Venezuela

Was Human Rights Watch verschweigt

Bei der Lektüre des Venezuela-Berichtes der US-Menschenrechtsorganisation kommen einige Fragen auf. Ein Kommentar

Aus Neugier und dem Wunsch nach Wahrhaftigkeit heraus habe ich den umstrittenen Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch über Venezuela gelesen. Er wurde am 18. September vom Direktor dieser Organisation, Jose Miguel Vivanco, veröffentlicht. Vivanco wurde daraufhin des Landes verwiesen.

Dieses Schriftstück geht, denke ich, von Annahmen aus, die den gesamten Bericht zweifelhaft erscheinen lassen. Die 1999 vom Volk Venezuelas und der Regierung von Präsident Hugo Chávez verabschiedete Verfassung wird als notwendig, positiv und wertvoll angesehen. Es wird anerkannt, dass die vorhergehenden Regierungen korrupt waren, unmoralische Privilegien genossen, Monopolstellungen innehatten und tiefe Narben in der Gesellschaft hinterlassen haben.

Was der Bericht allerdings vergisst - und das lässt an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln - ist der Umstand, dass die Regierung Chávez von der Mehrheit des Volkes gewählt wurde und unterstützt wird. Sie hat einen politischen Wandel zugunsten der Benachteiligten und Gedemütigten eingeleitet, der durch diese neue Verfassung gestützt wird. Der Bericht verkennt ebenfalls, was dieser Wandel für elitäre Kreise der Gesellschaft bedeutet, die vorher auf Kosten des Volkes gelebt haben, die es beherrscht und manipuliert haben.

Der Bericht verkennt ebenfalls vollkommen, was der gnadenlose und aggressive Widerstand dieser Gruppe bedeutet. Er gibt diesen Gruppen per se Recht. Geht es bei Vivanco um die Opposition, geht alles mit rechten Dingen zu. Es gibt keine Missstände oder gar Korruption, und natürlich auch keinerlei Verpflichtung, zum Prozess der bolivarischen Revolution beizutragen. Es scheint gerade so, als ob die Opposition neu oder aus dem Nichts erstanden wäre. Tatsächlich entstammt sie den Lastern der Vergangenheit. Sie ist weit davon entfernt, den wahren Inhalt der Verfassung anzuerkennen.

Es ist sicher richtig, dass nicht alles, was die Regierung Chávez getan hat, gut oder richtig gewesen ist. Aber sie hat unendlich viel zugunsten des Volkes getan (von dem im Bericht übrigens nirgends die Rede ist). Sie hat sich dafür eingesetzt, die Privilegien und den Machtmissbrauch der alten Eliten zu bekämpfen. Dieser Machtmissbrauch und diese Privilegien mussten durch die Verfassung eingegrenzt werden. In dem Bericht wird kein Missstand dem Egoismus und den Exzessen der Opposition zugeschrieben, aber jedes Einschreiten der Regierung wird von vorneherein als negativ, repressiv und nicht vereinbar mit den Menschenrechten hingestellt. Objektive Zahlen und Fakten sucht man vergebens.

Zu glauben, dass die neue Situation in Venezuela - ebenso wie in Bolivien - einem unschuldigen demokratischen Willen entspringt, der einer Vorgeschichte der Dominanz und Unterdrückung entbehrt, ist naiv. Dabei ist gerade diese Vorgeschichte der Schlüssel zu den bestehenden Konflikten. Die von der neuen Demokratie und Verfassung Begünstigen begrüßen den Wandel. Aber diejenigen, die ihre früheren Rechte schwinden sehen, fühlen sich angegriffen und diskriminiert. Der Bericht von Human Rights Watch nun spricht sich dafür aus, Chávez all diese Diskriminierungen zu unterstellen. Er betrachtet nicht, wie die neue politische Lage und die Verfassung einen gesellschaftlichen Wandel begünstigen. Heute wendet sich der Staat mitunter gegen jene, die in der Vergangenheit immer und ohne je strafrechtliche Verfolgung befürchten zu müssen, andere diskriminiert haben.

Ich weiß nicht, wie sich Human Rights Watch zusammensetzt, wie ihre ideologische Ausrichtung ist oder wer dahinter steckt. Vielleicht ist es auch besser so. Aber ein einfacher Blick auf diesen Bericht genügt, um die ganze merkwürdige Absicht dieses Dokumentes zu erkennen. Alles Schlechte soll Präsident Chávez in die Schuhe geschoben werden. Das ist keine unparteiische und ausgewogene Analyse, sondern eine klare Haltung gegen die Ärmsten. Oder besser gesagt: die arm Gemachten.

Wozu aber braucht Venezuela einen Wandel und eine neue Verfassung, wenn alles beim alten bleiben soll?

Benjamin Forcano ist Schriftsteller und katholischer Theologe aus Spanien.


Der Originaltext erschien am 24. September 2008 bei der alternativen Nachrichtenagentur ALAI Amlatina. Sie finden ihn hier.