Venezuela

Sozialismus - eine Kampfetappe

Die Bedeutung der Kommunistischen Partei als revolutionärer Organisation

Carolus Wimmer ist Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Venezuelas, Sekretär für internationale Beziehungen und Abgeordneter des Lateinamerikanischen Parlaments

Die Frage nach der Bedeutung der Kommunistischen Partei ist nicht nur theoretischer Natur, sie ist im politischen Prozeß Venezuelas ein Thema von praktischer Aktualität. Das Thema stellt sich als Frage, warum sich die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) nicht der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) angeschlossen hat, zu deren Bildung der Präsident der Bolivarischen Republik Venezuela, Hugo Chávez Frías, aufgerufen hat. Es gab sogar Leute, die meinten, daß die Kommunistische Partei Venezuelas in diesem Prozeß verschwinden und auf ein Nichts reduziert werden würde, wenn sie dies nicht täte, da der Kampf um den Sozialismus »in den Händen der PSUV« bleiben würde. Das scheint ein offensichtlich logisches Argument zu sein, aber meiner Ansicht nach ist es das nicht. Denn die Kommunistische Partei Venezuelas kämpft für den Sozialismus und wird weiter für ihn kämpfen, unabhängig davon, was die Position der PSUV oder einer anderen Kraft ist, die eine Veränderung und Beseitigung des Kapitalismus anstrebt.

Produktivität und Fortschritt

Für die Kommunisten stellt der Sozialismus eine Etappe beim Übergang zu einer gerechteren Gesellschaft dar, die - unserer Ansicht nach - der Kommunismus ist. Deshalb sind wir Kommunisten die eisernsten und entschlossensten Kämpfer für den Sozialismus. Den Sozialismus zu erreichen und aufzubauen bringt uns unserem Ziel näher, das der Aufbau einer Gesellschaft ist, die noch fortgeschrittener ist als die sozialistische Organisation, nämlich des Kommunismus, der kommunistischen Organisation der Gesellschaft. Bildlich ausgedrückt: Unser Kampf für den Kommunismus braucht eine vorhergehende Etappe, den Sozialismus. Im Sozialismus wird die Organisation der Produktion und die gesellschaftliche Verteilung des Produzierten auf der Grundlage einer Formel organisiert, die lautet: »Jeder (produziere für die Gesellschaft) nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung (Bezahlung für seine Arbeit)«, dafür, was er geleistet oder produziert hat. Das ist die Grundlage für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Im Kommunismus ist die Entwicklung weiter fortgeschritten und die Formel lautet: »Jeder (produziere) nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Das setzt eine hohe Entwicklung der Gesellschaft, der Produktivität voraus, damit es möglich ist, die Bedürfnisse der Gemeinschaft zu befriedigen.

Zur ersten Stufe, zum Sozialismus, voranzuschreiten, erfordert eine Prämisse: die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Im Kapitalismus herrscht das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Die Arbeiter verkaufen ihre Arbeitskraft, ihre Kenntnisse, wofür die Besitzer der Produktionsmittel ihnen durch das Gehalt einen Teil des Produzierten bezahlen. Das Übrige bleibt als Mehrwert, den sich der Besitzer der Produktionsmittel aneignet und der die Grundlage für das Wachsen seines Reichtums darstellt. Darauf gründet sich die kapitalistische Gesellschaft.

Antagonistische Interessen

Diejenigen, die die Produktionsmittel haben, schließen sich zusammen, um diese gesellschaftliche Ordnung zu verteidigen, die es ihnen erlaubt, sich immer mehr zu bereichern. Und diejenigen, die ausgebeutet werden, schließen sich zusammen, um sich gegen diese Ausbeutung zu verteidigen und für eine andere gesellschaftliche Ordnung zu kämpfen, in der sie nicht mehr ausgebeutet werden. Die Ausbeuter kennen wir als die bürgerliche soziale Klasse, die Bourgeoisie, die ihre Interessen verteidigt und will, daß die Dinge bleiben, wie sie sind. Und diejenigen, die arbeiten und ausgebeutet werden, bilden die Arbeiterklasse, das Proletariat. Sie verteidigen ihre Interessen und wollen, daß sich die Gesellschaft verändert, daß das Privateigentum, die Ausbeutung und der Kapitalismus verschwinden.

Die Interessen beider Klassen sind antagonistisch. Deshalb kämpfen sie gegeneinander, in erster Linie darum, die Regierungsmacht über die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auszuüben. Das ist es, was unter dem Begriff Klassenkampf verstanden wird, und genau das sehen wir Marxisten-Leninisten als den Motor der Geschichte an. Denn nicht der Marxismus-Leninismus ist der Motor der Geschichte, sondern der Klassenkampf.

Der Marxismus-Leninismus, seine theoretischen Formulierungen, sind nur ein Instrument zur Interpretation der sich verändernden Realitäten, ein Instrument zur Interpretation und Orientierung für den Kampf, für das Studium des Klassenkampfes in bestimmten historischen Augenblicken. Deshalb ersetzt er den Klassenkampf nicht als Motor der Geschichte. Denn eben das ist der Marxismus-Leninismus: ein durch die Geschichte tiefgreifend bereichertes Instrument, das - gestützt auf die Dialektik - seine ständige Erneuerung ermöglicht.

Marx benutzte dieses Instrument zu seiner Zeit unter den damals herrschenden Bedingungen. Auch Lenin nutzte es zu seiner Zeit unter den damals herrschenden Bedingungen. Und heute dient es den Kommunistischen Parteien überall auf der Welt als Wegweiser für die Untersuchung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, der jeweiligen Entwicklung des Klassenkampfes und für die Formulierung ihrer vom Klassenkampf und der Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse ausgehenden Politik - im Interesse der unmittelbaren Kämpfe des Proletariats in jedem Land und mit Blick auf das Fortschreiten zum Sozialismus und Kommunismus.

Marxismus-Leninismus

Deshalb kann man nicht vom Marxismus-Leninismus als einem »Dogma« sprechen, ebensowenig wie von »Dogmatikern« und davon, daß der Marxismus-Leninismus »Vergangenheit« sei.

Der Marxismus-Leninismus ist nicht Vergangenheit, sondern er erneuert sich, er aktualisiert sich, er wird ständig entsprechend den Realitäten angewendet. Er ist dialektisch, dynamisch und interpretiert laufend die Realitäten des Klassenkampfes. Und davon ausgehend ergreifen wir Marxisten-Leninisten Partei für die Kämpfe des Proletariats gegen den Kapitalismus. Wir sind gegen alle Formen des Kapitalismus oder gegen alle gesellschaftlichen Formen, die den Kapitalismus hervorbringen.

Wenn, wie gesagt wurde, die neue Partei PSUV »nicht die Banner des Marxismus-Leninismus ergreift«, weil dieser ein Dogma sei, weil er Vergangenheit sei, dann kann das nicht befohlen werden, sondern diese Begründung müßte wissenschaftlich bewiesen werden, und das hat noch niemand getan und wird es auch nicht tun können, denn der Marxismus-Leninismus ist weder Vergangenheit noch ein Dogma.

Wenn die neue Partei PSUV den Marxismus-Leninismus nicht annehmen, nicht anwenden will, wenn sie ihn ausgrenzt, dann ist das die Angelegenheit derjenigen, die diese Partei bilden. Es ist wiederholt gesagt worden, daß in dieser neuen Partei die theoretischen und politischen Orientierungen, das Organisationsmodell usw. horizontal und kollektiv seien und von den Kandidaten für eine Mitgliedschaft diskutiert werden. Diese sollen in dem Prozeß der Bataillonsversammlungen1 zu Vollmitgliedern werden, und bei diesen Versammlungen sollen sie kollektiv die theoretische Doktrin, die politischen, gewerkschaftlichen usw. Linien, die Statuten, Organisations- und Funktionsformen der neuen Partei diskutieren und beschließen. Das ist nicht geschehen. Das bedeutet, die angekündigte horizontale Betrachtung und Diskussion stehen noch aus.

Jedenfalls gab es viele Aufrufe an die Kommunistische Partei Venezuelas, sich aufzulösen und der PSUV anzuschließen. Gab es diese, um uns danach zu sagen, daß wir unsere Identität als Kommunisten und Marxisten-Leninisten einfach aufgeben sollen? Genau das zeigt wirklich die Notwendigkeit der Existenz der Kommunistischen Partei Venezuelas als Partei der Arbeiterklasse, des venezolanischen Proletariats, als Garantin für die Anwendung des Marxismus-Leninismus in der Orientierung der Klassenkämpfe und des Kampfes für den Sozialismus. Es beweist die Notwendigkeit ihrer ideologischen, politischen und organisatorischen Stärkung, die Notwendigkeit des Aufbaus einer großen Kommunistischen Partei Venezuelas trotz aller Hindernisse.

Wenn wir das Thema aktualisieren wollen, können wir uns auf die Rede des Präsidenten Chávez vom 3. Januar 2008 beziehen, in der er nach einem Jahr selbstkritisch die Bedeutung der PCV und die Notwendigkeit des Aufbaus des Patriotischen Pols als Allianz zwischen der PSUV und der PCV anerkannt hat.

[1] Als Bataillone werden die Basisgruppen der PSUV bezeichnet. (Anm. d. Übers.)

Übersetzung: André Scheer