Boliviens Regierungspartei MAS droht die Spaltung

Gewerkschaften und soziale Bewegungen halten eigenen MAS-Kongress ab. 20-Punkte-Plan an Präsident Arce überreicht. Fronten zwischen Arce- und Morales-Lager verhärten sich weiter

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Soziale Organisationen hatten zum Großen Rat "zur Verteidigung der Demokratie, des Landes und des politischen Instruments für die Souveränität der Völker" aufgerufen
Soziale Organisationen hatten zum Großen Rat "zur Verteidigung der Demokratie, des Landes und des politischen Instruments für die Souveränität der Völker" aufgerufen

El Alto/La Paz. Als Reaktion auf den von Parteichef und Ex-Präsident Evo Morales Anfang Oktober abgehaltenen Kongress der regierenden Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) haben zahlreiche soziale Organisationen der Basisbewegung "Pakt der Einheit" (Pacto de Unidad) eine Gegen-Veranstaltung mit Präsident Luis Arce abgehalten.

Je nach Quelle kamen zu der "Cabildo del pueblo" (Volksrat) genannten Versammlung am Dienstag mehr als eine Millionen Menschen aus dem ganzen Land nach El Alto, um ihre Solidarität mit der amtierenden Regierung von Arce und Vizepräsident David Choquehuanca zu bekunden.

Höhepunkt der Versammlung war die öffentliche Verlesung und Übergabe eines gemeinsamen Manifests der wichtigsten Gewerkschaften des Landes an Arce. Unter anderem der größte Gewerkschaftsbund der Arbeiter:innen (COB), der bolivianischen Landarbeiter:innen (CSUTCB) sowie der Nationale Bund der indigenen Bäuerinnen Boliviens-Bartolina Sisa, und damit drei Mitbegründerinnen der MAS, waren beteiligt.

Der 20-Punkte-Plan erklärt den MAS-Kongress von Parteichef Morales Anfang Oktober ablehnend als "Verrat an den sozialen Organisationen" und fordert die "gemeinsame Führung" zurück in die Hände der sozialen Akteur:innen. Neben der "Bildung einer politischen Übergangskommission" aus sozialen Bewegungen, die sowohl mit Blick auf die 200-Jahr-Feier 2025 als auch darüber hinaus eine Agenda des "Guten Lebens" erarbeiten soll, wird auch ein "echter MAS-IPSP-Kongress" unter Leitung sozialer und gewerkschaftlicher Organisationen gefordert, "um die grundlegenden Wurzeln des politischen Instruments wiederherzustellen". Der vollständige Name der MAS lautet Movimiento al Socialismo – Instrumento Político por la Soberanía de los Pueblos (MAS-IPSP), Bewegung zum Sozialismus – Politisches Instrument für die Souveränität der Völker.

Während Präsident Arce die Umsetzung des Manifests zusicherte und den gemeinsamen "Prozess des Wandels" beschwor, hagelte es aus den Reihen des "radikalen" MAS-Flügels um Morales umgehend Kritik. Senator Leonard Loza etwa bezeichnete die Versammlung als "Reinfall", es hätten nicht mehr als 50.000 Menschen teilgenommen und sie besäße aufgrund fehlender behördlicher Wahlbeobachtung keine Legitimität.

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David Choquehuanca und Luis Arce auf dem Cabildo
"Wir sind schon mehr": Der Cabildo del Pueblo steht klar hinter Präsident Arce und seinem Vize David Choquehuanca

Tatsächlich verweigerte das Oberste Wahlgericht Boliviens (TSE) die Entsendung von Beobachter:innen wegen eines Formfehlers. Die Organisator:innen des "Cabildo" hätten demnach mit ihrem Antrag vom 5. Oktober die Bearbeitungsfrist von zehn Werktagen nicht eingehalten.

Andererseits hat die Verfassungskammer des Gerichtshofs von Santa Cruz die Ergebnisse des MAS-Kongresses von Morales in dessen Heimatregion Cochabamba und somit seine "offizielle" Präsidentschaftskandidatur für Wahl 2025 vorläufig für ungültig erklärt, bis Ende Oktober eine finale Entscheidung gefallen ist.

Die Aberkennung der Legalität und der Vorwurf fehlender Repräsentanz sind dabei nur zwei von vielen verbalen wie juristischen Mitteln im mittlerweile offen geführten Machtkampf der Partei.

Insbesondere Morales befeuert durch immer neue Anschuldigungen gegen die sogenannte "Erneuerer"-Fraktion um Präsident Arce den internen Konflikt um die Zukunft der MAS. Neben dem Vorwurf der parteifinanzierten Organisation des "Cabildo" teilt der ehemalige Staatschef unvermindert gegen den Sohn des Präsidenten, Marcelo Arce, aus und beschuldigt ihn, auf Geheiß seines Vaters geheime Lithium-Geschäfte mit britischen Unternehmen wie auch mit einer Firma von Elon Musk vereinbart zu haben.

Während die Vizeministerin für Kommunikation, Gabriela Alcón, darauf verweist, dass Marcelo Arce bereits selbst beim Staatsministerium um offizielle Klärung des Falls gebeten habe und Energieminister Franklin Molina den Vorwurf als erledigt ansieht, hat nun der Generalstaatsanwalt Juan Lanchipa die Beschwerde von Morales zugelassen.

Es ist die nächste Eskalationsstufe einer seit längerem vergifteten Kommunikation, die die progressive Regierungspartei nach 13 Jahren unter Evo Morales (2006-2019) sowie nach dem Putsch und der Rückgewinnung der Demokratie unter Luis Arce 2019 weiter auseinanderbringt.

Die Spannungen, die sich bereits über die gesamte Regierungszeit von Arce erstrecken (amerika21 berichtete), finden in der Wiederwahl von Andrónico Rodríguez zum Senatspräsidenten ihren jüngsten Ausdruck und zeigen zugleich, dass der Streit längst die Funktionsfähigkeit der Partei tangiert.

Der Senator von Cochabamba, der durch seine Karriere im Verband der Kokabäuer:innen nicht nur geografisch, sondern auch politisch eng mit Parteichef Morales verbunden ist, wurde nur einen Tag nach dem "Cabildo" zum vierten Mal in Folge zum Chef des Senats gewählt.

Auf der anschließenden Pressekonferenz stellte er indes seine Haltung innerhalb der Partei klar: "Wir fangen an, unseren eigenen Bruder [Evo Morales] anzugreifen. Wir sind Brüder derselben Klasse. Ich halte es für sehr wichtig, dass alle Führungskräfte nachdenken und nicht einen der Grundpfeiler des Staates als den schlimmsten Feind betrachten".

Ana María Castillo wiederum, Senatorin des "Erneuerer"-Flügels, erkennt die Wiederwahl ihres Parteigenossen aus dem "radikalen" Lager nicht an und spricht von "fehlendem Konsens". "Wir betrachten sie als illegal und als einen schwerwiegenden Mangel an Respekt seitens des Genossen Andronico gegenüber der gesamten Versammlung." Neben dem expliziten Wunsch nach einer Frau als Senatspräsidentin seien sieben Senator:innen des Arce-Lagers der Abstimmung ferngeblieben, wodurch laut Castillo nur 13 der notwendigen 19 Vertreter:innen bei der Wahl anwesend waren.

Es bleibt nun abzuwarten, wie und wann der von den sozialen Organisationen geforderte "echte Parteikongress" stattfinden wird und ob beide "Flügel" sich zu einer Teilnahme bereit finden, um die Differenzen zu klären und die MAS als einheitliche Bewegung zu erhalten.