Venezuela

"Unsere Revolution ist eine friedliche Revolution"

Vor sechs Jahren wurde in Venezuela der Putsch gegen Präsident Chávez niedergeschlagen. Ein Gespräch mit Botschafterin Blancanieve Portocarrero

Vor sechs Jahren wurde in Venezuela ein Putschversuch gegen die Regierung von Präsident Hugo Chávez niedergeschlagen. Was bedeutet dieser Tag für Sie heute?

Der 13. April ist einer der wichtigsten Tage für das venezolanische Volk und für die Völker Lateinamerikas. Der Umstand, dass an diesem Tag vor sechs Jahren ein Präsident von den Volksmassen aus der Geiselhaft putschistischer Militärs befreit wurde, ist einmalig in der Geschichte. So etwas ist nie zuvor geschehen.

Nun haben gerade in Lateinamerika viele Staatsstreiche stattgefunden. Weshalb konnte der Putschversuch in Venezuela niedergeschlagen werden?

Der Grund war die Verfassung, die 1999 in einem tiefgreifenden demokratischen Prozess reformiert wurde. Damals haben alle Teile der Bevölkerung von der Jugend in den Schulen bis zu den Alten an der Neufassung der Konstitution mitgearbeitet. 80 Prozent haben die neue Verfassung angenommen. Und nicht nur das: Mit der neuen Verfassung ist ein neues Bewusstsein entstanden. Heute weiß jeder Venezolaner und jede Venezolanerin, welche Rechte ihnen die Verfassung zugesteht. Die Aneignung der Rechte durch die Bevölkerung hat direkt dazu geführt, dass sie im April 2002 auf die Straßen gezogen ist, um ihren Präsidenten und ihre Rechte zu verteidigen.

Im Ausland teilt man diese Meinung nicht unbedingt. Hier wird immer wieder auf vermeintliche Demokratieverstöße in Venezuela hingewiesen, Außenminister Frank-Walter Steinmeier nannte Präsidenten Chávez kürzlich sogar einen Populisten. Wie kommt es zu der unterschiedlichen Auffassung?

Der Grund ist wohl, dass wir mit dem traditionellen Schema von Demokratie gebrochen haben. In Venezuela geht es heute nicht mehr um die repräsentative Demokratie, sondern um die Beteiligung der Bevölkerung an den politischen Prozessen. Diese direkte Teilhabe der Menschen soll das alte System ersetzen.

Ist das Populismus?

Auf keinen Fall, denn das Volk bekommt ja die Macht. Wir haben viele Fälle in der Geschichte Lateinamerikas erlebt, in denen die verarmten Massen mit billigen Versprechen politisch manipuliert und benutzt wurden. Das ist Populismus. In Venezuela aber werden diese Massen als Akteur gesehen. Sie bekommen erstmals die Macht, das Wissen und die Instrumente, die Zukunft mitzugestalten.

In Europa wird dieser politische Umbruch kaum wahrgenommen. Hier hört man von den Konflikten zwischen Regierung und Wirtschaft. Wie hängen diese Auseinandersetzungen mit der Frage der Demokratie zusammen?

Ich möchte nicht sagen, dass es Konflikte sind. 85 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet die Erdölindustrie, insbesondere das Staatsunternehmen PdVSA. Es geht also nur um einen kleinen Teil der Branchen. Dabei versucht der Staat, die Kontrolle zurückzuerlangen, die ihm in Zeiten der Privatisierung genommen wurde. Es geht also auch hier um eine Demokratisierung.

Gerade diese Politik gegen das neoliberale Regime hat Venezuela zu einem Bezugspunkt der Linken gemacht. Der irische Politiker Gerry Adams beruft sich ebenso auf den bolivarischen Sozialismus wie der Deutsche Oskar Lafontaine. Wollen Sie diesen Dialog ausbauen?

Wir fördern ihn ständig. Seit über zwei Jahren organisieren wir Treffen in der Botschaft mit Nichtregierungsorganisationen, sozialen und politischen Basisgruppen oder politischen Stiftungen. Vor allem in Deutschland sind die Gespräche gewinnbringend, weil hier ja viele Menschen im Sozialismus gelebt haben. Und auch in Venezuela geht es in der Debatte oft darum, wie die Fehler des historischen Sozialismus vermieden werden können. Zum anderen pflegen wir Kontakte mit Vertretern politischer Parteien, nicht nur des linken Lagers. Ich glaube, dass wir so schon vielen Menschen vermitteln konnten, dass der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ein Ziel hat: Antworten auf die Probleme zu finden, die die Mehrheit der Menschen im globalen Kapitalismus bewegen. In Venezuela im Speziellen haben wir bewiesen, dass unsere Revolution trotz aller Unkenrufe eine friedliche Revolution ist. Zugleich aber steht sie fest zu ihren humanistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien und wird künftig jederzeit bereit sein, diese zu verteidigen, wenn das wie im April 2002 nötig wird.


Den Originaltext der Tageszeitung junge Welt finden Sie hier.