Munich Security Report: Der Globale Süden beginnt, sich westlicher Kontrolle zu entziehen

Die Organisatoren der Münchner Sicherheitskonferenz plädieren für eine stärkere Berücksichtigung der Interessen des Globalen Südens

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Die 59. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) findet vom 17. bis zum 19. Februar statt
Die 59. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) findet vom 17. bis zum 19. Februar statt

Wie es im Munich Security Report heißt, der am 13. Februar veröffentlicht wurde, müsse man sich endlich der Tatsache stellen, dass immer noch kein einziges Land Afrikas und Lateinamerikas – sowie kaum ein Land Asiens – die westliche Sanktionspolitik gegen Russland unterstütze. Wolle man ernste Rückschläge im globalen Machtkampf gegen Russland und China langfristig vermeiden, müsse man wenigstens einige der Länder im Globalen Süden zurückgewinnen.

Die Münchner Sicherheitskonferenz

Bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz sind am Wochenende laut Angaben der Veranstalter rund 40 Staats- und Regierungschefs und mehr als 90 Minister aus zahlreichen – vor allem westlichen – Ländern anwesend, darunter die Präsidenten Frankreichs und Polens, Emmanuel Macron und Andrzej Duda, sowie Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Ukraine ist unter anderem mit Außenminister Dmytro Kuleba vertreten. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nimmt an der Veranstaltung teil. Aus den USA reiste Vizepräsidentin Kamala Harris an, aus China der frühere Außenminister Wang Yi, der heute als Vorsitzender der außenpolitischen Kommission der Kommunistischen Partei der ranghöchste Außenpolitiker der Volksrepublik ist.

Nicht eingeladen wurden die Regierungen Russlands und Irans; aus beiden Ländern werden allerdings Regierungsgegner erwartet, so etwa der einstige russische Oligarch Michail Chodorkowski. Geleitet wird die Veranstaltung nicht mehr von dem ehemaligen Spitzendiplomaten Wolfgang Ischinger, der bis 2022 als Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz amtierte, sondern erstmals von Christoph Heusgen, dem einstigen außenpolitischen Berater (2005 bis 2017) von Kanzlerin Angela Merkel.

"Symbol einer nachwestlichen Ära"

Befasst sich die Konferenz auf den ersten Blick vor allem mit dem Ukraine-Krieg, so geht es laut Angaben der Veranstalter im Kern um mehr: um den Machtkampf zwischen den Staaten, die die alte, vom Westen dominierte Weltordnung verteidigen – sie wird im Westen gern als angeblich "regelbasierte" Ordnung gepriesen –, gegen andere, die die westliche Dominanz abschütteln wollen. Zu letzteren zählt der Munich Security Report, eine Art Begleitheft zur Konferenz, Russland und China. Der russische Überfall auf die Ukraine sei "nur der unverfrorenste Angriff auf die regelbasierte Ordnung", heißt es im Munich Security Report, der alle Versuche, die globale Dominanz des Westens zu brechen, in denunziatorischer Absicht als "revisionistisch" abqualifiziert.1

Die Autoren zitieren zustimmend einen Artikel aus der britischen Zeitschrift New Statesman, in dem es schon im vergangenen Jahr hieß, ein russischer Sieg in der Ukraine wäre "ein mächtiges Symbol einer neuen, nachwestlichen Ära" – ein Symbol "des Zusammenbruchs der alten Ordnung". Daraus leitet sich die Forderung ab, Russland dürfe den Ukraine-Krieg nicht gewinnen, es solle ihn am besten sogar verlieren. In diesem Sinn widmet sich die Münchner Sicherheitskonferenz dem Schwerpunkt Ukraine-Krieg.

"Postkoloniale Dominanz"

Besonderes Gewicht messen die Autoren des Munich Security Report dem Globalen Süden bei. Die Motive dafür sind nicht etwa Armut sowie schwierige Lebensverhältnisse in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, sondern die Tatsache, dass die Staaten des Globalen Südens zwar mehrheitlich den russischen Überfall auf die Ukraine als einen Bruch des internationalen Rechts kritisieren, sich aber nicht am Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland oder gar an der Hochrüstung der Ukraine beteiligen.

Hieß es bisher in öffentlichen Stellungnahmen aus Politik und Denkfabriken wie auch im medialen Echo stets nebulös, eine höchst diffuse "internationale Gemeinschaft" bestrafe Moskau für den Krieg mit Sanktionen, so stellt der Munich Security Report erstmals in dieser Offenheit fest: "Kein einziger Staat Afrikas oder Lateinamerikas ist Teil der lockeren Koalition, die Sanktionen gegen Russland verhängt hat."2 Auch in Asien beteiligen sich nur drei Staaten3 plus die chinesische Insel Taiwan an der Sanktionspolitik – und damit am Bestreben, die alte, vom Westen dominierte Weltordnung zu stabilisieren.

Der Munich Security Report räumt ein, die "vom Westen geführte Ordnung" sei für viele Staaten im Süden durch "postkoloniale Dominanz, doppelte Standards und Vernachlässigung der Anliegen von Entwicklungsländern" charakterisiert. "In weiten Teilen der Welt" gebe es daher Sympathien für eine multipolare, "nachwestliche" Weltordnung.

Den Süden einbinden

Die Autoren des Munich Security Report plädieren dafür, diese Tatsache nicht mehr – wie bisher – weitgehend zu tabuisieren, sondern sich ihr zu stellen und um den Globalen Süden zu werben. So heißt es, zwar stoße "Chinas Modell in vielen Entwicklungsländern auf Resonanz"; doch habe das vor allem mit der "Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung" zu tun, "die den Bedürfnissen vieler Entwicklungsländer nicht gerecht wird".4 Es müsse daher "gelingen, Länder besser einzubinden, die bisher wenig Mitspracherecht hatten", sowie "dafür zu sorgen, dass die bestehende Ordnung allen gleichermaßen zugutekommt". Habe man damit Erfolg, dann "könnte die Ordnung wieder neue Unterstützer finden".

Konkret und eher hilflos plädiert der Munich Security Report für eine wirkungsvolle Entwicklungshilfe und dafür, dass "Europa und die USA ihre Versprechen erfüllen, globale öffentliche Güter bereitzustellen". Zugleich müssten sie vom "Geber-Empfänger-Verhältnis" loskommen sowie "Kooperation auf Augenhöhe" ermöglichen. Allerdings gehört etwa Letzteres seit Jahren zu den offiziell stets stolz vorgetragenen Zielen der deutschen Außenpolitik, ohne dass es jemals praktisch realisiert worden wäre.5 Dass die ehemaligen Kolonien den Aufstieg auf gleiche Augenhöhe mit den Ex-Kolonialmächten schaffen, lag in der Tat noch nie im Interesse westlicher Politik.

Der Süden opponiert

Während es im Munich Security Report heißt, man müsse den Globalen Süden einbinden, beginnen dortige Schwellenländer nicht nur passiv – durch die Verweigerung von Russland-Sanktionen –, sondern auch aktiv gegen die transatlantische Politik im Ukraine-Krieg zu opponieren. So hat Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva anlässlich seines Besuchs in Washington am 10. Februar bekräftigt, er arbeite weiterhin daran, gemeinsam mit anderen Staaten jenseits des alten Westens eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg zu erreichen.6 Als Kooperationspartner komme dabei China in Frage. Lula hat angekündigt, in wenigen Wochen nach Beijing zu reisen und mit seinem dortigen Amtskollegen Xi Jinping Gespräche zu führen.

Chinas Regierung sei "eine der wenigen auf der internationalen Bühne, die Moskau nicht ignorieren kann", räumte gestern Wolfgang Ischinger, ehemaliger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, ein: "Allein oder mit anderen wäre China vielleicht imstande, einen Friedensvorschlag zu machen."7 Ischinger wies allerdings zugleich darauf hin, das werde "in den USA vermutlich nicht größte Freude auslösen". In der Tat wäre ein von China mit erzielter Verhandlungserfolg bloß ein weiterer Beleg für den historischen Abstieg des Westens, den dieser verhindern will – mit allen Mitteln.

  • 1. Re:vision. Munich Security Report 2023. Munich, February 2023.
  • 2. Re:vision. Munich Security Report 2023. Munich, February 2023.
  • 3. Japan, Südkorea, Singapur. Hinzu kommen Australien und Neuseeland.
  • 4. Re:vision. Munich Security Report 2023. Munich, February 2023.
  • 5. S. dazu "Nachbarn im Herzen".
  • 6. Caroline Arkalji: What came out of the Lula-Biden meeting? atlanticcouncil.org 10.02.2023. S. auch amerika21 Brasilien: Auf der Seite der Diplomatie.
  • 7. Gudrun Dometeit: "Für Diplomaten ist eine Welt zerbrochen". focus.de 13.02.2023.