Buenos Aires. Anfang November hatte man ihm noch erfolgreich ein Blutgerinnsel im Gehirn entfernt. Wie so oft in seiner langen Krankengeschichte hofften alle, dass er bald wieder auf die Beine kommt. Maradona, der sich auf dem Platz bewegte wie eine Katze, hatte wie diese neun Leben. Er hat sie alle zu früh aufgebraucht.
Weltweit trauern Millionen von Menschen um Diego Maradona. In seiner Heimatstadt Buenos Aires kamen am Mittwoch Tausende zusammen, um am legendären Bocas Stadion "La Bombonera", wo Diegos Karriere begann, und am Obelisken im Stadtzentrum, ihrem Idol gemeinsam zu gedenken. Auf elektronischen Anzeigetafeln über der Stadtautobahn und in U-Bahn-Eingängen war zu lesen: "Danke Diego". Argentiniens Staatspräsident Alberto Fernández hat eine dreitägige Staatstrauer angeordnet.
Maradona wurde in der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast, aufgebahrt. Hunderttausende kamen, um Abschied zu nehmen, Zehntausende defilierten entlang dem Sarg und als klar wurde, dass nicht alle ihm die letzte Ehre erweisen werden können und der Zugang zum Palast abgesperrt wurde, kam es zu Tumulten. Am Donnerstag beerdigte die Familie ihn im kleinen Kreis auf einem Friedhof in Buenos Aires.
Der Staatschef sagte im Fernsehen: "Diego hat Argentinien in der Welt repräsentiert, er hat uns mit Freude erfüllt, und das werden wir niemals vergelten können." Das ist auch die Meinung vieler Argentinier:innen, die befragt wurden: "Wir lieben ihn", "durch ihn ist Argentinien in der Welt bekannt", "er ist der größte Fußballer aller Zeiten".
Einer der genau weiß, wie wichtig Maradona für Argentinien war, ist César Luis Menotti, der legendäre Nationaltrainer, der Maradona seit seiner Jugend begleitete. In einem Interview mit der Fußballzeitschrift 11 Freunde erklärt er, was ihn so außergewöhnlich machte, warum es für ihn Regeln gab, nur um sie zu brechen, und wie er so zu einem "Fußballgott" wurde: "Ich glaube, die Verrücktheit von Diegos Leben begann mit der WM 1986 in Mexiko. Mit seinen beiden Toren gegen die Engländer. Für die Argentinier waren sie eine Art Wiedergutmachung für den verlorenen Falkland-Krieg, ein Sieg, der Fußball und Politik miteinander vermischte. Die Engländer haben uns die Falkland-Inseln genommen, dachten sich die Leute, und jetzt schicken wir sie nach Hause! Vor allem das Tor mit der Hand wurde gefeiert. So sind die Menschen: Sie lieben es, wenn jemand die Regeln bricht. Und Diego hatte die Fußballregeln gleich im doppelten Sinn gebrochen: mit der Hand beim ersten Tor die geschriebenen Regeln des Spiels, und mit dem Fuß beim zweiten Tor die physischen Regeln des Spiels. Da wurde sein Mythos geboren. Der Gott des Fußballs. Die ganze Welt hatte dabei zugesehen. Und von da an würde sie für den Rest seines Lebens nicht mehr die Augen von ihm abwenden."
In Neapel stieg er auf in den Himmel. Hier verehrte man ihn wie einen Heiligen.
Zuvor hatte Menotti, der Trainer in Barcelona war, ihn zum katalanischen Weltclub geholt. Maradona, der in einem Armenviertel von Buenos Aires mit sieben Geschwistern aufgewachsen war, wurde dort nie glücklich und erfolgreich. Auf dem Platz wurde er übel angegangen und gefoult. Bevor seine Karriere anfing, hätte sie auch schon beendet sein können, als Andoni Goicotxea, "Der Schlächter von Bilbao", ihm den Knöchel brach. Zudem bekam er Hepatitis-B, wurde gescholten wegen mangelnder Anpassungsfähigkeit und dann zwangstransferiert nach Neapel.
Beim SSC Neapel, einem bis dahin erfolglosen Verein, entfaltete er sein Potenzial. Ein Verein aus dem Süden Italiens, auf den der wohlhabende Norden herabblickte. Sein Nationalmannschafts-Kollege Jorge Valdano schreibt: "Die Stadt benutzte ihn als Aushängeschild, das restliche Italien als Symbol der Minderwertigkeit des Südens: 'Neapel liegt in Nordafrika und Maradona ist der größte Afrikaner von allen', hieß es."1.
Für Diego passte es genau. Vom ersten Tag an war er einer von ihnen. "Wir gegen den Rest der Welt", das war das Gefühl, das sie verband. Mit Neapel gewann er zwei Meisterschaften (1987 und 1990) und 1989 den Uefa-Pokal. Den reichen Norden Italiens aus Mailand und Turin ließen sie gemeinsam hinter sich. Der Fußballrebell Maradona schenkte dem Mezzogiorno Stolz. "Oh Mama, Mama, Mama, weißt du, warum mein Herz so schlägt? Ich habe Maradona gesehen und Mama: Ich bin verliebt!" sangen die Fans auf den Straßen. Im Süden entfaltete der Fußball eine quasi religiöse Kraft und Maradona war ihr Stadtheiliger.
Was Maradona für Argentinien bedeutet, ist kaum zu ermessen. Geht man durch La Boca, das Arbeiterviertel in Buenos Aires, sieht man Gemälde von ihm an jeder Straßenecke. Menotti sagt: "Ganz Argentinien trug ihn in seinem Herzen, er trug Argentinien auf seinen Schultern, vielleicht gar ganz Südamerika." Menotti erkannte, was ihn verwundbar machte. "Der Ball an seinem Fuß war für ihn wie für Jesse James die Pistole in der Hand. Und in dem einen Moment, in dem Jesse James die Pistole aus der Hand legte, haben sie ihn erschossen. Ich sagte ihm: Wenn du mit dem Fußballspielen aufhörst, wirst auch du verwundbar sein."
Bei seinem Abschiedsspiel hielt er eine kurze, bewegende Rede, die mit den Worten endete. "Ich habe geirrt und bezahlt, aber der Ball bleibt unbefleckt."
So war es: Als Fußballer auf dem Platz schier unverwundbar, im wahren Leben schwer gezeichnet und voller Widersprüche. Er war drogen- und alkoholabhängig. Mehrfach wurde ihm Gewalt an Frauen vorgeworfen.
Diego Maradona achtete nicht auf seinen Körper. Er kokste, soff und wurde unglaublich dick, so dick, dass er fast gestorben wäre. Dann war er plötzlich wieder rank und schlank und Moderator einer erfolgreichen Fernsehsendung, "La Noche de Diez". Zum Auftakt lud er gleich Pelé in die Show, neben bekannten Fußballern wie Zinedine Zidane kamen auch andere Stars zum Gespräch, wie die Tennisgröße Gabriela Sabatini, Sänger Don Omar, Boxer Mikye Tyson, Popstar Robbie Williams. Auch der kubanische Präsident Fidel Castro kam, mit dem ihn eine lange und innige Freundschaft verband und nun auch der Todestag. Beide starben am 25. November. Castro lud ihn nach Kuba ein, als es ihm dreckig ging. Dort unterzog er sich mehrmals einem Drogenentzug und medizinischer Behandlung, wurde clean.
Der Fußball wurde durch ihn erleuchtet und zu einer Kunst erhoben.
Deutschland hat mit Beckenbauer einen "Kaiser", Brasilien mit "Pelé" einen "König", aber die argentinische Nummer Zehn bleibt auf ewig der "Goldjunge" – "Pibe de Oro". Egal, was er auf dem Platz machte, für die Eliten dieser Welt blieb er ein "kleiner Schwarzkopf", Cabecita negra wie man in Argentinien abwertend die "Mischlinge" aus den Armenvierteln bezeichnet.
Zeitungen, wie die Schweizer NZZ, ziehen ihn in den Dreck und der französische Präsident Manuel Macron drischt auf Maradonas Unterstützung der südamerikanischen Linken ein: Maradonas "Expeditionen" zu Fidel Castro und Hugo Chávez hätten "den Geschmack einer bitteren Niederlage", heißt es in seinem Nachruf. In der NZZ wird behauptet: "Mit ein wenig mehr Disziplin und Ernsthaftigkeit hätten Maradona und Argentinien mehr aus sich machen können. Er lief ohne ideologischen Kompass durch die Welt, suchte aber stets die Nähe zur Macht."
Diese Behauptung ist nachgerade grotesk. Maradonas "Kompass" war klar gesetzt: Er unterstützte die Schwachen, die ohne Stimme.
Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano, der ihn als "den menschlichsten aller Götter" bezeichnet, beschreibt, wie sich Maradona für die Rechte der Spieler einsetzte und seine Stimme gegen die allmächtige FIFA erhob, die nur an den TV-Geldern interessiert war, nicht aber an der Gesundheit der Spieler.
In "Noche del Diez" sagte er auf die Frage, was auf seinem Grabstein stehen soll: "Danke Fußball". "Es ist der Sport, der mir die größte Freude macht, mir die größte Freiheit gibt. Es ist, als würde man den Himmel mit den Händen berühren. Danke an den Ball."
- 1. Jorge Valdano: Über Fußball, S:25, Bombus, 2004