Venezuela

Wahlniederlage für die bolivarische Revolution

Gegner der Verfassungsreform in Venezuela setzen sich bei Volksabstimmung knapp durch

Damit hatte kaum jemand gerechnet: Zum ersten Mal seit dem Antritt von Hugo Chávez Anfang 1999 hat seine Regierung in Venezuela eine Niederlage an den Wahlurnen erlitten. Die Gegner einer Verfassungsnovelle, die in dem südamerikanischen Land ein sozialistisches Regierungssystem etabliert hätte, konnten sich in einer Volksabstimmung am Sonntag knapp durchsetzen. Nun wird über die Bedeutung des Ergebnisses debattiert.

Nachdem die Wahllokale am Sonntagnachmittag geschlossen hatten, begann das Warten - ganze sieben Stunden lang. Kurz nach ein Uhr morgens erst trat die Präsidentin des Nationalen Wahlrates, Tibisay Lucena, vor die Kameras, um das vorläufige Endergebnis zu verkünden. Nach Auszählung von rund 90 Prozent der abgegebenen Stimmen, lagen die Kritiker der Verfassungsreform mit 1,5 Prozentpunkten knapp vorne. Am Abend noch hatten Gerüchte die Runde gemacht, nach denen die Befürworter mit acht bis zehn Punkten in Führung lägen.

Zu der Wahl waren gut 16 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner aufgerufen. Sie konnten in 11.132 Wahllokalen über die Reform von 69 der insgesamt 350 Artikel der Konstitution befinden. Ein eindeutiger Trend war im Vorfeld nicht auszumachen. Je nach politischer Ausrichtung der Meinungsforschungsinstitute lagen einmal die Befürworter, ein anderes Mal die Gegner der Reform vorne.

Chávez: Besser Niederlage als knapper Sieg

Die zweite Überraschung mag für viele der Auftritt von Chávez gewesen sein. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Ergebnisse trat der Präsident vor die Kameras - und gab sich versöhnlich. Er gratulierte dem Oppositionslager zu dessen Sieg. Eine Niederlage sei ihm lieber, so Chávez, als ein knapper Erfolg:

Ich hatte befürchtet, dass ich (bei einem knappen Sieg) um jede einzelne Stimme hätte streiten müssen und so die Zweifel genährt hätte. Jetzt werde ich ruhiger schlafen können. Denjenigen, die gewonnen haben, wünsche ich, dass sie mit ihrem Sieg umzugehen wissen. (Hugo Chávez)

Trotzdem kündigte der Staatschef an, weiter für seine Politik zu werben. Das Projekt einer Verfassungsreform habe Bestand, so Chávez, auch wenn man sich über die Form nun Gedanken machen müsse. Den Ausgang des Referendums mochte er nicht als Niederlage ansehen, auch wenn man "für den Moment" gescheitert sei. Chávez spielte damit auf eine Äußerung an, die ihn 1992 berühmt gemacht hatte. Damals führte er einen Aufstand linker Militärs gegen das neoliberale Regime des damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez an. Als die Revolte scheiterte, gestand Chávez die Niederlage im Fernsehen ein und rief seine Mitstreiter zum Rückzug auf. Man sei unterlegen, sagte er damals - "für dem Augenblick".

Mit Erleichterung wurde in beiden politischen Lagern das Ausbleiben von Gewalt bewertet. Oppositionsführer Manuel Rosales, der Chávez bei der Präsidentschaftswahl im Dezember vergangenen Jahres unterlegen war, bezeichnete den ruhigen Verlauf und den Ausgang des Referendums als "Sieg für alle Venezolaner".

Schwäche des Chavismus

Ein Paradoxon ist, dass die Niederlage Chávez mittelfristig stärken könnte. Zwar hat er das Referendum verloren, zugleich aber bewiesen, dass seine Regierung entgegen allen Unkenrufen demokratischen Spielregeln folgt. Besonders deutlich wird das im Vergleich zu dem zeitgleich in Russland stattfindenden Wahlgang. Auf diesen Umstand berief sich Chávez am Wahlabend:

Den künftigen politischen Prozessen sollten wir uns mit einer demokratischen Grundhaltung stellen und im Bewusstsein, dass wir in einer Demokratie leben. Hier gibt es keine Diktatur. (...) Das venezolanische Volk genießt weitreichende Freiheiten, die von der Verfassung garantiert werden. (Hugo Chávez)

Trotzdem wird die Regierung sich aber natürlich Gedanken um die mangelnde Unterstützung machen müssen. Chávez selbst verwies nach Bekanntgabe der Ergebnisse darauf, dass im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr drei Millionen Wähler den Urnen fern geblieben seien. Der Umstand, dass sie nicht für das gegnerische Lager gestimmt haben, zeige jedoch, dass sie die "bolivarische Revolution" weiter unterstützten. Die Gründe, weswegen sie nicht für die Reform gestimmt haben, gelte es nun zu analysieren.

Offensichtlich aber ist die Spaltung des Chavismus. Die reformistischen Kräfte hatten Chávez zuletzt den Rücken gekehrt. Sie warfen ihm vor, mit der Verfassungsreform, aber auch mit der Gründung einer vereinten sozialistischen Partei der Regierungskräfte die Macht konzentrieren zu wollen. Die Fronten mit den ehemaligen Verbündeten sind inzwischen so verhärtet, dass eine neue Zusammenarbeit fast ausgeschlossen ist. So rief der ehemalige Verteidigungsminister Raúl Baduel die Armee kurz vor dem Referendum sogar zum Aufstand auf, sollten sich die Befürworter der Reform durchsetzen. Und die sozialdemokratische Koalitionspartei Podemos lud den rechtsgerichteten Ex-Präsidenten Boliviens als Wahlbeobachter ein. Kaum war Jorge Quiroga in Venezuela eingetroffen, beschimpfte er dessen Präsidenten als "Diktator". Er verlor - als einziger von 1600 Wahlbeobachtern - sein Mandat.

Die Frage ist, ob es Chávez gelingt, die offensichtliche Skepsis an der Basis gegenüber seiner Politik aufzulösen. Denn drei Millionen Stimmenthaltungen sind nicht der Abkehr einiger ehemaliger Mitstreiter und einer Kaderpartei geschuldet.

Eines ist mit dem Referendum deutlich geworden: Seine bisherige Umverteilungs- und Sozialpolitik wird Chávez mit der Regierungsmehrheit bis zum Ende seines Mandats 2012 zwar fortführen können. Für einen strukturellen Umbau des Staates benötigt er aber mehr als 50 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Insofern hatte mit seiner Einschätzung am Wahlabend recht: Auch ein knapper Sieg wäre angesichts der Tragweite der Reform kein Sieg gewesen.


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