Refeudalisierung in Lateinamerika: Über soziale Polarisierung im 21. Jahrhundert

In der Weltregion, in der die soziale Schere am weitesten auseinandergeht, haben die Vermögen der Multimillionäre in den letzten fünf Jahren um 21 Prozent pro Jahr zugenommen

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Mit den Regierungen von Bolsonaro in Brasilien, Piñera in Chile, Macri in Argentinien und Duque in Kolumbien ist die Geldaristokratie selber an der politischen Macht
Mit den Regierungen von Bolsonaro in Brasilien, Piñera in Chile, Macri in Argentinien und Duque in Kolumbien ist die Geldaristokratie selber an der politischen Macht

Der kapitalismuskritischen Bewegung Occupy Wallstreet kommt das Verdienst zu, auf das oberste eine Prozent der reichsten Menschen hingewiesen zu haben. Die Nichtregierungsorganisation Oxfam hat diese weltweiten sozialen Ungleichheiten in dem Report "An Economy for the 99 Prozent" im Januar 2017 aufgegriffen und in die breitere politische Debatte eingebracht. (Oxfam 2017) Seit 2015 verfügt das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung über mehr Reichtum als der gesamte Rest der Weltbevölkerung. Und um diese nackten Zahlen auf reale Personen aus Fleisch und Blut zu übertragen, kann festgehalten werden, dass die reichsten 8 Männer (die Geschlechterzuordnung ist auch aussagekräftig) über genauso viel Reichtum verfügen wie die 3,6 Milliarden Personen, die die Hälfte der Bevölkerung weltweit ausmachen. Gerade in den letzten zwei Dekaden ist die Zahl der Milliardäre signifikant gestiegen. Im Jahre 2015 belief sich die Zahl der Milliardäre auf 2.473. (Wealth-X 2016: 2) Dabei hat der durchschnittliche Milliardär 2014 einen Netto Reichtum von 3,1 Milliarden US-Dollar. (Wealth-X 2016: 16)

Die Entstehung von Hyperreichtum ist ein weltweites Phänomen, das keineswegs auf den geographischen Norden – gebildet aus Nordamerika und Westeuropa – begrenzt ist. (Krysmanski 2015) Auch im geographischen Süden hat die Zahl der Milliardäre rasant zugenommen. Das gilt in den letzten Jahrzehnten in besonderem Maße für Mittel-, Südamerika und die Karibik. In Lateinamerika hat es 2014 laut Wealth-X die weltweit größte Zuwachsrate an Milliardären gegeben.

Zudem ist der Hyper-Reichtum in Lateinamerika noch stärker ausgeprägt als im Rest der Welt. Die lateinamerikanischen Milliardäre sind im Gegensatz zu ihren Standesmitgliedern in anderen Weltregionen überdurchschnittlich reich. Mexiko hat mit 6,2 Milliarden US-Dollar das weltweit höchste Durchschnittsvermögen für Milliardäre, was allerdings vor allem auch auf den Hyperreichtum von Carlos Slim zurückzuführen ist. An zweiter Stelle der Länder der weltweit reichsten Milliardäre liegt dann Brasilien, mit einem durchschnittlichen Reichtum von 5,2, Milliarden US-Dollar.

Diese historisch nie dagewesene extreme Kluft zwischen vielen Armen und "Durchschnittsverdienern" einerseits sowie einer Handvoll Hyperreichen andererseits wirft die Frage auf, ob die herkömmlichen soziologischen Modelle der sozialen Ungleichheit und Schichtung hier noch aussagekräftig sind. Mit nüchternen statistischen Zahlen ist zu argumentieren, dass die Reichtumskonzentration nach der Krise des Fordismus mit seinen wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen, dem Kollaps der Sowjetunion und mit dem weltweiten Aufstieg des Neoliberalismus rasant zugenommen hat. In Hinblick auf die USA hat der Ökonom Thomas Piketty gezeigt, dass in den letzten 30 Jahren das Einkommen der unteren 50 Prozent nicht gestiegen ist, während das Einkommen des 1 Prozent der Topverdiener um das 300-fache angewachsen ist. (2014) Ähnliches lässt sich auch in Lateinamerika beobachten. In der Weltregion in der die soziale Schere am weitesten auseinander geht haben die Vermögen der Multimillionäre allein in den letzten fünf Jahren um 21 Prozent pro Jahr zugenommen.

Damit nähert sich die Morphologie der Sozialstruktur in vielen Ländern in Bezug auf soziale Ungleichheit wieder der historischen Periode des Ancién Regime in Westeuropa an. Am Vorabend der Französischen Revolution bestand die ständische Gesellschaft Frankreichs zu 1 bis 2 Prozent aus dem Adel, zu einem Prozent aus dem Klerus, und zu circa 97 Prozent aus dem Dritten Stand. Dieses oberste 1 Prozent des Ancién Regime konzentrierte 50 bis 60 Prozent des Einkommens auf sich. (Piketty 2014: 313, 330) – dies gleicht auf frappante Weise den Zahlen heutiger Ungleichverteilung in der Weltgesellschaft. Allein in Hinblick auf diese extrem polarisierte Form der Sozialstruktur, bei der das demokratische und bürgerliche Versprechen von Gleichheit aufgegeben wurde, kann von einer markanten Tendenz zur Refeudalisierung gesprochen werden.

Die Tendenz zur Refeudalisierung der Sozialstruktur in Lateinamerika

In Lateinamerika hat diese Tendenz zur Refeudalisierung der Sozialstruktur tiefe Wurzeln im kolonialen Erbe und wurde zudem durch verschiedene historische Konjunkturen – wie der neoliberalen Wende der 1980er und 1990er – vertieft. In den 1990er Jahren lag der Gini-Koeffizient1 der Einkommensverteilung in Lateinamerika bei 0,522, während er in Westeuropa bei 0,342 und in Asien bei 0,412 lag. Damit ist die Ungleichverteilung von Einkommen in Lateinamerika im Vergleich zu anderen Weltregionen am höchsten. Das reichste Zehntel der Haushalte erzielte 48 Prozent des gesamten Einkommens, während das unterste Zehntel gerade einmal 1,6 Prozent erzielte. (de Ferranti et al. 2004) Obwohl soziale Ungleichheit eine länderübergreifende Konstante in Lateinamerika darstellt, lassen sich regionale Unterschiede erkennen. Während in den 1990er Jahren Länder wie Brasilien, Chile und Kolumbien sich durch die größte soziale Ungleichheit auszeichneten, gehörten Uruguay, Costa Rica und Venezuela zu jenen Ländern Lateinamerikas, in denen die Einkommensverteilung der Haushalte ausgewogener war. Die Sozialwissenschaftler Alejandro Portes und Kelly Hoffman haben einen der wenigen Versuche unternommen, die Klassenzusammensetzung ausgewählter lateinamerikanischer Gesellschaften genauer zu analysieren. Für sie besteht die herrschende Klasse aus den Segmenten der Kapitalisten, der Führungskräfte und der leitenden Angestellten. Für 2000 kommen sie zu dem Ergebnis, dass die herrschende Klasse einen Anteil von 5,2 Prozent (in Brasilien) und 13,9 Prozent (in Venezuela) der Gesamtbevölkerung ausmacht. Das oberste Segment der herrschenden Klasse, die Kapitalisten, besteht dabei aus 0,85 Prozent (in Panama) bis 2,2 Prozent (in Kolumbien) der Gesamtbevölkerung. Dieses oberste Segment der herrschenden Klasse Lateinamerikas entspricht somit der Gruppe, die wir hier in Anlehnung an die weltweite Debatte zu sozialer Ungleichheit das 1 Prozent genannt haben.

Soziale Ungleichheit im 20. Jahrhundert

Im Folgenden soll nun überblickshaft ausgeführt werden, wie sich diese Tendenz zur Refeudalisierung in Lateinamerika in den letzten Jahren konsolidierte. Zuvor soll jedoch ein kurzer Überblick über die jüngere Wirtschaftsgeschichte und die Entwicklung sozialer Ungleichheit gegeben werden. (vgl. hierzu auch Kaltmeier 2013, Boris et al. 2008, Thorp 1998) In Lateinamerika kam es im Zuge der Politik der importsubstituierenden Industrialisierung und dem Ausbau staatlicher Bürokratie der 1940er Jahre zu einem Anwachsen der Mittelschicht, in der sich Beamte, Selbstständige und formale Arbeiter wiederfanden. Zu nennen sind hier die nationalen Projekte von Juan Perón in Argentinien, Víctor Raúl Haya de la Torre in Peru, Getúlio Vargas in Brasilien sowie von Lázaro Cárdenas in Mexiko. Dieses gesellschaftliche Entwicklungsmodell hatte bis in die 1970er Jahre mit regionalen Abweichungen lateinamerikaweit Bestand.

Mit dieser Industrialisierungspolitik ist das Anwachsen einer urbanen Arbeiterklasse festzustellen. Bereits in den 1960er Jahren war der Großteil der ökonomisch aktiven Bevölkerung in Lateinamerika nicht mehr in der Landwirtschaft tätig. Stattdessen stand in der Phase zwischen 1960 und 1980 das Industrieproletariat demographisch und politisch in seinem Zenit. Politisch drückte sich dies in einem zunehmenden Organisationsgrad v.a. in Gewerkschaften aus. Dennoch ist festzuhalten, dass das Industrieproletariat – gerade auch im Vergleich zu den industriellen Entwicklungsprozessen in den USA – relativ klein blieb. Stattdessen ist die Zusammensetzung der Arbeiterklasse historisch durch einen hohen Anteil an informellem urbanem Proletariat gekennzeichnet, das v.a. von nicht formellen Arbeitsbeziehungen lebt. (Portes 1985) In den ländlichen Regionen wurden die quasi-feudalen Abhängigkeitsverhältnisse, die durch Hacienda und andere Formen des Großgrundbesitzes bestimmt waren, im Zuge der Agrarreformen der 1960er und 1970er aufgelöst. Allerdings führten diese Agrarreformen nur zu einer äußerst begrenzten Umverteilung von Land. Und hatten damit kaum sozialstrukturell wirksame Effekte. Stattdessen kam es in den meisten Fällen zu einer Modernisierung der Besitz- und Ausbeutungsstrukturen auf dem Lande, was in einer zunehmenden Semi-Proletarisierung der Bauern, die mit Land-Stadt-(Pendel-)Migration einhergeht. Und so galt Lateinamerika bereits seit den 1960er Jahren als die Region mit der weltweit höchsten sozialen Ungleichheit. (Deininger und Squire 1996, Tabelle 5)

Neoliberale Polarisierungen

Die ersten Ansätze zur Ausbildung einer Mittelschicht seit den 1940ern wurden dann auf Grund der neoliberalen Strukturanpassungen der 1980er Jahre zunichte gemacht. Es kann von einer wahren Pulverisierung der Mittelschicht und auch der formal-beschäftigten Arbeiterklasse gesprochen werden. (Boris 1998) Ende der 1990er Jahre war nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bereits die Hälfte der ökonomisch erwerbstätigen Bevölkerung in Lateinamerika im informellen Sektor tätig. Dies ist auf die neoliberale Politik der Privatisierung sowie die Förderung des Kleinstunternehmertums zurückzuführen.(Portes und Hoffman 2003: 50) Spiegelbildlich zu dem Anwachsen des informellen Proletariats hat in den 1990er Jahren der Anteil der staatlich Beschäftigten ebenso abgenommen, wie der Anteil der formal beschäftigten Arbeiter. Ende der 1990er hatte sich die Sozialstruktur dermaßen polarisiert, dass sie der zweigteilten Gesellschaft der Kolonialzeit glich.

Ein besonders markantes Beispiel für den rasanten sozialen Abstieg der Mittelklasse stellt die Veränderung der Sozialstruktur in Argentinien in Folge der Krise von 2001 dar. Mit dem Ende der Konvertibilität von Dollar und Peso kam es zu einer galoppierenden Inflation und Entwertung von Sparguthaben und einem Rückgang der Wirtschaftskraft um etwa 20 Prozent. Die kleinen und mittleren Unternehmen gerieten in eine tiefgreifende Krise, so dass viele von ihnen geschlossen werden mussten. (Svampa 2008: 53) In diesem Moment stürzten große Teile der Mittelschicht sozio-ökonomisch in das Prekariat, wenngleich sie noch über ein hohes kulturelles Kapital verfügten. Dieser Abstieg der Mittelklasse in die Unterschicht wurde in der sozialwissenschaftlichen Literatur als "Neue Armut" beschrieben. (del Cueto und Luzzi 2010: 36). Doch gab es nicht nur Opfer der Krise. Die Oligopole im Dienstleistungs- und im Finanzsektor konnten profitieren. Während der Anteil der traditionellen Geschäfte im Zeitraum von 1984 bis 2001 von 57 Prozent auf 17 Prozent sank, erhöhten die Supermärkte ihren Anteil von 27 Prozent auf 53 Prozent (Svampa 2008: 55)

Der rosarote Fahrstuhl: Sozialstruktur im "Pink Tide"

Signifikante Veränderungen in der Sozialstruktur gab es dann erst zum Milleniumwechsel. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kam es in nahezu ganz Lateinamerika und der Karibik zu einer erstaunlichen Konjunktur von links-orientierten Regierungen, die eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik proklamierten. Höhepunkt dieser Konjunktur des "Pink tide" war Mitte der 2000er mit den Regierungen von Hugo Chávez in Venezuela, Ignacio Lula da Silva in Brasilien, Rafael Correa in Ecuador, Néstor Kirchner in Argentinien und Evo Morales in Bolivien. Mit diesen Regierungen kam es zu einer aktiveren Sozialpolitik, die gerade bei der Bekämpfung von Armut Erfolge vorweisen konnte. Im Kontext einer günstigen ökonomischen Konjunktur mit hohen Wirtschaftswachstumsraten konnten die Linksregierungen die Sozialausgaben anheben und höhere Mindestlöhne durchsetzen. Dies führte zu einer enormen Aufwärtsmobilität in die Mittelschicht, während die ärmeren Bevölkerungsgruppen von besonderen Unterstützungsmaßnahmen profitierten. Selbst in Chile, das aufgrund der Kontinuität neoliberaler Wirtschaftspolitiken, eher als moderater Vertreter des "Pink tide" gilt, griffen v.a. unter der Regierungszeit Michelle Bachelets die sozialpolitischen Programme. Während die soziale Ungleichheit in den 1990er Jahren weiterhin anstieg, und sich ein harter Armutskern um 20 Prozent der Bevölkerung ausbildete, gelang es dem chilenischen Staat in den 2000ern die Armutsraten signifikant zu senken. Von 2003 auf 2006 verringerte sich die Armutsrate um 5 Prozent von 18,7 auf 13,7 Prozent. 2013 lag die Armutsrate dann nur noch bei 7,8 Prozent. (Larrañaga und Rodríguez 2015: 17), was auf eine zunehmend aktivere auf Umverteilung bedachte Sozialpolitik zurückzuführen ist.

In einer Studie zu Wirksamkeit der heterodoxen Wirtschaftspolitik der Linksregierungen sprechen die Sozialwissenschaftler Francesco Bogliacino und Daniel Rojas von einem "Chaávez effect", der Umverteilungsmaßnahmen wieder hoffähig machte. (2017: 31) Und der Politikwissenschaftler Hans-Jürgen Burchardt bilanziert: "Während die globale Finanzkrise die etablierten Industrienationen erschütterte, erlebte Lateinamerika ein Wirtschaftswunder. Nicht wenige Wissenschaftler und internationale Organisationen, die unter dem Stichwort 'Ressourcenfluch' jahrzehntelang das Scheitern einer rohstoffbasierten Entwicklung prognostiziert hatten, hoben nun die Potenziale dieses demokratischen Neo-Extraktivismus hervor."(2016: 7)

Trotz aller Erfolge steht die Nachhaltigkeit der sozialpolitischen Unterstützungsprogramme der Linksregierungen noch auf dem Prüfstand der Geschichte. Es zeichnet sich ab, dass die Verringerung der sozialen Ungleichheit auf der Verringerung der Armutszahlen beruht. Dies konnten die Linksregierungen zum großen Teil aber nur auf Grund von staatlichen Förderprogrammen erreichen, deren Finanzierung auf einer günstigen Wirtschaftskonjunktur basierte. Allerdings gab es kaum signifikante Maßnahmen zur gesellschaftlichen Umverteilung von Reichtum. Finanziert wurden die staatlichen Programme im Zuge des sogenannten Neo-Extraktivismus durch Einnahmen, die aus dem gesteigerten Export von Rohstoffen – von Erdöl über Soja bis hin zu Palmöl – erfolgten. Im seit den 2010ern einsetzenden Preisverfall für Rohstoffe und der damit einhergehenden ökonomischen Krise, scheinen nun ganze Segmente, die in den letzten Dekaden aufgestiegen sind, wieder in die Unterschicht abzufallen.

Umgekehrt sind die oberen 10 Prozent kaum vom sozialen Abstieg betroffen. Auch die Periode der Linksregierungen, die die konservativen Presse dazu brachte, das im Kalten Krieg vielfach bemühte Schreckensbild eines gleichmacherischen Kommunismus an die Wand zu malen, stellte für die Geldaristokratie keine Bedrohung dar. Paradoxerweise stieg laut einer Erhebung des Finanzdienstleisters Capgemini, der bestimmt nicht linker Umtriebe verdächtigt werden kann, die Anzahl der Milliardäre gerade in der Amtszeit der Linksregierungen massiv an. So ist von 2008 auf 2016 eine Zunahme der Superreichen (oder technokratisch: high-net-worth individuals, HNWI) in Lateinamerika von knapp 420 auf fast 560 festzustellen. (Capgemini 2017) Selbstverständlich beschränkt sich die Konzentration von Reichtum nicht allein auf die Milliardäre. Allein in den sieben lateinamerikanischen Ländern leben mehr als 500.000 Millionäre. Dieses Ranking der Millionäre wird von Brasilien, mit fast 200.000 Millionären und Mexiko (164.000) angeführt, gefolgt von Chile mit knapp 45.000 Millionären.

Wealth-X erklärt diesen Anstieg der Anzahl der Milliardäre in der Region durch demographische Umbrüche, sprich durch Vererbung. Lateinamerika ist die Region in der die Milliardäre das höchste Durchschnittsalter haben, so dass hier bereits in den letzten Jahren Reichtumtransfers an die folgende Generation stattgefunden haben. Auf diese Weise hat sich die Anzahl der Milliardäre erhöht, ohne dass jedoch das Gesamtvermögen zugenommen hätte. (2014: 8-9) Diese Übertragung von Vermögen auf die Folgegeneration weist auf ein Grundproblem vieler lateinamerikanischer Gesellschaften hin, das auch in der Phase der links-orientierten Regierung nicht effektiv angegangen wurde: Die unzureichende oder gar ganz fehlende Erbschaftssteuer. Burchardt benennt die Versäumnisse der Linksregierungen während der wirtschaftlichen Boom-Phase genau: "Auch während der Boomphase wurden keine tief greifenden Umverteilungsmaßnahmen umgesetzt. Das Steuersystem wurde kaum angetastet. Die regionale Besteuerungsquote ist nur halb so hoch wie in Europa, die meisten Steuern sind stark konjunkturabhängig oder wie die Umsatzsteuer regressiv – belasten also besonders die einkommensschwache Bevölkerung. Für die Wirtschaftselite hingegen bleibt Lateinamerika eine Steueroase: Die Vermögensbesteuerung hat sich weiter verringert und trug 2013 gerade einmal 3,5 Prozent zu den Gesamtsteuereinnahmen bei. Insgesamt liegen die steuerlich bedingten Umverteilungseffekte regional unter zehn Prozent (Deutschland: circa 40 Prozent). Einzelne Steuerreformen wie in Argentinien oder Ecuador versandeten oder scheiterten." (2016: 7)

Doch ist das Erklärungsmodell der Erhöhung der Anzahl der Milliardäre durch Erbe nicht ausreichend, um die zeitgenössischen Entwicklungen in diesem Gesellschaftssegment zu erklären. So ist für den Zeitraum von 2000 bis 2008 für Lateinamerika festzuhalten, dass nicht nur die Anzahl der Milliardäre stieg – was die Erbteilungs-These stützt – sondern auch das verfügbare Vermögen. Während die HNWI in Lateinamerika noch im Jahre 2000 über ein Privatvermögen von 3,2 Billionen US-Dollar verfügten, so waren es 2008 bereits 5,8 Billionen US-Dollar. Weltweit weist Lateinamerika in diesem Zeitraum mit 81 Prozent mit Abstand die höchste Rate des Zuwachses an Milliardärs-Vermögen auf (gefolgt vom Nahen Osten mit 40 Prozent). (Beaverstock 2012: 382)

In Bezug auf die nationale Verteilung der Milliardäre in Lateinamerika gibt es indes signifikante Unterschiede. Nehmen wir als Referenzpunkt das Jahr 2014: Brasilien ist mit 61 Milliardären das Land mit den meisten Milliardären, gefolgt von Mexiko mit 27 und Chile mit 21. Eine ähnliche regionale Verteilung ist auch in Hinblick auf die Millionäre in Lateinamerika auszumachen. Mit Abstand sind in Brasilien und Mexiko die meisten Millionäre in Lateinamerika zu finden, gefolgt von Chile, Kolumbien, Argentinien und Peru. Weniger Millionäre finden sich in den zentralen Andenländern wie Ecuador und Bolivien, den Guayanas sowie in dem für sein Sozialsystem bekannten Uruguay.

Während es in den erstgenannten Ländern tiefe historische Wurzeln bei der Ausbildung einer Geldaristokratie gibt, so unterlagen einzelne Länder der Region auch rasanten historischen Konjunkturen. In den Bermudas beispielsweise erhöhte sich die Anzahl der Milliardäre von 2013 auf 2014 von 4 auf 7. Damit hat diese Insel – nach Liechtenstein – die weltweite höchste räumliche Konzentration von Milliardären. Keiner dieser Milliardäre ist jedoch auf den Bermudas geboren worden. Hier basiert die extreme Konzentration von Reichtum weniger auf endogenen Dynamiken, sondern auf Zuwanderung.

Weitere Dimensionen der Refeudalisierung

Für die jetzt anstehende kritische und solidarische Aufarbeitung des "Pink tide" und der von den Linksregierungen hausgemachten Fehlern steht aus der Perspektive der Refeudalisierungsthese die fehlenden Umverteilungsprogramme gesellschaftlichen Reichtums an erster Stelle. Dies ist ein Aspekt, der gerade auch für die noch amtierenden Linksregierungen ‒ zu denken ist an Mexiko unter der López Obrador-Regierung – nicht zu vernachlässigen ist. Doch die Zeichen stehen lateinamerikaweit schlecht. Mit den Regierungen von Macri in Argentinien, Piñera in Chile – beides übrigens Milliardäre – sowie Bolsonaro in Brasilien und Duque in Kolumbien ist die Geldaristokratie selber an der politischen Macht. Hier sind Initiativen hin zu sozialer Gerechtigkeit kaum zu erwarten, stattdessen ist eine weitere Tendenz zur Umverteilung von unten nach oben abzusehen. Ein Vorbild hätten sie in der Steuerreform Donald Trumps. Und bisher ist in Lateinamerika nicht abzusehen, dass die Milliardäre selbst die systemischen Probleme der extremen Ungleichheit erkennen, und wie 400 US-amerikanische Milliardäre argumentieren. Diese hatten sich 2017 gegen die Abschaffung der Erbschaftssteuer ausgesprochen und gewarnt: "Es ist weder klug noch gerecht, Reichen auf Kosten von arbeitenden Familien weitere Steuernachlässe zu gewähren." (zitiert nach Taz 13.11.2017) Das mag ein PR-Schachzug gewesen sein, aber er zeigt, dass die Debatte um die neue Geldaristokratie in den USA angekommen ist. In Lateinamerika ist das nur eingeschränkt der Fall. Das ist umso besorgniserregender, als dass wir es zudem mit einer Verdoppelung ökonomischer Macht in politischer Macht zu tun haben, die es vermag, demokratische Prinzipien in Frage zu stellen. Die Geldaristokratie beeinflusst nicht nur die Politik über Stiftungen und Think Tanks, sondern sie stellt selber den Präsidenten der Republik. Hinzu kommt, dass die Lebenswelten des "1 Prozent" sich zunehmend von denen der Mehrheitsbevölkerung entkoppeln. Die kosmopolitischen Superreichen konzentrieren sich in den chicen Vierteln der lateinamerikanischen Metropolen, wobei die sozialräumliche Polarisierung zunehmend in eine Selbst-Segregation umschlägt, die den wehrhaften Burgen im europäischen Feudalregime nicht unähnlich ist.

Literatur

Beaverstock, Jonathan (2012): The Privileged World City: Private Banking, Wealth Management and the Bespoke Servicing of the Global Super-rich. In: Ben Derudder, Michael Hoyler, Peter J. Taylor und Frank Witlox (Hg.): International Handbook of Globalization and World Cities. Northhampton, S. 378-389.

Bogliacino, Francesco; Rojas Lozarno, Daniel (2017): The evolution of inequality in Latin America in the 21st century: What are the patterns, drivers and causes?. In: GLO Discussion Paper 57. Online verfügbar unter http://hdl.handle.net/10419/156723.

Boris, Dieter et al. (2008): Sozialstrukturen in Lateinamerika: Ein Überblick. Wiesbaden.

Burchardt, Hans-Jürgen (2016): Zeitenwende? Lateinamerikas neue Krisen und Chancen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2016, S. 4-9.

Capgemini (2017): World Wealth Report. Latin America. Online verfügbar unter http://www.worldwealthreport.com/reports/population/latin_america.

De Ferranti, David et al. (2004): Inequality in Latin America. Breaking with History? Washington DC.

Deininger, Klaus; Squire, Lyn (1996): A New Data Set Measuring Income Inequality. In: The World Bank Economic Review 10 (3), S. 565-591.

Del Cueto, Carla; Luzzi, Mariana (2010): Betrachtungen über eine fragmentierte Gesellschaft. Veränderungen der argentinischen Sozialstruktur (1983-2008). In: Peter Birle, Klaus Bodemer, Andrea Pagni (Hg.): Argentinien heute: Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main, S. 33-54. Frankfurt am Main.

FAO (2017): América Latina y el Caribe es la region con la mayor desigualdad en la distribución de la tierra. Online verfügbar unter http://www.fao.org/americas/noticias/ver/es/c/879000/.

Kaltmeier, Olaf (2013): Soziale Ungleichheiten in Lateinamerika: Historische Kontinuitäten im sozialen Wandel. In: Olaf Kaltmeier (Hg.): Soziale Ungleichheit in den Amerikas: Historische Kontinuitäten und sozialer Wandel von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. KLA Working Paper Series 9.

Krysmanski, Hans Jürgen (2015): 0,1 Prozent - Das Imperium der Milliardäre. Frankfurt am Main.

Larrañaga, O.; Rodriguez, M. E. (2015): Desigualdad de Ingresos y Poberza en Chile 1990 a 2013. In: Osvaldo Larrañaga und Dante Contreras (Hg.): Las Nuevas politicas de proteccion social en Chile. Santiago.

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Piketty, Thomas (2014): Capital in the Twenty-First Century. Cambridge.

Portes, Alejandro (1985): Latin American Class Structures: Their Composition and Change during the last Decades. In: Latin American Research Review 20 (3), S. 7-39.

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Svampa, Maristella (2008): Kontinuitäten und Brüche in den herrschenden Sektoren. In: Dieter Boris (Hg.): Sozialstrukturen in Lateinamerika: Ein Überblick. Wiesbaden, S. 45-71.

Thorp, Rosemary (1998): Progress, Poverty and Exclusion. An Economic History of Latin America in the 20th Century. New York.

Wealth-X (2013): World Ultra Wealth Report. Online verfügbar unter http://wuwr.wealthx.com/Wealth-X%20and%20UBS%20World%20Ultra%20Wealth%20Report%202013.pdf.

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Professor Dr. Olaf Kaltmeier, Universität Bielefeld, ist Direktor des Maria Sibylla Merian Centers for Advanced Latin American Studies (CALAS) mit Hauptsitz in Guadalajara, Mexiko. Das CALAS beschäftigt sich in den nächsten 6 Jahren damit, wie lateinamerikanische Gesellschaften Krisen bewältigen. Ein zentraler Aspekt dabei ist der Umgang mit extremer sozialer Ungleichheit.

  • 1. Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß zur Messung von Ungleichheitsverteilungen. Er nimmt einen Wert zwischen 0 (bei einer gleichmäßigen Verteilung, d.h. jeder Einzelne der Gruppe hat den gleichen Anteil) und 1 (bei maximaler Ungleichverteilung, d.h. alle Werte z.B. Einkommen oder Landbesitz konzentrieren sich auf nur eine Person)