Temir Porras ist "Beauftragter für strategische Fragen" des venezolanischen Präsidenten. Er arbeitete vorher unter anderem als stellvertretender Minister unter Nicolás Maduro im Außenministerium, wo er für die Beziehungen Venezuelas zu Europa zuständig war. Während des Putschversuchs der Opposition im Jahr 2002 arbeitete er im Präsidentenpalast Miraflores und war dort zuständig für internationale Kontakte. Porras hat in Paris Internationale Politik studiert. Dieser Anfang Juni veröffentlichte Text wurde breit in der lateinamerikanischen Linken rezipiert.
Ungezwungenheit in der Diskussion und Disziplin in der Ausführung. Diese politische Haltung des Comandante Chávez ist heute nötiger denn je, da die Revolution sich großen Herausforderungen zu stellen hat und seit dem physischen Ableben ihres großen Anführers eine schwierige Phase durchläuft.
Die durch das Schicksal verursachte politische Unsicherheit hat sich durch komplexe ökonomische Prozesse zugespitzt und zum ersten Mal seit langer Zeit droht die soziale Basis der Revolution Risse zu bekommen.
Ohne Zweifel hat ein großer Teil der Bedrohungen, die sich über der bolivarischen Revolution zusammenbrauen, äußere Ursachen. Einmischung, Sabotage, Propaganda, Verschwörung... Alle diese Faktoren, die uns bereits verfolgen, seit Chávez sich dazu entschieden hat, unabhängig und frei zu regieren, ohne eine andere Macht als den Willen des Volkes, haben sich nun verschärft, da seine Abwesenheit uns in verschiedener Hinsicht geschwächt hat.
Trotzdem denke ich, dass wir uns im Moment auf unsere Fähigkeiten konzentrieren sollten, eigene Politiken zu generieren, die uns helfen, voranzuschreiten und uns zu stärken, anstatt den Fokus auf diejenigen zu richten, die versuchen uns abzulenken und zu verunsichern.
Zunächst, weil diese Bedrohungen immer bestanden haben und wir es zum großen Teil dank unserer inneren Stärke geschafft haben, sie in Zaum zu halten und zu besiegen. Während wir beschuldigt wurden, Diktatoren zu sein, haben wir die Demokratie weitergebracht, als wir als Ausbeuter beschimpft wurden, haben wir die Armut zurückgedrängt, während behauptet wurde, dass wir uns isolierten, gewannen wir mehr geopolitischen Einfluss denn je. Die bolivarische Revolution hat es von innen heraus geschafft, diese Verleumder zu besiegen und aus jedem Angriff einen weiteren Sieg davon zu tragen.
Zweitens, weil das venezolanische Volk - zum großen Teil bestehend aus guten Patrioten - sich bewusst ist, dass viele der Schwierigkeiten, denen es sich zu stellen gilt, mit uns selber zu tun haben und die Revolution danach beurteilt, ob sie fähig ist, ihre Erwartungen und Wünsche für eine bessere Gegenwart als die Vergangenheit und eine bessere Zukunft als die Gegenwart zu garantieren. Keiner dieser Venezolaner akzeptiert die Demütigung durch die US-Amerikaner und man ist sich einig, dass die Regierung die Würde des Landes zu verteidigen hat.
Dennoch wenden nur wenige ihren Blick in Richtung des US-Imperiums, wenn es darum geht, die Verantwortung für die Übel, die uns bekümmern, jemandem zuzuschreiben. Dasselbe gilt auch für die innere Destabilisierung. So unloyal und verschwörerisch die politische Rechte Venezuelas sein mag, so garantieren deren Aktivitäten doch keine Nachsicht für die Regierung, von der man erwartet, dass sie diese Verschwörung in Schach hält und gleichzeitig wirksame Politiken umsetzt. Keiner mit gesundem Menschenverstand, weder in Venezuela noch sonst wo, kann die Opposition zum Hauptverantwortlichen für seine Probleme machen.
Drittens, weil der Kern der Revolution der Traum einer anhaltenden nationalen Transformation ist; dass das Außergewöhnliche alltäglich wird; das in Gang setzen der gesamten Gesellschaft in Richtung höherer Ziele, aber in ständigen und spürbaren Erfolgen, die uns zeigen, dass sich das Weitermachen lohnt. Die bolivarische Revolution zielt auf ein Morgen, das in der Veränderung des Heute beginnt. Zudem ist Venezuela ein an Ressourcen reiches Land mit riesigen Möglichkeiten, in dem die Revolution Bewusstsein geweckt und damit die Erwartungen gesteigert hat, sodass die wachsenden Anforderungen des Volkes es der Revolution unmöglich machen, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Jeder Erfolg ist das Sprungbrett für einen neuen, noch größeren Erfolg und das nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ.
Venezuela soll weiterhin das größte öffentliche Schulsystem haben, das umfangreichste öffentliche Gesundheitssystem und den demokratischsten Zugang zu Technologie, aber es soll auch hervorragende Schulen und Universitäten errichten, beste ärztliche Leistungen garantieren sowie auch die schnellste Verbindung ins Netz auf dem internationalen Standard. Und das eine ist keine Ausrede dafür, das andere zu opfern.
Allerdings bildet die sehr komplexe wirtschaftliche Situation, die wir erleben, und ihre politische Auswirkungen, ein erhebliches Hindernis dafür, dass die Revolution die internen Fortschritte weiterhin gewährleisten kann, die in den vergangenen zehn Jahren ihre Stärke waren. Wir müssen alles daran setzen, damit wir unsere Fähigkeit, die Gegenwart zu formen, bewahren oder eher wiedererlangen können. Wir können nicht erlauben, dass eine vorübergehende Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen unserer Bürger und Zweifel an der Fähigkeit der neuen Führung der Revolution, die Geschicke des Landes zu führen, uns das hart erarbeitete Werk nehmen.
Aber um diese Aufgabe zu erfüllen, müssen wir paradoxerweise unsere Strategie im Lichte der Umstände untersuchen, die sich so schnell und so stark veränderten, dass sie es uns nicht erlaubten, sie richtig zu verarbeiten. Und diese Diskussion sollte offen und tiefgründig sein, so dass die unterschiedlichen Interessen, die Teil der bolivarischen revolutionären Bewegung bilden, sich friedlich äußern können, ohne dass ihre Einheit und ihr Zusammenhalt beeinträchtigt werden. Wieder geht es um Ungezwungenheit und Disziplin.
Ich für meinen Teil lege den Schwerpunkt auf drei grundlegende Punkte, an denen wir tätig werden sollten, an der Stelle eines Wendepunktes eine Änderung der strategischen Ausrichtung in möglichst kurzer Zeit:
1. Politisch: Die Führung von Präsident Nicolás Maduro stärken
Eine Klarstellung zu Beginn: Hier geht es nicht darum, eine nicht existierende Debatte darüber zu erfinden, ob ein angeblicher Madurismus den Chavismus ersetzen würde. Auf der einen Seite ist der Chavismus unser gemeinsamer historischer Ursprung und zum anderen gibt es so etwas wie einen Madurismus nicht, zumindest nicht als eine eigene Ideologie. Dies scheint offensichtlich, aber es lohnt sich dies zu betonen, damit wir keine Zeit in nutzlosen Diskussionen verschwenden.
Nun, es gibt nichts, was den Chavismus weniger charakterisiert, als die kollektive Führung. Eines der Vermächtnisse, welches uns Comandante Hugo Chávez bei der Ausübung der Politik hinterlassen hat, ist unbestrittenermaßen, dass die persönliche Führung in den komplexen Umständen unserer Revolution notwendig ist, dass sie ausgeübt und anerkannt werden muss. Sicherlich lässt sich Führung nicht anordnen, sie muss entstehen und sich festigen, und sollte etwas Natürliches an sich haben und viel Legitimität, aber Tatsache ist, dass der Chavismus eine starke persönliche Führung braucht. Und schließlich muss diese Führung durch physische Präsenz ausgeübt werden (auch diese Offensichtlichkeit sollte klar hervorgehoben werden). Einen historischen Führer und wichtige Quelle für die Inspiration zu haben, ist nicht genug; es braucht jemanden, der Tag für Tag den Kampf in dieser Welt führt und die politische Leitung übernimmt.
Zum Vergleich nehme ich ein etwas extremes Beispiel: Man könnte sagen, dass die tatsächliche Führung von Präsident Nicolás Maduro die geistige Führung des Comandante Chávez ebenso wenig zu ersetzen vermag, wie die Führung des Papstes in der katholischen Kirche die spirituelle Führung Gottes ersetzt...
Zunächst, das ist unbestritten, hat Comandante Chávez Nicolás Maduro zum politischen Leiter des Chavismus ernannt und die Mehrheit der Venezolaner (und offensichtlich auch die Mehrheit der militanten Chavisten) haben ihn demokratisch zu unserem Präsidenten gewählt. Es wäre ein schwerer Fehler, nicht alles auf die Festigung der Präsidentschaft Maduros zu setzen, da das Schicksal des Chavismus mit dem von Nicolás Maduro Hand in Hand geht und es ist klar, dass unsere einzige Option der Sieg ist. Im Falle einer Niederlage wird es keine zweite Chance geben.
Wenn mich jemand fragen würde, worin hier die Änderung in der strategischen Ausrichtung besteht, würde ich antworten, dass Nicolás Maduro bis jetzt zwar seine Rolle als Präsident wahrgenommen hat, jedoch nicht diejenige als politischer Anführer des Chavismus, mit dem Recht und der Pflicht, seine persönliche Sicht zum Aufbau der Revolution zu vermitteln und nicht nur das Vermächtnis des Comandante zu konservieren. Ich werde auf diesen Punkt später zurückkommen.
Allerdings muss sich die Führung des Präsidenten auf zwei gleichermaßen wichtige Säulen stützen.
Die erste haben wir bereits erwähnt, es ist die historische, deren Höhepunkt die Rede des Comandante Chávez vom 8. Dezember 2012 ist, in der er Nicolás Maduro zu seinem Nachfolger ernannte. Ich werde diesen offensichtlichen Punkt nicht vertiefen, aber ich möchte hervorheben, wie wichtig Symbole und Worte für Chávez waren. Als er in diesem schwierigen Moment seine Überzeugung als "voll wie der Vollmond, absolut, total" beschrieb, versuchte er nicht nur die Sprache zu verbildlichen. Im Bewusstsein des enormen Gewichts seiner Worte hat Chávez wiederholt und klar daraufhingewiesen, wer der Chef sein sollte, wenn die Zeit seines Abschieds kommen würde.
Auch hier hat er eine typisch chavistische Handlung ausgeführt. Chávez sprach nie über eine vorübergehende Situation oder ein kollektives Organ oder ähnliches, und sein Schweigen ist in dieser Hinsicht ebenso stark wie das, was er sagte. Schließlich bin ich zutiefst davon überzeugt, dass Chávez darum Maduro ernannt hatte, damit er, wie er selber, seine Führungsrolle übernehmen würde und dass der Chavismus dann daran arbeiten sollte, diese Führung zu stärken, da die Zukunft der Revolution davon abhängt.
Die zweite ist persönlicher Natur. Maduro kann nicht nur "Chávez’ Sohn" oder Garant seines Vermächtnisses sein, er muss der Leitung der Revolution seine persönliche Vision verleihen; dies aus einem offensichtlichen Grund: Chávez und Maduro sind zwei sehr unterschiedliche Männer, nicht nur was die politische Größe betrifft. Anders als Chávez ist Maduro ein Zivilist, außerdem hat er einen zutiefst urbanen Charakter, im Gegensatz zu Chávez ländlicher Herkunft. Vielleicht dank seiner gewerkschaftlichen Bildung hat er eine sehr pragmatische Sicht auf die Politik, in gewisser Weise weniger ideologisch oder doktrinär als Chávez.
Das bedeutet in keiner Weise, dass seine Überzeugungen weniger fest wären, sondern dass er in der Lösung von Problemen flexibler ist. All dies steht im Einklang damit, dass Maduro nicht der Vater einer ideologischen Strömung ist, wie es Chávez war, dass er aber der politische Kopf dieser Strömung ist und damit verpflichtet ist, sich den Umständen anzupassen.
Und wer würde leugnen, dass Pragmatismus eine äußerst notwendige Eigenschaft ist, in der komplexen Situation in der wir leben? Was wäre die Rolle eines Anführers, wenn nicht die, der Politik seine persönliche Vision zu vermitteln und den mehrheitlichen Willen mit dieser Vision zu verknüpfen?
Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der beste Weg, wie Präsident Maduro dem Beispiel von Chávez folgen kann, nicht der ist, ihn zu imitieren, sondern indem er die Führungsaufgabe so ausführt, wie es Chávez tat, mit seinen persönlichen Eigenschaften, so wie es erforderlich ist für die gegenwärtige Phase der Revolution. Den pragmatischen Maduro haben wir nötig. Als Chávez ihn als seinen Nachfolger auswählte, zeigte er einmal mehr, dass er mehr Visionär war als wir alle.
2. Wirtschaftlich: Strategische Ziele setzen und sie mit Pragmatismus erreichen
Die turbulenten Zeiten, welche die Revolution durchlebt, sind zu einem großen Teil wirtschaftlich bedingt. Tatsächlich war die Revolution die größte Welle der politischen Demokratisierung in der Geschichte Venezuelas. Was ihr aber eine überragende Außergewöhnlichkeit gibt, ist die Demokratisierung im Wirtschaftlichen und Sozialen, entgegen dem globalen Trend der zunehmenden Ungleichheit. Die bolivarische Revolution wurde unaufhaltbar, sobald es ihr gelang, diese Aufwärtsbewegung zu erzeugen und zum ersten Mal in der Geschichte gewann man das Vertrauen und die Sicherheit der unteren Gesellschaftsschichten Venezuelas.
Die fehlende Sorge um ein Morgen und das Vertrauen, dass die Zukunft für sich selber und seine Kinder besser sein würde als die Gegenwart, ist eine der solidesten Grundlagen, um darauf ein zutiefst republikanisches Projekt aufzubauen. Tendenziell steigt in den meisten Gesellschaften die politische Beteiligung parallel zum sozio-ökonomischen Aufstieg. Das kommt daher, dass Politik ein Luxus ist für die Menschen, welche in Angst und Sorgen um den morgigen Tag leben. Die bolivarische Revolution bannte diesen Fluch und machte die politische Beteiligung einer breiten Masse zugänglich, indem sie die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, in der die Mehrheit der Venezolaner lebte, zurückdrängte.
Heute lauert das Gespenst der sozialen Regression und es ist unerlässlich, dieses zu vertreiben. Und das Schlimmste ist, dass es nicht daran liegt, dass die bolivarische Regierung ihre Sozialpolitik geändert hätte; diese bleibt unverändert in Kraft. Paradoxerweise sind es die großen makroökonomischen Ungleichheiten, die sich gegen die sozialen Bemühungen der revolutionären Regierung stellen und dies bewirkt, dass die linke Hand gewissermaßen das zerstört, was die rechte Hand erbaute.
Und das ist es, was ich meine, wenn ich von pragmatischem Vorgehen spreche, weil es nicht darum geht, die zentralen politischen Leitlinien zu ändern, sondern kurzfristig geeignete Maßnahmen zur Erreichung der politischen Ziele zu ergreifen.
Die Revolution sollte mit allen Mitteln versuchen, Stabilität zu erzeugen und sie muss den direktesten Weg dafür finden, denn die Zeit arbeitet gegen sie. Makroökonomische Störungen, denen die venezolanische Gesellschaft unterliegt, zeigen schnelle und beträchtliche Auswirkungen im Leben der Venezolaner. Die Dinge mehr oder weniger gut und in unzureichenden Mengen oder einen Monat später zu machen, hat wichtige Auswirkungen.
Das beste Beispiel dafür ist die Inflation, deren Schäden unübersehbar sind. Egal wie viele Kontrollen und wirtschaftliche Maßnahmen wir ergreifen, wenn die Inflation am Ende des Monats bei fünf Prozent steht, sind es die Menschen und die Regierung, die verlieren. Denn die Rechnung kommt sofort und den einmal erreichten Lebensstandard wiederherzustellen ist viel langsamer und mühsamer, als ihn zu verlieren. Innerhalb weniger Monate können wir verlieren, was wir während Jahren aufgebaut haben und es wird Jahre dauern, sich zu erholen, wenn es uns gelingt, den Trend umzukehren.
Und genau darum geht es: Den Trend umzukehren und zwar schnell. Wachstum generieren, die Inflation auf ein überschaubares Niveau zurückdrängen, die Geld- und Währungspolitik rationalisieren, die eher dem Betrieb eines Casinos als dem einer Zentralbank gleicht und die Wirtschaft so zu lenken, wie sie heute ist und nicht wie wir sie möchten, in einer Welt, die noch nicht existiert.
Denn die kapitalistische Wirtschaft der Welt in der wir leben, sollte in einer Weise ausgenutzt werden, die sich nicht gegen die unmittelbaren Ziele der Revolution richtet (den materiellen Wohlstand erhöhen, das Wohnen, die Gesundheit und die Bildung demokratisieren, etc..), in einem Land, wo die große wirtschaftliche Bedeutung des Staates das Verhalten aller anderen Akteure bestimmt. Makroökonomische Stabilität, hohe Erdölpreise und eine wirkungsvolle Sozialpolitik und ehrlich gesagt nicht viel mehr, sind erforderlich, um in großen Sprüngen hin zu einer fortschrittlichen Gesellschaft voranzuschreiten. Ein wenig Pragmatismus und Effizienz sind ausreichend.
Makroökonomische Heterodoxie ist notwendig, um von der politischen Linken aus zu regieren: eine mutige Strategie für die Investition der internationalen Reserven haben, das Wachstum nicht opfern, um die Inflation zu beseitigen, ein Haushaltsdefizit wenn nötig in Kauf nehmen, um die Wirtschaftstätigkeit aufrecht zu erhalten, etc.. Aber das bedeutet nicht, dass man alle diese Dinge im Namen des Antikapitalismus unbeschränkt tun kann.
Die Reserven zunichte zu machen ist schlimmer, als zu viele anzuhäufen, zweistellige Inflationsraten ohne Wachstum sind sozial schädlich und Geld zu produzieren ohne Limit, heißt ganz einfach, dessen Wert zu zerstören. Die Wirtschaftspolitik mit Vernunft zu lenken, ist nicht gleichbedeutend mit Neoliberalismus - genau so wenig wie das Ausüben der Heterodoxie bis zur Irrationalität nicht gleichbedeutend ist mit Sozialismus.
Heute ist unser fortschrittliches Sozialmodell bedroht durch die Erschöpfung der verfügbaren Ressourcen aus den Erdöleinnahmen. Ohne weiteren Reichtum zu erschaffen, können wir das Tempo des gesellschaftlichen Fortschritts, den die Revolution erfordert, nicht aufrechterhalten. Angesichts dieser Perspektive bieten sich zwei Möglichkeiten an: Erstens, mehr Einkommen produzieren durch mehr Erdölförderung und zweitens, neuen Reichtum schaffen durch die Herstellung anderer Güter und Dienstleistungen.
Ein pragmatischer Ansatz besteht darin, die schnellsten Wege zu finden, um diese Ziele zu erreichen, ohne dabei unsere Prinzipien über Bord zu werfen, aber auch realistisch zu sein, was hier und jetzt möglich ist. Ich erinnere mich noch an die großartige Lektion in Politik, welche der uruguayische Präsident Pepe Mujica unserem früheren Minister für Landwirtschaft und Boden erteilte, als er ihm sagte, dass, während er damit beschäftigt sei, den Sozialismus in der Landwirtschaft zu errichten, sich die Venezolaner von transnationalen Konzernen importiertem Getreide ernährten.
Angesichts dieser harten Realität, fügte Pepe hinzu, würde er lieber Getreide und andere Lebensmittel essen, welche von einem venezolanischen Kapitalisten in Venezuela produziert werden, und so den Reichtum im Land erzeugen und der Nation Devisen sparen, anstatt von Importen abzuhängen. Das ist dann nicht Sozialismus, aber im Rahmen der Möglichkeiten, die wir im Moment haben, ist dies sicherlich besser als von Agrarkonzernen hergestellte Lebensmittel zu importieren.
3. Gesellschaftlich: Eine große Mehrheit aufbauen für tiefgreifende Veränderung
Es ist klar, dass der Chavismus seine politische Mehrheit erneut aufbauen muss, um wieder die dominierende Kraft zu sein. 50 Prozent plus eine Stimme sind sicherlich genug, um eine legitime Regierung zu bilden, aber nicht, um einen unaufhaltsamen Marsch in Richtung Sozialismus auszulösen...
Um unsere Gesellschaft friedlich und frei umzuwandeln, muss unsere Revolution die stillschweigende oder offene Unterstützung der überwiegenden Mehrheit unserer Landsleute haben. Dies bedeutet nicht, dass sie in der PSUV eingeschrieben sein müssen, aber unsere Institutionen und unsere Politik müssen auf die Wünsche der großen Mehrheit der Bevölkerung abgestimmt sein.
Dazu muss der Chavismus in den unteren Klassen (die sozio-ökonomischen Gruppen D und E), welche historisch gesehen seine Stütze sind, wieder überwältigend dominant sein, zudem muss er aber auch in der Mittelklasse (Gruppe C), welche von der Revolution stark erweitert wurde, eine solide Mehrheit erlangen. Die unteren Klassen sind natürliche Verbündete der Revolution, soweit sie ihnen eine Politik und soziale Rechte garantiert, die es ihnen ermöglichen, endgültig der Armut zu entfliehen und ihnen neue Wege eröffnet, um ein erfülltes und schönes Leben zu genießen.
Millionen von Personen, die der Armut entkommen, bedeuten durch logische Deduktion, dass die Mittelschicht (in einem bescheidenen Sinne) entsprechend zunimmt. Diese bemerkenswerte Tatsache, die uns mit Stolz erfüllen sollte, scheint manchmal Unbehagen in uns hervorzurufen, als ob wir uns von der ärmlichen Karikatur hätten überzeugen lassen, welche die Rechte von uns entwirft. Die Rechte, die behauptet, dass der Chavismus eine Nivellierung der sozialen Klassen nach unten anstrebt und versuchen würde, die Mittelklasse als "Kleinbürgertum" zu zerstören.
Die Ausbildung eines stabilen Mittelstandes, aufzufassen als eine breite zentrale Gesellschaftsschicht, die gut ausgebildet ist und einen sowohl qualitativ als auch quantitativ fortschrittlichen Lebensstandard genießt, dies muss das wichtigste Ziel der bolivarischen Revolution sein und bleiben. Dies in einer gerechteren und solidarischeren Gesellschaft zu erreichen, in der die Gemeinschaft der Menschen und nicht das Geld im Zentrum steht, muss das oberste Ziel sein.
Aber um dieses erhabene Ziel zu erreichen, muss dafür gesorgt werden, dass jede Aktion der revolutionären Regierung, egal auf welcher Stufe, darauf ausgerichtet ist, jeden Tag mehr Landsleute zu integrieren. Während die Wirksamkeit und Angemessenheit unserer Politik in allen Bereichen gesichert werden muss, sollten wir auch dafür sorgen, dass alles zerschlagen wird, was sich gegen die Verfassung dieser Mehrheit verschwört.
Es gibt zum Beispiel keinen objektiven Grund dafür, dass ein erheblicher Prozentsatz der venezolanischen Bevölkerung, vor allem in der Mittelschicht und oberen Mittelschicht, gegen die Revolution aufgehetzt und radikalisiert ist. Dass uns nicht alle unterstützen, ist selbstverständlich, nicht jedoch, dass viele zu jedem Wahnsinn bereit sind, um uns zu zerstören.
Die Ereignisse von 2014, die in den Stadtteilen der Mittelschicht entfesselte Gewalt gegen den Staat und gegen alles, was die Revolution repräsentiert, ist ein politischer Vorbehalt gegen die Gesellschaft, in der wir leben möchten. Sicherlich müssen Recht und Gesetz herrschen, aber darüber hinaus ist es notwendig, die Frustration, welche zu dieser Gewalt führt, politisch zu beenden, da das Venezuela, das die Revolution errichten möchte, "guarimbas" und politische Gewalt nicht auf Dauer akzeptieren kann. Es kann nicht darum gehen, für eine Minderheit zu regieren und noch weniger für eine gewalttätige, sondern wir müssen uns selber fordern, unseren Gegnern keinen Vorwand für eine Radikalisierung zu geben.
Der Mangel an diesem oder jenem Produkt ist kein legitimer Grund für politischen Terrorismus, aber Tatsache ist, dass wir etwas falsch machen, wenn es in einem reichen Land wie dem unseren zu einer Tortur wird, Shampoo oder Milch zu bekommen und davon nährt sich die Verschwörung und die Gewalt. Die Gewalttätigen zu entlarven, aber ihnen Ausreden für die Gewalt liefern, bedeutet – einmal mehr – mit der einen Hand das zu zerstören, was die andere aufgebaut hat.
Die großen Herausforderungen, denen sich das Land stellen muss, erfordern strategische Lösungen, deren Umsetzung in kurzer Zeit erforderlich ist. Die kurze Zeit, die seit dem Beginn der historischen Krise vergangen ist, die durch das Ableben des Comandante Chávez ausgelöst wurde, beginnt lang zu werden, wenn wir die politische Fähigkeit der Revolution, die Realität tiefgreifend zu verändern, erhalten wollen, und dies ohne auf seine einzigartige Führung zählen zu können.
Der Chavismus braucht einen Anführer und wie es sich Comandante Chávez vorgestellt hatte, vereinigt Präsident Nicolás Maduro die Voraussetzungen, um eine solche Führungsaufgabe auszuführen, in der die politischen Handlungen von Pragmatismus erfüllt sein müssen und in möglichst kurzer Zeit größtmögliche Fortschritte erzielt werden müssen. Der Chavismus muss die Festigung dieser Führung in die Hand nehmen und zulassen, dass sie sich mit ihrer eigenen Charakteristik zeigt.
Die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes erfordert, dass diese pragmatische Führung richtig ausgeübt wird und gleichzeitig ist sie eine Bedingung für die längerfristige Stärkung dieser Führung. Die venezolanische Gesellschaft steht unter wirtschaftlichen Spannungen, die geeignet sind, die Bemühungen der Revolution um Fortschritt und soziale Gerechtigkeit zu bremsen. Es ist notwendig, die soziale Regression zu bannen und das erfordert eine Rationalisierung unserer makroökonomischen Heterodoxie, nach dem Prinzip, dass ein Medikament nur dann gegen eine Krankheit wirksam ist, wenn es in angemessenen Dosen verabreicht wird. Außerdem muss sich unsere Wirtschaftspolitik, was Wachstum, Inflation, Wechselkurs, usw. betrifft, pragmatische Ziele setzen, die es erlauben, den Reichtum zu schaffen, der nötig ist, um die von der Revolution angestrebten Fortschritte zu erreichen.
Das Modell sollte sich darauf ausrichten, die Unterstützung einer großen sozialen Basis wiederherzustellen, einen wohlhabenden Mittelstand, welcher Interesse an einem gemeinschaftlichen Fortschritt der Gesellschaft hat. Die Revolution sollte sich das Ziel setzen, diese breite Basis der Unterstützung zu festigen, um tiefgreifende Veränderungen in unserer Gesellschaft voranzutreiben, die immer weniger mit dem Begleichen alter Schulden und immer mehr mit dem Erschaffen einer gemeinsamen Zukunft zu tun haben.
Um dies zu erreichen, muss die Revolution die massive Unterstützung der unteren Bevölkerungsschichten zurückerobern, ihre Strategie an die Entstehung der neuen Mittelschichten, die ihre Politik der Entwicklung und der sozialen Gerechtigkeit hervorgebracht haben, anpassen und die politische Gewalt und Anti-Politik demontieren, die sich in wichtigen Bereichen des Mittelstandes entwickelt.
So nehmen wir vielleicht die Revolution in der Revolution, wie Präsident Maduro sie nennt, in Angriff.