden Tendenzen des Diskurses ums "pueblo" eingehen möchten, scheint uns diese Übersetzung angemessen.