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Volkszählung spaltet Bolivien: Rechte Opposition von Santa Cruz im unbefristeten Streik

Konflikt zwischen wirtschaftsstärkster Region und MAS-Regierung spitzt sich zu. Es geht um mehr politische Einflussnahme im kommenden Jahrzehnt

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Großdemonstration gegen Camacho und die Wirtschaftseliten in Santa Cruz de la Sierra
Großdemonstration gegen Camacho und die Wirtschaftseliten in Santa Cruz de la Sierra

La Paz/Santa Cruz de la Sierra. Der Gouverneur von Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, hat angesichts des anhaltenden Streits um die Durchführung des Zensus zu einem unbefristeten Streik in Santa Cruz aufgerufen. Seit Samstag stehen im wirtschaftsstärksten Departamento Boliviens fast alle Betriebe still.

Während die linke Zentralregierung um Präsident Luis Arce den rechten Oppositionellen aus Santa Cruz einen versuchten Staatsstreich und Destabilisierung des Landes vorwirft, sind die wirtschaftlichen Folgen und das Ende des Streiks noch nicht absehbar. Bei Auseinandersetzungen am Rande des Streiks gab es bereits einen Toten. Nicht Wenige befürchten ähnliche landesweite Unruhen wie 2019.

Eine Lösung des Streits um den Zensus ist derzeit nicht in Sicht. Nachdem die Opposition um Camacho am vergangenen Freitag die Gespräche mit der Regierung der Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS ) erneut abgebrochen hat, droht die Situation zu eskalieren.

Während die rechten Wirtschaftseliten die Volkszählung frühestmöglich, spätestens aber 2023 abhalten möchten, ist laut Regierung erst 2024 eine reibungslose Durchführung möglich. Vorgesehen war der alle zehn Jahre stattfindende Zensus ursprünglich für diesen November, wurde aber wegen der Folgen der Pandemie und fehlender technischer Ausstattung auf Mitte 2024 verschoben.

Kern des Konflikts sind nicht nur die Ergebnisse der Volkszählung, sondern auch der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung. Auf der einen Seite gilt es als sicher, dass Santa Cruz als wirtschaftsstärkstes und bevölkerungsreichstes Departamento beim kommenden Zensus mehr Abgeordnete im Nationalparlament stellen wird als bisher. Grund hierfür sind Berechnungsparameter, die Steuern, Staatsgelder und Parlamentssitze entsprechend der Einwohnerzahl verteilen.

Auf der anderen Seite spielen die Durchführung und Veröffentlichung der Ergebnisse mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2025 eine Rolle. Findet die Volkszählung, wie von der Zentralregierung vorgegeben, erst Mitte 2024 statt, ist davon auszugehen, dass die neu errechneten Verteilungsquoten noch nicht als Grundlage für die Wahl 2025 genommen werden.

Unterdessen spitzt sich die Lage in Santa Cruz immer weiter zu. Neben Straßenblockaden vor Raffinerien und geschlossenen Supermärkten kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Befürworter:innen und Gegner:innen des Streiks. Am Samstag starb ein Arbeiter in der Grenzstadt Puerto Quijarro, als er die Brücke nach Brasilien für den Handel offen halten wollte und von radikalen Streikenden totgeprügelt wurde.

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Beim "Rat des Volkes" (Cabildo del Pueblo) am 21. Oktober in Santa Cruz brachten Tausende ihren Unmut über die rechte Opposition zum Ausdruck
Beim "Rat des Volkes" (Cabildo del Pueblo) am 21. Oktober in Santa Cruz brachten Tausende ihren Unmut über die rechte Opposition zum Ausdruck

Auch wirtschaftlich sind die Folgen bereits gravierend. Berechnungen zufolge entstehen dem Landwirtschaftssektor in Santa Cruz durch den Streik jeden Tag Verluste in Höhe von 1,5 Millionen Dollar. Die Soja- und Maisernte im Herbst und Winter droht verlorenzugehen, wenn Personal fehlt, Dünger ausbleibt und die Absatz- und Supermärkte geschlossen bleiben.

Am Donnerstagabend gab der Minister für produktive Entwicklung und plurale Wirtschaft, Néstor Huanca, auf einer Pressekonferenz bekannt, dass die Regierung die Ausfuhr von Sojabohnen - und produkten, Zucker, Öl und Rindfleisch vorübergehend aussetzt. Die Maßnahme gelte, "bis die normalen Versorgungsbedingungen wiederhergestellt" seien.

Santa Cruz und vor allem die Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ist mit mehr als 1,8 Millionen Einwohner:innen der wirtschaftliche Motor Boliviens und Zentrum der Agrarindustrie. Entsprechend schwerwiegend sind die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des unbefristeten Streiks.

Sie befeuern einen seit dem Amtsantritt des ersten indigenen Präsidenten des Landes, Evo Morales (MAS), im Jahr 2006 schwelenden Konflikt zwischen den Wirtschaftseliten aus Santa Cruz und der indigenen Bevölkerungsmehrheit. Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach den gewaltsamen Ereignissen rund um die Präsidentschaftswahl 2019, in deren Folge die Politikerin Jeanine Áñez durch Unterstützung des Militärs die Macht übernommen hatte, drohen neue Konfrontationen. Camacho war damals schnell zum Anführer des Anti-Morales Lagers aufgestiegen.

Während der rechte Gouverneur die Katholische Kirche als Vermittlungsinstanz vorschlägt, beruft Präsident Arce für den heutigen Freitag alle regionalen Regierungen zu einem mit Spannung erwarteten "plurinationalen Treffen für einen Zensus und Konsens" (Encuentro plurinacional por un senso y conseso) nach Cochabamba ein. Offen ist, ob auch die Opposition und Vertreter:innen des Streiks daran teilnehmen.