Bolivien / Politik

"Demokratie in tödlicher Gefahr"

Offener Brief von Danielle Mitterrand zur Situation in Bolivien

brief-mitterrand.jpg

"Demokratie in tödlicher Gefahr"
Danielle Mitterrand

Paris/La Paz. Europa hat auf grausame Weise erfahren, dass die Demokratie unablässig gelebt, erfunden und verteidigt werden muss. Das gilt für unsere demokratischen Länder wie auch in der übrigen Welt. Keine Demokratie ist wie eine Insel. Die Demokratien schulden sich vielmehr gegenseitigen Beistand. Daher rufe ich heute unsere politischen Führungen und unsere großen Presseorgane auf: Die junge bolivianische Demokratie befindet sich in tödlicher Gefahr.

Im Jahre 2005 wurden in Bolivien ein Präsident und eine Regierung mit einer breiten Mehrheit von mehr als 60 Prozent ins Amt gewählt, obwohl ein großer Teil ihrer potentiellen indigenen Wählerschaft nicht einmal in den Wählerregistern verzeichnet war, ja nicht einmal über einen zivilen Status verfügte. Die groben politischen Leitlinien dieser Regierung hatten sogar zuvor schon bei einem Referendum massive Zustimmung gefunden, darunter insbesondere die Nationalisierung der natürlichen Ressourcen mit dem Ziel einer besseren Verteilung sowie die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung.

Warum ist eine neue Verfassung in Bolivien so unerlässlich? Aus dem einfachen Grund, dass die alte aus dem Jahr 1967 stammt, als sich die indigenen Völker Lateinamerikas (die in Bolivien 75 Prozent der Bevölkerung ausmachen) vollständig von jeder Art staatsbürgerlicher Rechte ausgeschlossen sahen.

Die Arbeiten der bolivianischen verfassungsgebenden Versammlung sind aber beständig und von Anfang an durch die Manöver und den Boykott der alteingesessenen Oligarchien behindert worden, die es nicht akzeptieren, ihre wirtschaftlichen und politischen Privilegien zu verlieren. Die minderheitliche Opposition treibt ihren Zynismus auf die Spitze, indem sie ihre Ablehnung der an den Urnen getroffenen Entscheidung als Verteidigung der Demokratie verkaufen. Sie reagiert mit Boykott, Aggression auf der Straße, Einschüchterung der gewählten Verantwortlichen und sie tut dies in Fortsetzung der durch den Expräsidenten Sánchez Losada 2003 gegen unbewaffnete Zivilisten verübten Massaker. Der Aggressor selbst hat sich indes in die Vereinigten Staaten von Amerika geflüchtet, weil er noch immer strafrechtlich verfolgt wird.

Als Teil eines sorgfältig inszenierten Chaos leben die separatistischen Drohungen der reichsten Regionen des Landes wieder auf. Sie lehnen die demokratischen Spielregeln ab, weil sie für die ärmsten Gebiete aufkommen wollen.

Neofaschistische Aktivisten und paramilitärische Banden, die seitens der bolivianischen Großbourgeoisie und ausländischer Interessen finanziert werden, schaffen ein Klima der Angst innerhalb der indigenen Gemeinden. Wir sollten bedenken, zu welchen Zuständen dies in Kolumbien und Guatemala geführt hat, und wir sollten uns insbesondere an die chilenische Demokratie erinnern, die nach einem ebensolchen Destabilisierungsprozess am 11. September 1973 im Blut ertränkt worden ist.

Eine Demokratie kann auch durch Desinformation ermordet werden. Nein, Evo Morales ist kein Diktator. Nein, er ist auch nicht der führende Kopf eines Kartells von Kokainhändlern. Diese karikaturhaften Darstellungen werden ohne die geringste Objektivität in unseren Ländern verbreitet, als ein indigener Präsident und die wachsende Macht indigener Wahlbürger nicht nur für die lateinamerikanischen Oligarchien unerträglich sei, sondern auch für die westliche Presse. Um diese organisierte Lüge weiter zu entkräften, ruft Evo Morales zum Dialog auf, lehnt es ab, vom Einsatz der Armee Gebrauch zu machen und legt sogar sein Amt in die Waagschale.

Ich richte meinen Aufruf an die Verteidiger der Demokratie, an unsere führenden Persönlichkeiten, an unsere Intellektuellen, an unsere Medien.

Sollen wir darauf warten, dass Evo Morales dasselbe Schicksal erleidet wie Salvador Allende, um dann das Los der bolivianischen Demokratie zu beklagen?

Die Demokratie hat Wert für alle oder für niemanden. Wenn wir sie in unserer Heimat verteidigen, dann müssen wir sie überall dort verteidigen, wo sie bedroht ist. Es steht uns nicht zu - wie einige auf arrogante Weise vorgeben - sie anderen Nationen mit Waffengewalt aufzuzwingen; es ist hingegen unsere Aufgabe, die Demokratie bei uns zu Hause mit aller uns zur Verfügung stehenden Kraft zu schützen und gleichzeitig an der Seite derjenigen zu stehen, die ihren Nationen für sie eintreten.


Danielle Mitterrand, die Witwe des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Francois Miierrand, ist Gründerin und Präsidentin der politischen Stiftung France liberté mit Sitz in Paris. Der hier abgedruckte offene Brief erschien am 23. Dezember in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada.

Amerika21.de bedankt sich bei Klaus E. Lehmann für die Übersetzung.