Venezuela

Ist der soziale Wandel in Venezuela unumkehrbar?

Wochenzeitung Freitag führt Interview mit schweizer Ex-Botschafter Suter

Es gibt Leute in Venezuela, die sagen, die gescheiterte neue Verfassung wäre ein erster Schritt zur Diktatur gewesen.

Man muss gewiss kritische Fragen stellen. Allerdings waren die Reformvorschläge dort kohärent, wo es um die Vertiefung der Partizipation ging. So gibt es seit zwei Jahren den parlamentarismo de la calle - den Parlamentarismus der Straße -, bei dem Abgeordnete ihre Vorschläge der Bevölkerung vorlegen und mit ihr diskutieren. Dies war in der neuen Verfassung festgehalten.

Ist denn ein Umdenken so schnell möglich?

Inzwischen ist den Menschen bewusst, dass sie mitreden können. Wie das Ganze in eine Form gebracht werden soll, damit es auch wirksam ist, darüber ist ein Lernprozess im Gange. In Venezuela versucht man, die vielfach beschworene Bekämpfung der Armut tatsächlich umzusetzen. Erstmals in der Geschichte des Subkontinents übernimmt ein Staat die Verantwortung für soziale Veränderungen, statt sie wie sonst üblich den nichtstaatlichen Organisationen zu überlassen.

Ist Venezuela bereits soweit, dass sich der Wandel nicht mehr rückgängig machen lässt?

Der ist weit vorangeschritten, aber noch nicht hundertprozentig sicher. Die Regierung hatte auch noch nicht genug Zeit. Die ersten drei Jahre nach der Wahl von Hugo Chávez 1999 stand sie in einem politischen Abwehrkampf. Chávez war blockiert - durch Streiks, den Putschversuch oder Aktionen zu seiner Abwahl. Erst als die Opposition ihren Widerstand aufgegeben hatte, konnte er mit der Arbeit beginnen. Das war im Frühling 2003, damals haben auch die misiones angefangen, die Sozialprojekte in den Kommunen. Inzwischen sind die Sozialreformen eine Tatsache. Selbst die Opposition engagiert sich heute für diese Reformen, will sie weiterführen, natürlich anders. Allein dies zeigt, dass Chávez nicht die falschen Grundfragen gestellt hat.

Ist die internationale Berichterstattung über Venezuela noch glaubwürdig?

Sie besteht in vielen Medien häufig aus Halbwahrheiten. Es wird nichts Falsches berichtet, denn natürlich gibt es Proteste oder auch Korruption, doch die andere Seite wird verschwiegen. So wird nicht gesagt, dass etwa Korruption ein Aspekt des sozialen Verhaltens ist, das nicht so schnell geändert werden kann - es aber Versuche gibt, dies zu überwinden. Freilich sind auch die nationalen, regierungstreuen Medien nicht sehr objektiv.

Walter Suter war von 2003 bis zu seiner Pensionierung im August 2007 Botschafter der Schweiz in Venezuela.

Das Interview führte Sonja Wenger

Quelle: Wochenzeitung Freitag