Ist Lateinamerika auf dem Weg in den Sozialismus des 21. Jahrhunderts?

Interview mit Dario Azzellini

In Lateinamerika bilden sich interessante Alternativen zum klassischen Neoliberalismus heraus. Ist Lateinamerika auf dem Weg in den Sozialismus des 21. Jahrhunderts?

Dario Azzellini: Solche Prozesse sind voller Widersprüche. Was bestimmte Regierungen wie Bolivien oder Venezuela machen, ist was völlig anderes als das, was in Brasilien oder Argentinien läuft. Man muss sehen, welche Länder wirklich Alternativen zum Neoliberalismus oder auch zum Kapitalismus entwickeln und welche eigentlich nur versuchen, bessere Handelsbedingungen zu schaffen, was natürlich durchaus legitim ist bei einem ungerechten Welthandel. Da darf man aber nicht gleich den Sozialismus hineinfantasieren. Beispielsweise wurde der Mercosur, dem Venezuela beigetreten ist, von vielen als grosser Aufschwung gefeiert. Er ist aber nur ein Wirtschaftsbündnis - was zwar besser ist, als ausschliesslich mit den USA Handel zu treiben, am Mercosur ist aber nichts sozialistisch oder progressiv.

Am 28. und 29. April fand das 5. Gipfeltreffen der ALBA (Alternativa Bolivariana para las Américas) statt. Teilnehmer waren unter anderem die Staatschefs der vier Mitgliedsländer: Hugo Chávez, Carlos Lage für Cuba, Evo Morales für Bolivien und Daniel Ortega für Nicaragua. Worin unterscheidet sich die ALBA von den bisherigen Wirtschaftsbündnissen und wie vielversprechend ist sie?

Die ALBA ist kein reines Wirtschaftsabkommen und geht weit darüber hinaus. So ging es zum Beispiel auf dem Gipfel auch um die Ausweitung von Bildungs- sowie Alphabetisierungsprogrammen auf alle möglichen lateinamerikanischen Länder - nicht nur auf ALBA-Mitglieder. Die ALBA funktioniert nicht auf einer wirtschaftlichen Austauschbasis, sondern es geht wesentlich um eine solidarische Beziehung zwischen den Ländern. Es werden Gesamttöpfe geschaffen, mit denen bestimmte Bereiche gefördert werden und in diese Töpfe zahlen die Länder jeweils das ein, was sie können oder wollen. Ausserdem handelt es sich bei der ALBA nicht nur um Abkommen zwischen Regierungen, auch Bewegungen oder andere Projekte können Teil des Bündnisses sein. So hat zum Beispiel Venezuela vor zwei Jahren ein kontinentales Treffen der zurückeroberten, besetzten und selbstverwalteten Betriebe organisiert und finanziert, hat dafür eigens einen Topf eingerichtet und bezeichnet das Ganze als Teil der ALBA.

Hugo Chávez hat ja nun schon eine Reihe von Bündnissen ins Leben gerufen und auch den Austritt aus IWF und Weltbank angekündigt. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Man kann jetzt noch nicht sagen, dass das Ganze in grossen Schritten Richtung Sozialismus geht. Jedes soziale Wohlfahrtssystem ist in diesen Ländern schon ein Fortschritt, im Vergleich zu den feudalen Ausbeuterstrukturen, die es bisher gegeben hat. In Venezuela gab es eine unglaubliche Verbesserung der Einkommens- und Lebenssituation - vor allem der ärmsten Schichten. Es gibt natürlich noch viel zu kritisieren, wie die Ineffizienz oder Korruption, dafür wird aber auch viel getan. Wenn hierzulande in der Presse behauptet wird, Venezuela könne sich das nur erlauben, weil der Erdölpreis so hoch sei dann ist das nur die halbe Wahrheit. Es wird unterschlagen, dass der hohe Preis dem Land auch nur zugute kommt, weil Venezuela die Kontrolle über die eigenen Ressourcen zurückgewonnen hat. Andere erdölreiche Länder, wie zum Beispiel Mexico, haben gar nichts davon.

Venezuela macht stets Schlagzeilen mit Chávez’ Politik. Mindestlohn und Renten sollen um 20% angehoben werden, Erdöl, Stom und Telekom sind verstaatlicht und Chávez möchte dasselbe mit den Banken tun, damit sie stärker den «nationalen Interessen» dienen. Chávez selbst wird oft als Populist abgetan. Inwieweit trifft diese Kritik zu, und inwieweit ist er Vorbild für ganz Südamerika?

Ich glaube, der Erfolg der venezolanischen Bewegung liegt an einer grundsätzlichen Sache, die dort verstanden worden ist, nämlich keine Modelle zu kopieren, keine Vorbilder haben zu wollen und einen eigenen Weg zu entwickeln - Venezuela betont stets, dass es ihm nicht darum geht, Modellcharakter zu haben. In dieser ganzen Populismusdebatte gibt es ja unterschiedliche Auslegungen. In Deutschland haben wir das Problem, dass die Lateinamerikawissenschaften banal und völlig von jeder internationalen Debatte abgekoppelt sind. Es gibt gewisse Merkmale von Populismus, die ich in Venezuela nicht erfüllt sehe, wie zum Beispiel eine klientelistische Struktur. Im Gegensatz dazu wird auf Selbstorganisation gesetzt. Die Sonderrolle von Chávez ist widersprüchlich. Absurderweise geht von seiner zentralen Person immer wieder die Initiative aus, eine grössere Demokratisierung und Partizipation herzustellen, indem nicht nur politische Parteien, sondern auch Bewegungen und Organisationen ins Boot geholt werden.

--- Der Interviewer ist Redaktor von Radio 2 aus Nürnberg.