Venezuela

Venezuela wählt elektronisch

Ein Internationaler Wahlbeobachter berichtet von seinen Erfahrungen bei den Präsidentschaftswahlen 2006

Am 3. Dezember 2006 waren 15,4 Millionen Venezolaner aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Sie hatten die Wahl zwischen 16 Kandidaten, aber die Umfragen sahen nur einen Favoriten: den Amtsinhaber Hugo Chávez. In den Prognosen lag er mit knapp 20 Prozent vor seinem Herausforderer, dem Gouverneur des Bundesstaates Zulia, Manuel Rosales. Chávez übernahm erstmalig im Februar 1999 die Präsidentschaft, nachdem er als Außenseiter die Wahlen überraschend gewonnen hatte. Sein Triumph führte zum Zerfall der traditionellen Parteien. In der Folge siegte er in fast einem Dutzend Wahlen und Abstimmungen. Außerdem überstand er einen Putsch und diverse Destabilisierungsversuche der Opposition dank der breiten Unterstützung in der Gesellschaft.

Chávez' Wähler kommen in erster Linie aus der armen Schicht, die ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Die Oppositionsgruppen repräsentieren eher die restlichen 30 Prozent. Sie verkörpern die gehobene Mittel- und Oberschicht, die bis 1998 die Geschicke des Landes bestimmten.

Zu Chávez' erklärter Politik gehört, das Ölland Venezuela aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit der USA zu führen. Die Vereinigten Staaten benötigen hingegen den Ölimport aus dem Karaibikstaat, der 11 Prozent ihrer Einfuhren ausmacht. Fiele er für mehr als zwei Wochen aus, bekäme die Industrie der einzigen Weltmacht schwere Produktionsprobleme. Daher hat die US-Politik ein besonderes Auge auf Venezuela geworfen und sähe es nur allzu gerne, wenn in Caracas ein Regierungswechsel stattfände, der wieder einen US-konformen Politiker an die Macht brächte. Da dieses Ziel mittel- bis langfristig auf demokratischen Wegen nicht zu erreichen ist, weil Chávez' Popularität einfach zu groß ist, versucht Washington, wo es nur geht, am Image des Venezolaners zu kratzen. Dieser reagiert wortgewaltig, unter anderem auf der Vollversammlung der UNO im September 2006, wo er seinen US-Amtskollegen George W. Bush mit dem Teufel verglich. Zu den Vorwürfen, die aus US-nahen Oppositionskreisen gerne gestreut werden, gehört der Vorwurf, die Wahlergebnisse seien gefälscht.

Warum in Venezuela elektronisch gewählt wird

Um den Vorwurf der Wahlfälschung zu entkräften, hat der Nationale Wahlrat (Consejo Nacional Electoral, CNE) seit 1998 schrittweise ein elektronisches Wahlverfahren eingeführt. Das entsprechende Gesetz stammte noch aus der Vor-Chávez-Zeit, wurde aber wie so vieles nie umgesetzt. Bis zu Einführung der elektronischen Wahlmaschinen waren Stimmkarten im Einsatz, die sich leicht fälschen ließen.

Seit den Präsidentschaftswahlen 2000 in den USA ist die Automatisierung der Stimmabgabe und -auszählung international sehr umstritten. Daher lädt der CNE regelmäßig zu wichtigen Wahlen auch internationale Beobachter ein. Diese kommen aus den Reihen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), des Carter Center, der Europäischen Union oder sind Intellektuelle und Akademiker, die Land und Leute kennen. Innerhalb des politischen Systems der Bolivarischen Republik Venezuela genießt der CNE den Status eines eigenständigen Verfassungsorgans neben Legislative, Exekutive, Judikative und der Moralischen Gewalt.

Zu den Wahlen am 3. Dezember waren 400 Bebobachter eingeladen. Sie reisten am 29. November an und wurden im Rahmen eines zweitägigen Seminars mit dem venezolanischen Wahlsystem vertraut gemacht. Am 2. Dezember erfolgte die Entsendung in die Einsatzgebiete und am 4. Dezember die Rückkehr nach Caracas.

Die Eigenheiten des venezolanischen Wahlsystems

Der Autor gehörte einer knapp 20köpfigen Gruppe an, die im Bundesstaat Aragua unterwegs war. Sie besuchte am Wahltag verschiedene Wahllokale. Diese werden seit jeher vom venezolanischen Militär bewacht. Der Anblick der bewaffneten Soldaten ist für Europäer gewöhnungsbedürftig. Die Streitkräfte sind jedoch - neben der Katholischen Kirche - die einzige Organisation, die über die Logistik verfügt, um im ganzen Land präsent zu sein. Venezuela ist von der Fläche so groß wie Frankreich und Deutschland zusammen. Während es die beiden europäischen Staaten auf 140 Millionen Einwohner bringen, leben dort nur 25 Millionen Menschen. Damit die Wahlurnen auch in die abgelegenen Gebieten gelangen und wieder zurück nach Caracas, stellt das Militär dem Nationalen Wahlrat seine gesamte Infrastruktur zur Verfügung. Dabei gilt das Primat der Politik: Die Soldaten sorgen für Transport und Sicherheit, aber der CNE hat das letzte Wort. Von der Bundesebene aus koordinierte seine Präsidentin Tibisay Lucena die Wahl über die CNE-Büros in den 23 Bundesstaaten und Caracas bis hinunter auf die kommunale Ebene.

Zu den Eigenheiten des venezolanischen Wahlverfahrens gehört, daß die Wahllokale erst dann geschlossen werden, wenn niemand mehr vor dem Wahllokal steht, um von seinem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Es reicht ein tropischer Wolkenbruch, um den Gang zum Wahllokal für mehrere Stunden zu verhindern. Damit die Stimmberechtigten trotzdem von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, läßt der CNE es zu, daß die Wahllokale nach Absprache später schließen.

Nur der Nationale Wahlrat besitzt das Recht, nach Schließung der Wahllokale eine erste Hochrechnung herauszugeben. Bis dahin müssen sich Medien und Politiker mit ihren Prognosen über den Wahlausgang in Geduld üben. Andernfalls drohen harte Strafen.

Der Wahltag

Für die Wahlhelfer - und die Internationalen Beobachter - begann der 3. Dezember gegen 5 Uhr morgens, da die Öffnung der Wahllokale für 6 Uhr angesetzt war. Für jedes Wahllokal gab es einen Verantwortlichen des CNE, der sich mit seinem militärischen Gegenpart abstimmte. Jeder Stimmbezirk wurde von einer Vorsitzenden (in den meisten besuchten Wahllokalen waren es Frauen) geleitet. Ihr zur Seite standen zwei bis drei Helfer. Hinzu kamen die "testigos", die Zeugen der politischen Parteien, die den Wahlvorgang in dem Stimmbezirk, im Wahllokal beziehungsweise auf kommunaler, Landes- und Bundesebene verfolgten. Die "testigos" durften nicht in das Wahlverfahren eingreifen, aber ihre Bemerkungen zu Protokoll gegeben oder bei gravierenden Problemen, den Verantwortlichen des CNE benachrichtigen. Die Internationalen Wahlbeobachter besaßen ebenfalls keine Sanktionsbefugnisse. Sie konnten die sie begleitenden CNE-Beamten auf mögliche Mißstände oder Probleme hinweisen. In Aragua hatten sie freien Zugang zu allen Einrichtungen, konnten sich frei bewegen und mit allen Beteiligten sprechen.

Was auffiel, war das hohe Interesse an den Wahlen: Beireits in den frühen Morgenstunden, noch vor der Öffnung der Wahllokale, hatten sich lange Warteschlangen gebildet. Wie schnell diese schrumpften, hing vielfach vom Organisationstalent des jeweiligen kommandierenden Offiziers ab, der aus Sicherheitsgründen den Zugang zu dem Wahllokal reglementierte.

Da es in Venezuela keine Wahlbenachrichtigung per Post gibt, müssen sich die Wähler rechtzeitig um einen gültigen Personalausweis kümmern und in Erfahrung bringen, in welchem Wahllokal sie ihre Stimme abgeben können. Das geschah per Internet oder kostenloser SMS. Venezolaner dürfen nur in dem Bezirk wählen, wo sie auch polizeilich gemeldet sind. Die Ausnahme bilden die im Ausland lebenden Staatsbürger, die in ihren diplomatischen Vertretungen ihre Stimme abgeben konnten. Eine Briefwahl gibt es nicht.

Die Wahllokale waren meistens in Schulen eingerichtet. Die Stimmbezirke gliederten sich nach den Endnummern des Personalausweises und waren auf die Klassenräume verteilt. Der Wahlakt bestand aus fünf Stationen, die jeder Wähler durchlaufen mußte.

Wie man in Venezuela elektronisch wählt

An der ersten Station kontrollierte ein Mitglied des Wahlvorstandes die Identität anhand des Wahlregisters und des Personalausweises. Die registrierten Wähler mußten neben ihrem Namen unterschreiben und außerdem ihre Unterschrift mit einem Daumenabdruck besiegeln. Außer in Aragua wurde in den meisten Bundesstaaten ein elektronisches Fingerabdruck-System benutzt. Ein spezielles Computer-Programm verglich den Fingerprint mit dem, der im Melderegister des CNE gespeichert ist. Der Nationale Wahlrat ist auch für die Ausstellung der Personalausweise zuständig. Pro Stimmbezirk konnten maximal 600 Menschen wählen.

An der zweiten Station erwartete die Vorsitzende des Wahlvorstandes die Wähler. Sie zeigte ihnen ein DIN A3-Blatt mit den Kandidaten und den sie unterstützenden Parteien. So konnten sich die Stimmberechtigten zuvor schon ein Bild machen, wem sie in der Wahlkabine ihre Stimme geben würden. Der Vorsitzenden des Wahlvorstandes oblag es, die elektronische Wahlmaschine per Knopfdruck zu aktivieren.

An dritter Stelle im Ablauf stand hinter einer Pappwand der Wahlautomat. Dieser gleicht einem freistehenden Geldautomaten mit dem charakteristischen Bedienfeld. Neben ihm lag auf einem Touch-Pad das erwähnte DIN-A3-Blatt mit den zur Wahl stehenden Kandidaten. In jeder Zeile sah man von links nach rechts zuerst das Photo des Kandidaten, dann die Farben und das Logo der Partei, die ihn unterstützte, und zuletzt einen Knopf. Sobald dieser gedruckt wurde, erschienen Photo und Name des Kandidaten auf dem Bildschirm des Wahlautomaten. Darunter leuchtete der Knopf "Votar" (Wählen) auf. Nach erneutem Drücken spuckte die Maschine einen Stimmzettel aus. Auf diesem stand der Name des gewählten Kandidaten. Außerdem besaß er eine mehrstellige Signatur, die ihn einzigartig machte. Kritiker führten an, man könne das Wahlverhalten der Stimmberechtigten herausfinden, indem man deren elektronische Registrierung an Station 1 mit dem Zeitpunkt der Stimmabgabe in Verbindung brächte. Diese Möglichkeit existiert nicht, weil die Fingerprintcomputer nicht mit den Wahlautomaten gleichgeschaltet sind. Letztere sind während der Wahl nicht online, sondern offline. Des weiteren sind die Wahlautomaten so programmiert, daß sie die Stimmen virtuell noch einmal mischen, so daß eine zeitliche Verbindung von Stimmabgabe und Registrierung nicht möglich ist. Wer ungültig wählen wollte, mußte zweimal hintereinander "votar" drücken, ohne vorher einen Kandidaten gewählt zu haben.

Nachdem die Wählerin ihren gedruckten Stimmzettel erhalten hatte, mußte sie diesen zusammenfalten und sich damit zur vierten Station begeben, der traditionellen Wahlurne. Dort deponierte sie ihren Stimmzettel.

An der fünften und letzten Station markierte ein weiteres Mitglied des Wahlvorstandes in der Regel den rechten kleinen Finger des Stimmberechtigten mit einer schwer abwaschbaren violetten Farbe.

Auszählung der Stimmen

Die Auszählung der Stimmen ging folgendermaßen vor sich: Zuerst wurde das Wahlregister fälschungssicher geschlossen, das heißt, in die leeren Unterschriftenfelder derjenigen, die nicht gewählt hatten, kam der Stempel "no ha votado" (hat nicht gewählt). Dann wurde ausgezählt, wieviel Stimmberechtigte an der Wahl teilgenommen hatten. Ein Techniker des CNE stellte mittels eines speziellen Schlüssels und eines Codes den Wahlautomaten aus und ließ die erste elektronische Akte ausdrucken. Die Leiterin des Wahlvorstandes mußte überprüfen, ob die Zahl der abgegebenen Stimmen mit der Anzahl der Wähler, die laut Wahlregister am Urnengang teilgenommen hatten, übereinstimmte. Erst dann wurde der Wahlautomat per Festnetz-Telefon oder Handy mit dem Zentralrechner des CNE verbunden, um das Ergebnis des Stimmbezirks zu übertragen. Falls das nicht klappte, mußte der örtliche CNE-Verantwortliche informiert werden.

Anschließend druckte der Wahlautomat eine Liste aller im Stimmbezirk abgegebenen Stimmen aus. Sie dienten der Kontrolle des Wahlergebnisses. Schon vor dem Urnengang war klar, daß in 53 Prozent aller Stimmbezirke eine Kontrolle der Wahlergebnisse stattfände, um das elektronische Wahlsystem zu überprüfen. Nachdem der Wahlautomat alle Stimmen ausgedruckt hatte, wurde die Urne geöffnet und die dort deponierten Stimmen mit den ausgedruckten verglichen. Da jeder Stimmzettel eine eigene Identifikationsnummer besaß, ließ er sich anhand der Liste verifizieren. Dieses Verfahren schloß aus, daß jemand aus der zuletzt ausgedruckten Liste Stimmen ausschnitt und in die Urne legte.

Am 5. Dezember 2006 lautete das vorläufige Endergebnis: Von 15 417 178 Wahlberechtigten hatten 11 542 841 (74,87%) ihre Stimmen abgegeben. 3 874 286 (25,12%) blieben der Wahl fern. Der CNE zählte 11 386 029 (98,64%) gültige und 156.812 (1,35%) ungültige Stimmen. Auf Hugo Chávez entfielen 7 161 367 Stimmen (62,89%). Für Manuel Rosales votierten 4 196 329 Wähler (36,85%).

Nach der Wahl stellten alle Wahlbeobachter fest, daß der Urnengang korrekt verlaufen war. Die erkannten Probleme entsprachen auch dem in Europa üblichen Maß.

Die von Chávez 2000 eingeführte Verfassung gestattet den Venezolanern, daß sie nach der Hälfte der Amtszeit des Präsidenten (und auch anderer gewählter Volksvertreter) ein Abwahlreferendum beantragen können. Dem Antrag müssen 20 Prozent der Stimmberechtigten zustimmen. Anschließend findet eine geheime Wahl statt. Um den Präsidenten abzuwählen, müssen seine Gegner eine Stimme mehr zusammenbringen als der Amtsinhaber bei seiner letzten Wahl auf sich vereinigen konnte. Im Fall von Chávez hieße das, die Opposition würde 7 161 368 Stimmen benötigen, um ihn seines Amtes zu entheben.