Diego Maradona - die Zehn in elf Kapiteln

Autor Glenn Jäger beleuchtet in seinem Buch die politische Biografie des argentinischen Ausnahmefußballers. Der Junge aus dem Slum, der dem abgehängten Süden Würde verleiht

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Ausschnitt aus dem Buchcover "Diego Maradona – In den Farben des Südens"
Ausschnitt aus dem Buchcover "Diego Maradona – In den Farben des Südens"

Diego Maradona – In den Farben des Südens (PapyRossa)

Maradona glaubte, dass alle Menschen mit einem Mindesthaltbarkeitsdatum geboren werden. Sein Rat: Jeden Augenblick seines Lebens genießen, das man niemals lebend verlassen wird. Er hat sein Leben voller Übertreibung und Ausschweifung gelebt. Psychisch und physisch exzessiv, so als ob jeder Tag sein letzter wäre.

Er starb vor einem Jahr mit gerade mal 60 Jahren, nach einer Hirn-Operation, die bis heute Frage aufwirft. Wie so oft in seiner langen Krankengeschichte hofften alle, dass er bald wieder auf die Beine kommt. Er tat es nicht.

Er starb am selben Tag wie sein Freund Fidel Castro. Die beiden charismatischen Männer verband eine jahrzehntelange Freundschaft, die mit dem "Verrücktesten" begann, was Diego Maradona nach eigener Aussage jemals widerfahren ist: "Ich schoss einen Elfmeter gegen Fidel Castro", der habe wissen wollen, wie es sei einen Elfmeter zu verwandeln. Maradona erklärte Castro: "Ich schaue dem Torhüter in die Augen. Wenn er länger durchhält als ich, kann er parieren; wenn ich länger durchhalte, schieße ich einfach in die andere Ecke." Castro blieb zwischen den Sesseln, die das Tor markierte, stehen. Maradona schob ein.

Jäger erzählt die Geschichte Maradonas klassisch chronologisch in elf Kapiteln. Zunächst jedoch legt er im ersten Kapitel den Kompass gen Süden fest. Mit dem Worten Diegos: "Ich bin links, ganz links, von Kopf bis Fuß, im Glauben. Aber nicht so wie ihr in Europa das definiert. Ich will das Leben der Armen verbessern, dass wir alle Frieden und Freiheit haben".

Bis Kapitel Sechs geht es um die Zeit in der Maradona fußballerisch aktiv war, sei als Spieler oder als Trainer; ab Kapitel 7, indem sich "die Türen Kubas geöffnet haben" wird es politisch. André Scheer, der u.a. für die Junge Welt schreibt, steuert hier einen Beitrag zu Maradona und Venezuela bei.

Es gibt viele Querverweise, um das gesellschaftliche Umfeld zu erhellen, in dem sich Maradonas Leben abspielte: Die politischen Geschichte Argentiniens, aber auch Themen wie US-Politik in Südostasien oder das kubanische Gesundheitssystem werden beleuchtet.

Die Geschichte beginnt jedoch mit dem Aufstieg des schmächtigen, "kleinen Schwarzkopf", Cabecita negra, wie man in Argentinien abwertend die "Mischlinge" aus den Armenvierteln bezeichnete, dem sein erster Trainer und Mentor Francisco Cornejo zunächst gar nicht glauben wollte, dass er schon acht Jahre alt ist, als er ihn für seine "Cebollitas”, den "Zwiebelchen", wie die Jugendmannschaft bei den Argentinos hieß, anwarb hin zum strahlenden "Pibe de Oro", dem Goldjungen, der seinen Kindheitstraum erfüllte: "Die WM zu spielen und zu gewinnen".

Noch war es jedoch nicht soweit. Er gewann zwar mit dem argentinischen Juniorenteam die WM 1979, aber Nationaltrainer César Luis Menotti berief ihn damals nicht in die "Albiceleste", die im Jahr zuvor die WM im eigenen Land gewann.

Erst beim SSC Neapel, einem bis dahin erfolglosen Verein, entfaltete er sein Potenzial. Ein Verein aus dem Süden Italiens, auf den der wohlhabende Norden herabblickte. Sein Nationalmannschafts-Kollege Jorge Valdano schreibt: "Die Stadt benutzte ihn als Aushängeschild, das restliche Italien als Symbol der Minderwertigkeit des Südens: 'Neapel liegt in Nordafrika und Maradona ist der größte Afrikaner von allen', hieß es."

Für Diego passte es genau. Vom ersten Tag an war er einer von ihnen. "Wir gegen den Rest der Welt", das war das Gefühl, das sie verband. Mit Neapel gewann er zwei Meisterschaften (1987 und 1990) und 1989 den Uefa-Pokal. Den reichen Norden Italiens aus Mailand und Turin ließen sie gemeinsam hinter sich. Der Fußballrebell Maradona schenkte dem Mezzogiorno Stolz. "Oh Mama, Mama, Mama, weißt du, warum mein Herz so schlägt? Ich habe Maradona gesehen und Mama: Ich bin verliebt!" sangen die Fans auf den Straßen. Im Süden entfaltete der Fußball eine quasi religiöse Kraft und Maradona war ihr Stadtheiliger.

Maradonas Hedonismus kannte damals keine Grenzen. Messianisch sprach er von sich in der dritten Person. Er lebte Übertreibung und Ausschweifung – machte keine halben Sachen. Dass er manisch-depressiv war – heute spricht man im Fachjargon von bipolar – hat all das sicher massiv befördert. Menschen mit dieser Krankheit bewegen sich zwischen Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt sein. Zudem schonte Maradona seinen Körper nicht. Im Gegenteil. Schon als Spieler ist er über Grenzen gegangen, hat sich Spritzen lassen und auch privat sagte er zu Stimulanzien nie nein. Auf depressive Phasen folgten Nahtoderfahrung, Wiederauferstehung und der erneute Sturz ins Bodenlose.

Maradona war stets ungefiltert und schamfrei. Er hat sich nie einen Kopf darüber gemacht, wie er ankam, er hat sich nie gegenüber Honorigen und Mächtigen verbogen. Das musste er auch nicht, dazu war er einfach zu gut am Ball. Er liebte den Ball, der Ball liebte ihn. – ein perfektes Paar, aber als er aufhörte zu spielen wurde das zu einem Problem, weil er viel zu vielen Menschen mit viel Macht auf die Füße getreten war. Etwa dem FIFA Boss Joao Havelange. Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano, der ihn als "den menschlichsten aller Götter" bezeichnet, beschreibt, wie sich Maradona für die Rechte der Spieler einsetzte und seine Stimme gegen die allmächtige FIFA erhob, die nur an den TV-Geldern interessiert war, nicht aber an der Gesundheit der Spieler.

Die Neue Zürcher Zeitung behauptet in ihrem Nachruf: "Mit ein wenig mehr Disziplin und Ernsthaftigkeit hätten Maradona und Argentinien mehr aus sich machen können. Er lief ohne ideologischen Kompass durch die Welt, suchte aber stets die Nähe zur Macht."

"Diese Behauptung ist nachgerade grotesk. Maradonas 'Kompass' war klar gesetzt: Er unterstützte die Schwachen, die ohne Stimme", kommentierte ich damals auf amerika21. Schön sich in einem Buch zitiert zu finden und gut zu wissen, dass der Autor und ich in diesem Punkt übereinstimmen.

Es ist erfreulich, dass ein linker Verlag wie PapyRossa sich des Themas Fußball annimmt und Bücher veröffentlicht, die Fußball jenseits von Event, Marketing und Spektakel kritisch in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext darstellen. In seinem ersten Fußballbuch für den Verlag In den Sand gesetzt: Katar, die Fifa und die Fußball-WM 2022 befasst sich Glenn Jäger mit den Machenschaften der Fifa und wie es dazu kommen konnte, dass die WM im kommenden Jahr in dem Wüstenstaat stattfindet. Hier wird vom großen Ganzen ausgehend analysiert, wohingegen bei "Diego Maradona – In den Farben des Südens", der Mensch Maradona den Nukleus bildet, von dem aus sich eine ganz eigene Welt entfaltet und in der der Kompass klar gen Süden zeigt.

Maradona hat auf seinem Weg viele Menschen mitgenommen und begeistert, nicht nur für den Fußball, sondern auch für die Politik, Lateinamerika und das Leben. Ich habe das Buch, das voller Detailwissen und bereichernder Anekdoten steckt, mit Freude und Gewinn gelesen. Was ist mit Kritik? Heldenverehrung vielleicht, zu viel Politik? Zu links? Ja, das kann man bekritteln, wenn man das Buch aber als das sieht, was es ist, nämlich die politische Biografie eines bipolaren Ausnahmefußballers, ist es eine bereichernde Lektüre nicht nur für fußballaffine Menschen.

Glenn Jäger

Diego Maradona – In den Farben des Südens

PapyRossa Verlag, Neue Kleine Bibliothek 304, 263 Seiten, € 16,90 [D], ISBN 978-3-89438-763-1