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Argentinische Politik als Hintergrund für große Theorien. Zum Tod von Ernesto Laclau

Ernesto Laclau galt als einer der großen Intellektuellen Lateinamerikas und Mitbegründer des Post-Marxismus

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Ernesto Laclau
Ernesto Laclau

Bis zum letzten Moment standen Wissenschaft und Politik im Mittelpunkt seines Lebens. Ernesto Laclau sollte am vergangenen Sonntag, auf Einladung des argentinischen Botschafters in Spanien, eine Konferenz in Sevilla eröffnen. Nach einem morgendlichen Bad und einem Spaziergang wurde er in seinem Hotelzimmer von einem Herzinfarkt überrascht und starb im Alter von 78 Jahren.

Bekannt wurde Laclau vor allem durch sein gemeinsam mit Chantal Mouffe geschriebenes Werk "Hegemonie und radikale Demokratie“ aus dem Jahr 1985 sowie durch seine Theoretisierung des Populismus-Begriffs. Seit der Wahl einer Reihe von Mitte-Links-Regierungen (vor allem Hugo Chávez in Venezuela 1998, Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien 2002, Néstor Kirchner in Argentinien 2003, Evo Morales in Bolivien 2005, Rafael Correa in Ecuador 2006) mischte sich Laclau verstärkt in die lateinamerikanische Politikdebatte ein, um diese neuen Regierungen zu verteidigen.

Die Erfahrung der Izquierda Nacional

Ernesto Laclau wurde am 6. Oktober 1935 in Buenos Aires geboren. Bereits Ernesto Laclau Senior (1896-1985) war in die argentinische Politik involviert. Er war Anwalt, engagierte sich für die Unión Civica Radical und war ein Anhänger des Präsidenten Hipólito Yrigoyen. Über seinen Vater wurde Ernesto Junior an die politischen Diskussionen herangeführt und lernte bedeutende Persönlichkeiten kennen. Eine Begegnung, von der Laclau besonders gerne erzählte, war die mit dem großen Intellektuellen Arturo Jauretsche im Jahr 1957, der ihm während eines Gesprächs einen wichtigen Rat gab: nicht zu streng auf Konzepte achten, sondern lieber die Welt betrachten und so "seine kleinen bedeutenden Wahrheiten" finden.1

1954, im Jahr vor dem Putsch gegen Juan Perón, schrieb Laclau sich an der Universidad de Buenos Aires für das Fach Geschichte zu ein. Einige Jahre später begann Laclaus parteipolitisches Engagement: er entschied sich für die Sozialistische Partei Argentiniens. 1961 spaltete sich die sozialistische Jugend jedoch von der alten Garde ab und gründete die Sozialistische Partei der Avantgarde. In diesen Jahren waren die politischen Eindrücke vom Autoritarismus des anti-peronistischen Militärs und der Enttäuschung über die Regierung Arturo Frondizis geprägt.

Dies und die Treue der Arbeiterklasse gegenüber dem exilierten Perón ließ viele Linke des Landes neu über den Peronismus nachdenken. Laclau schloss sich 1962 der neu gegründeten Sozialistischen Partei der Nationalen Linken (Partido Socialista de la Izquierda Nacional) um Jorge Abelardos Ramos an, die den Peronismus kritisch unterstützen und umzudeuten versuchte.2

Das politische Engagement Laclaus stand seiner akademischen Karriere nicht im Weg. 1966 wurde er als Professor an die Universität von Tucumán berufen und ein Jahr später wechselte er in die Investigationsabteilung des Instituto Di Tella. Als Eric Hobsbawm ihn zu einem Doktoranden-Studium nach England einlud, nahm Laclau an. Nach eigenen Angaben dachte er zu diesem Zeitpunkt, er würde Argentinien für wenige Jahre verlassen – doch zu einer dauerhaften Rückkehr sollte es nie mehr kommen. In England nahm Laclau zunehmends von historischen Themen Abstand und widmete sich dem, womit er berühmt werden sollte: der politischen Theorie. Aus der Ferne betrachtete er, wie das Projekt der Izquierda Nacional scheiterte. Mit der Rückkehr Peróns 1973 keimten zwar noch einmal Hoffnungen auf, die jedoch spätestens mit dem Militärputsch von 1976 begraben werden mussten.3

Mit Gramsci und Lacan zum Post-Marxismus

Eine 1978 erschienene Essaysammlung Laclaus ("Politics and Ideology in Marxist Theory“), vor allem ein darin enthaltender Text zum Thema Populismus, deutete bereits einige zentrale Aspekte des theoretischen Arsenals zukünftiger Jahre an. Der Marxismus geriet in den Texten Laclaus zunehmend in die Kritik und Politik wurde verstärkt als der Kampf um Hegemonie und damit um bestimmte "leere Signifikanten" dargestellt, das heißt Begriffe, die in verschiedenen Kontexten mit variierender Bedeutung aufgeladen werden. Mit dem Buch "Hegemonie und radikale Demokratie" aus dem Jahr 1985 gelang es Laclau in Zusammenarbeit mit Chantal Mouffe einen der Gründungstexte des Post-Marxismus zu schreiben. Die hauptsächliche Kritik richtete sich gegen die marxistischen Prämissen, dass die Ökonomie die Gesellschaft determiniere und dass die Arbeiterklasse der historische Agent der Revolution sei. Dem stellen Laclau und Mouffe die Unmöglichkeit von Gesellschaft an sich gegenüber und heben hervor, dass jede Art von Identität nur temporär und nie vollständig fixiert werden kann. Dieses Buch sowie "New Reflections on the Revolutions of our Time“ (1990) und “Emancipation(s)” (1996) etablierten Laclau als einen wichtigen, wenngleich auch sehr umstrittenen Denker in den europäischen Theoriedebatten. Einige seiner bekanntesten Auseinandersetzungen führte er mit Alain Badiou, Judith Butler, Antonio Negri und Slavoj Žižek.

Die theoretischen Referenzpunkte der Hauptwerke Laclaus lassen sich in erster Linie bei europäischen Denkern finden. Hier sind zunächst Antonio Gramsci und sein Konzept der Hegemonie zu nennen. Aber auch der französische Psychoanalytiker Jacque Lacan nimmt einen zentralen Platz in den Werken Laclaus ein. Zudem sind die Einflüsse Louis Althussers und Ludwig Wittgenstein zu nennen. Trotz des Lebens in Europa und der Bezugnahme auf diese Autoren wäre es allerdings falsch, Laclau als jemanden zu bezeichnen, der sich lediglich der europäischen Wissenschaftslandschaft angepasst hat.

Seine Erfahrungen in der argentinischen Politik, besonders in Bezug auf den Peronismus, sind ein wichtiger Grundbaustein in seinen Werken und Quelle seiner innovativsten Ideen. Die Frage, wie ein Bündel heterogener Forderungen zu einem hegemoniefähigen politischen Bündnis transformiert werden kann, ist ein zentraler Aspekt aller Werke Laclaus. Diese Gedankengänge beruhen auf der Erfahrung der in verschiedenste Lager aufgeteilten peronistischen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre, die sich im politischen Kampf gegen mehrere Militärdiktaturen und formell zivile Regierungen befand.

Populismustheorie und Unterstützung des Kirchnerismus

Die politischen Änderungen im Lateinamerika des frühen 21. Jahrhunderts richteten Ernesto Laclaus Interesse wieder verstärkt auf diese Region. In seinem 2005 erschienen Buch "On Populist Reason" definiert er Populismus als eine Logik zur Konstruktion politischer Identitäten, die nicht einer bestimmten Ideologie zugeordnet werden kann. Damit stellt sich Laclau gegen die Verwendung des Populismusbegriffs als Bezeichnung für vermeintlich gefährliche Demagogie, wie es in lateinamerikanischen als auch in europäischen Debatten häufig geschieht.4 Laclau machte deutlich, dass "wenn eine Gefahr für die lateinamerikanische Demokratie besteht, sie vom Neoliberalismus und nicht vom Populismus ausgeht."5

Besonders in jüngster Zeit, seitdem die Kritik an der Regierung Cristina Kirchners aufgrund wirtschaftlicher Probleme zugenommen hat, verteidigte Laclau sie und hob die sozialen und politischen Errungenschaften der Regierungen Nestor und Cristina Kirchners seit 2003 hervor. So hätten sie bedeutende Änderungen eingeführt, die selbst im Falle einer rechten Regierungsübernahme nach den Wahlen 2015 nicht rückgängig gemacht werden würden. Für Laclau ist der Kirchnerismus die einzige politische Kraft des Landes, die in der Lage ist, der Macht der großen Unternehmen etwas entgegenzusetzen.6

Viele Regierungspolitiker inklusive der Präsidentin sowie Intellektuelle aus aller Welt drückten ihre Trauer über den Tod Ernesto Laclaus aus. Der argentinische Philosoph Ricardo Forster nannte Laclau "einen der wichtigsten Intellektuellen Lateinamerikas des vergangenen Jahrhunderts."7

Laclaus kontrovers diskutierte Interventionen in Wissenschaft und Politik werden fehlen, doch er hinterlässt uns eine Fülle an Ideen, die zum Weiterdenken einladen.