Venezuela

Der bolivarianische Prozess vor dem Aus?

Edgardo Lander: Der politische Prozess in Venezuela ist an einem kritischen Scheideweg angelangt

Das Referendum zur Veränderung der Verfassung von 1999, vorgeschlagen vom Präsidenten Hugo Chávez und von der Nationalversammlung, erlitt eine Niederlage. Damit ist der Veränderungsprozess, der vor neun Jahren im Lande eingeleitet wurde, an einem Scheideweg angelangt. Wenn das Wahlergebnis als Achtungszeichen verstanden wird und eine demokratische, kritische und selbstkritische Debatte seitens des Präsidenten, der Regierung und der sozialen und politischen Kräfte, die diesen Prozess unterstützt haben, begonnen wird, könnte das der Ausgangspunkt einer Phase sein, in der die Entwicklungsrichtung neu bestimmt wird. Doch dazu gehören eine offene, politisch plurale Debatte und eine transparente öffentliche Führung. Die Bedingungen dafür sind vorhanden. Nach dem Referendum hat eine außerordentlich lebhafte Debatte begonnen, die nicht nur um dessen Ergebnisse selbst geführt wird, sondern die dieses Ergebnis als Ausgangspunkt nimmt und die wichtigsten politischen Fragen aufgreift, die in Venezuela aktuell sind.

Die Debatte darf seitens der Regierung jedoch nicht so geführt werden, dass die Schuld für die Niederlage nur auf der Gegenseite zu suchen ist - Imperialismus, Medien, die "politische Zurückgebliebenheit des Volkes", das nicht "vorbereitet war für den Sozialismus" oder in formalen Aspekten der Wahlkampagne. Wenn die Regierung es deshalb nicht für notwendig erachtet, eine selbstkritische Reflexion vorzunehmen, könnten wir uns am Anfang des Endes befinden, d. h. am Beginn einer Dynamik, die die außerordentliche historische Erfahrung missachtet und mittelfristig zur Niederlage führt. Es steht mehr auf dem Spiel als die Zukunft Venezuelas.

Präsident Chávez erkannte öffentlich die Niederlage seines Vorschlages an. Der Verlust von Millionen Stimmen für Chávez zeigte Fragen auf, die für den zukünftigen demokratischen Prozess in Venezuela zu stellen sind:

In erster Linie war der Mythos des Führers als Messias, dem eine bedingungslos ergebene Volksmasse folgt, der die Fähigkeit des eigenen politischen Denkens fehle, zerschlagen worden. Dennoch bezeugen Meinungsumfragen nach wie vor eine hohe Unterstützung für Präsident Chávez und den Transformationsprozess. Das Volk, das sich faktisch in einer Situation der politischen Erpressung (Entscheidung zwischen Chávez und Bush) befand, demonstrierte Autonomie und die Fähigkeit, durch seine Stimmenthaltung seinen Unwillen zum Ausdruck zu bringen und ein Ausrufezeichen zu setzen. Das impliziert weder den Übergang in die Opposition noch die Infragestellung des Präsidenten oder die Kontinuität des Transformationsprozesses. Offenkundig war die Politisierung der letzten Jahre nicht umsonst gewesen.

Zum anderen sind mit diesem Resultat ein für allemal die Zweifel an der Transparenz und Glaubwürdigkeit des venezolanischen Wahlsystems ausgeräumt. In solch einer polarisierten Gesellschaft wie der venezolanischen und in solch einem Transformationsprozess mit konstitutionellem und demokratischem Charakter macht die Existenz dieses glaubwürdigen Wahlsystems den Unterschied zwischen Krieg und Frieden, zwischen Gewalt und demokratischem Miteinander aus.

Das Bild eines diktatorischen Präsidenten, der die demokratischen Regeln nicht achtet, dürfte damit auf den Schrotthaufen der Erinnerungen an den Kalten Krieg geworfen worden sein.

1. Was sind die Ergebnisse des Referendums?

Um die Debatte über die Ergebnisse zu beginnen, ist es erforderlich, die zahlenmäßigen Resultate des Referendums zu analysieren. Entsprechend des zweiten Bulletins des Nationalen Wahlrates, in dem 94% aller Wahllokale als endgültiges Ergebnis erfasst sind, wurde die Ablehnung der Verfassungsreform mit einer Differenz [1] von 1,31% aller gültigen Stimmen erzielt. 4.521.494 Wähler stimmten mit Nein (50,65%) und 4.404.626 (49,34%) mit Ja. 43,95% enthielten der Stimme. Das ist das erste Mal in elf Wahlen seit 1998, dass die von Präsident Chávez vorgeschlagene Version eine Niederlage erlitt.

Wie stimmen diese Ergebnisse mit der Präsidentenwahl im Dezember 2006 überein? Erstens ist hervorzuheben, dass es sich um eine Art Erdbeben handelt, vor allem deshalb, weil es im Lager der Präsident Chávez-Anhänger vor sich ging. In den Präsidentenwahlen des Jahres 2006 errang Präsident Chávez einen Sieg mit 7.309.080 Stimmen (62,84%). Für den Kandidaten der Opposition Rosales stimmten 4.292.466 (36%). Sowohl hinsichtlich der Stimmabgabe wie auch hinsichtlich der Prozentzahlen war dieses Ergebnis das höchste für das Lager des Chávismus in diesen Jahren. [2] Bei einem Vergleich dieses Wahlergebnisses des vergangenen Jahres und den Ja-Stimmen für die Verfassungsänderung 2007 ergibt sich eine Verminderung um 2.904.454 Stimmen. Das bedeutet, dass 40% weniger Stimmen als in den Präsidentschaftswahlen abgegeben wurden. Bei einem Vergleich mit den Stimmen gegen die Verfassungsreform, die in keinem Fall als Stimmen für die Opposition gewertet werden können, und den Stimmen für Rosales, wird eine Differenz von 112.160 Stimmen, d. h. ein Zuwachs von 2,6%, festgestellt. Das sind einige Zehntel mehr als der Zuwachs an Stimmen im Wahlregister zwischen den beiden Wahlgängen (2%).

Während in den Gouverneurswahlen 2004 die Regierung in den Bundesstaaten verlor, gewann sie 2006 in der Hauptstadt und in allen Bundesstaaten. Im Referendum zur Verfassungsänderung überwogen die Nein-Stimmen in den dicht besiedelten Regionen des Landes und im Hauptstadtdistrikt. Mit Nein wurde in Caracas und in den anderen wichtigen Städten des Landes gestimmt, wie auch in vielen metropolitanen Bevölkerungsgebieten wie Caricuao und La Vega y Petare, die solide Bastionen der Wahlunterstützung des Chávismus in den letzten Jahren waren. Dagegen überwogen die Ja-Stimmen in 15 Bundesstaaten.

Mit großer Sicherheit ist zu sagen, dass im Referendum eine grundsätzliche Verschiebung unter den Wählern selbst vorging. Das muss noch durch die Analyse der Endergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen und Wahllokalen, einschließlich der Stimmenthaltungen, und einer politisch präzisen Beurteilung bestätigt werden. Aber die Tendenzen sind durchaus klar. Die Stimmenthaltung war in den unteren Volksschichten größer als in denen der Mittel- und Oberklassenschicht, wo die überwiegende Mehrheit mit Nein gestimmt hat. Im Hinblick darauf, dass es keine bedeutende Erhöhung der Nein-Stimmen im Vergleich zu den Stimmen für Rosales im Jahr 2006 gab (mit der Annahme, dass die Nein-Stimmen nicht als Stimmen für die Opposition identifiziert werden können), scheint es, dass das Referendum durch die Stimmenthaltung entschieden wurde. Das sind fast drei Millionen Chávez-Wähler, die sich der Stimme enthielten. Diese Hypothese wird dadurch unterstützt, dass die Meinungsumfragen vor dem Referendum aussagten, dass die Unterstützung für Präsident Chávez sich ungefähr auf dem gleichen Niveau (um die 60%) wie im Vorjahr halten würde. Deshalb schien es keinen abrupten Rückgang für die Unterstützung der Regierung zu geben.

In der Endphase der Kampagne versuchte Präsident Chávez, nachdem er erkannt hatte, dass die Zustimmung nicht garantiert war, das Referendum in eine Abstimmung für die Unterstützung des Präsidenten zu verwandeln. Auf dem Höhepunkt der Kampagne definierte er die Optionen in kategorischer Form: Eine Ja-Stimme ist eine Stimme für Präsident Chávez, eine Nein-Stimme ist eine Stimme für Bush. Es war für breite Kreise, die den Prozess unterstützt haben und heute weiter unterstützen, zweifellos klar, dass nicht die Frage nach der Präsidentschaft von Hugo Chávez und nicht die Fortsetzung der Regierung zur Debatte standen und noch viel weniger die Einsetzung einer Oppositionsregierung. Es war vielmehr die einmalige Gelegenheit, Unwohlsein, Nichtzustimmung, Zweifel und Unzufriedenheit mit der Regierung und dem politischen Kurs zum Ausdruck zu bringen, ohne die Fortsetzung des Transformationsprozesses zu gefährden und ohne für die Opposition zu sein. Dazu kamen die Zweifel und Unzufriedenheit mit dem Vorschlag zur Verfassungsreform. Wenn sich das so verhält, muss das als Beweis politischer Reife und der Autonomie der Bevölkerungsschichten anerkannt werden. Das steht im Gegensatz zu den Vorstellungen vieler Analysten und Politiker, sowohl in der Regierung wie auch in der Opposition, die an die Existenz eines messianischen Führers und eines Volkes glauben, das ihm blind und ohne die Fähigkeit eigener politischer Vorstellungen folgt. Es wird deutlich, dass die Politisierung des Volkes, die in den letzten Jahren vor sich ging, nun Ergebnisse zeigt.

2. Die Ausarbeitung des Reformvorschlages: partizipative Demokratie oder plebiszitäre Demokratie?

Es ist immer riskant, politische Schlussfolgerungen aus Wahlenthaltungen zu ziehen. Zweifellos kann die Erklärung für die Stimmenthaltung von ca. drei Millionen Chávez-Wählern sowohl in den Zweifeln und der Nichtübereinstimmung mit dem Verfassungsvorschlag wie auch in der Art und Weise seiner Ausarbeitung und Debatte liegen. Aber auch die zunehmende Unzufriedenheit mit bestimmten Aspekten des politischen Prozesses und Schwächen der öffentlichen Politik kann die Ursache sein, möglicherweise auch die verbesserten Lebensbedingungen und die dadurch gewachsenen Zukunftserwartungen. Wenn wir davon ausgehen, dass wir eine Volksregierung haben, wird die Unzufriedenheit größer sein, wenn manche Dinge nicht funktionieren, z. B. die fehlende Kontinuität oder gar die Realisierung einiger Programme des "Barrio adentro" [3]. Die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, besonders aber die wachsende persönliche Unsicherheit [4], das Wissen um Korruption und Angeberei, die sich offensichtlich ungestraft ausbreiten, sind heute wesentliche Ursachen des Unbehagens. [5]

Offensichtlich liegen die bedeutendsten Veränderungen, die in den neun Jahren des bolivarianischen Prozesses in Venezuela vor sich gingen, in der positiven Entwicklung der politischen Kultur der Volksmassen begründet. Diese finden ihren wachsenden Ausdruck im Organisationsniveau, in der Festigung der sozialen Netze, im erstarkten Zugehörigkeitsgefühl und der individuellen und kollektiven Würde. Die Idee der Partizipation ist weit davon entfernt, nur eine rhetorische Redensart zu sein, sie ist in die Praxis umgesetzt worden und hat die Erwartung geweckt, auf weitere Bereiche ausgedehnt zu werden. Mehr noch, Partizipation wurde immer mehr als ein Recht wahrgenommen.

Diese Erwartungen in die Partizipation wurden hinsichtlich der Modalitäten und Vorgehensweisen, auf deren Basis der Vorschlag zur Verfassungsreform ausgearbeitet wurde, in keiner Weise befriedigt. Der Vorschlag war im Wesentlichen ein Ergebnis der Arbeit einer präsidialen Kommission, deren Bindung an Vertraulichkeit dazu führte, dass der Vorschlag nur einmal öffentlich gemacht wurde, nachdem er bereits erarbeitet worden war. Geprüft wurde er vom Präsidenten "bis auf das letzte Komma". Die zweite Phase der Erarbeitung, in der durch die Nationalversammlung die Anzahl der zu verändernden Artikel verdoppelt wurde, kann ebenfalls in keiner Weise als echte Partizipation des Volkes charakterisiert werden. Die Kurzfristigkeit, mit der der Vorschlag in der Wahlkampagne diskutiert wurde (einen Monat), und die Regierungskampagne, die versuchte, das Referendum in eine Alternative "gut" - "böse" zwischen Präsident Chávez und Bush zu verwandeln, erschwerte sowohl die Kenntnisnahme der speziellen Inhalte der Reform und ihrer Zielstellungen wie auch die Möglichkeit einer echten Partizipationsdebatte. Auf diese Art und Weise, ohne Impulse für die Festigung partizipativer Möglichkeiten zu geben, reduzierte sich die Kampagne auf eine plebiszitäre Dimension:

Stimmabgabe für oder gegen eine Reform, die von oben erarbeitet worden war. Auf diesem Wege hätte sich die Regierungsmacht gegenüber der verfassunggebenden Macht verstärkt. Dies war unzweifelhaft eine Quelle des Unbehagens. Das war ein Grund, weshalb viele diesen Vorschlag nicht als ihren eigenen ansahen, sondern ihn als gegensätzlich zu ihren Erwartungen an die Partizipation betrachteten.

Ein Kernpunkt war, obwohl er keine bedeutende Rolle in der Debatte des Chávismus spielte, die Option zwischen der Einberufung einer neuen Verfassunggebenden Versammlung und der Möglichkeit, die Transformationsprozesse mit Hilfe der Verfassungsreform zu verstärken. Wenn seitens der politischen Führung des Prozesses und der Regierung die Schlussfolgerung gezogen worden wäre, dass die Verfassung von 1999 zu einem Hindernis für Veränderungen geworden ist, wäre es notwendig gewesen, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Und das aus zwei Gründen: Erstens, weil die Veränderungen, die geplant waren, nicht auf dem Wege der Reform realisiert werden konnten, ohne die in Kraft befindliche Verfassung zu verletzen. Artikel 342 des Verfassungstextes besagt: "Die Verfassungsreform hat eine teilweise Revision dieser Verfassung und die Ersetzung einiger ihrer Normen, die die Struktur und die wesentlichen Prinzipien des Verfassungstextes verändern, zum Ziel." Es ist also keine Angelegenheit unterschiedlicher Interpretationen des Verfassungstextes. Die Bestimmung, was eine Revision ist, ist präzise; sie gibt wenig Raum für Zweifel. Das Argument, dass eine solch radikale Transformation der Verfassungsordnung wie der festgeschriebene Weg zum Sozialismus, die Einführung einer neuen politisch territorialen Organisation, die substantielle Veränderung der Beziehungen zwischen der zentralen Macht und der Vollmacht der Bundesstaaten und Gemeinden etc. durchgeführt werden könnte, als ob es sich um "die Ersetzung einer oder verschiedener ihrer Normen, die die prinzipielle und grundsätzliche Struktur des Verfassungstextes nicht verändert", kann nicht gelten. Wenn angesichts eines solch einschneidenden Textes die Verfassungskammer des Obersten Gerichtes nicht zur Schlussfolgerung gelangte, eine grundsätzliche Veränderung vor sich zu haben, zeigt das nur die fehlende Autonomie dieser öffentlichen Einrichtung.

Es handelt sich nicht um eine Sorge im Lager der liberalen Verfassungsdoktrin, es handelt sich um eine öffentliche Angelegenheit, nämlich um die demokratische Legitimation des Transformationsprozesses, der im Lande vor sich geht. Einer der stärksten politischen Faktoren, mit dem die Regierung während des Staatsstreiches im April 2002 rechnen konnte, war, dass sie verfassungsgemäß und legitim war und von gegen die Verfassung wirkenden Kräften bedroht wurde. Mit der Verfassungsänderung wäre die verfassungsmäßige Legitimität der Regierung geschwächt worden, obwohl sie mit einer mehrheitlichen Unterstützung im Referendum hätte rechnen können.

Zum Zweiten hätte der Prozess der Verfassunggebenden Versammlung eine viel breitere, pluralere und partizipativere Debatte erfordert. Das hätte mehr Zeit und einen größeren politisch-organisatorischen Aufwand benötigt. Es hätte auch einen stärkeren Austausch zwischen den sozialen und politischen Schichten des Landes erfordert. Das wäre der Weg gewesen, um die demokratische Partizipation zu vertiefen, und seine Resultate wären unzweifelhaft legitimer gewesen.

3. Zu den Inhalten der Reform

Der Reformvorschlag brachte viele Fragen mit sich. Es ist erforderlich, einige Probleme vom Standpunkt ihrer Zielstellung - Kurs auf eine demokratischere Gesellschaft zu nehmen - hervorzuheben.

Die in dem Verfassungsvorschlag enthaltene politische Zielstellung war die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft. Während der Wahlkampagne im Jahre 2006 kam Präsident Chávez verschiedentlich auf die Idee des Sozialismus, eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts, zurück. Wenn unter dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts ein Modell verstanden wird, das sich von dem des 20. Jahrhunderts unterscheidet, ist es erforderlich, eine umfassende kritische Bilanz zu ziehen: Worin bestehen die Erfahrungen mit dem autoritären, bürokratischen Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts? Was sind die grundlegenden Unterschiede? Was muss den neuen Sozialismus dieses Jahrhunderts ausmachen? Er kann nur eine politisch machbare, wünschenswerte und legitime Alternative zum Kapitalismus werden, wenn die Gesellschaft weitaus demokratischer wäre als die der liberalen repräsentativen Demokratie. In diesem Sinne war das sowjetische Sozialismusmodell im Endergebnis ein glatter Fehlschlag. Gleichzeitig ist es erforderlich, festzustellen, dass die Errichtung einer sozialen postkapitalistischen Ordnung die Notwendigkeit einer radikalen Abkehr vom gängigen Modell des permanenten Krieges gegen den Rest der Menschheit einschließt. Dieses Modell wurde in der historischen Erfahrung des sowjetischen Sozialismus in keiner Weise in Frage gestellt. Die erdölgestützte venezolanische Gesellschaft verwandelt diese Fragestellung in eine besonders komplexe Angelegenheit.

Deshalb ist eine umfassende Debatte über die folgenden Kernfragen erforderlich: Welche Rolle spielt der Staat in dieser vorgeschlagenen Gesellschaft? Wie sehen die politischen Organisationen aus? Wie sind die Beziehungen zwischen Parteien und Staat? Wie wird ein Maximum an Autonomie der sozialen Organisationen in Bezug auf den Staat garantiert? Welche Antworten können im Falle Venezuelas, das in höchstem Maße eine vom Erdöl abhängige Gesellschaft ererbt hat, auf die dringendsten Erfordernisse gegeben werden, die durch den Klimawandel und andere Gefahren entstehen?

Es gab in Venezuela anregende Debatten zu diesen Fragen. Aber nachdem der Sozialismus als Zukunftsoption wieder auf der Tagesordnung steht, werden diese Debatten nicht ausreichend weitergeführt. In der jetzigen Debatte wird oft so getan, als ob der Sozialismus keine Vergangenheit, keine historische Belastung hätte, aus der es etwas zu lernen gäbe.

Ohne diese notwendigen Auseinandersetzungen ist aber nicht zu verstehen, was in dem Vorschlag der Verfassungsreform mit "sozialistischem Staat", "sozialistischer Demokratie", "sozialistischer Partizipation" und "sozialistischer Ökonomie" gemeint ist. Das, was klar zu sein schien, war, dass es sich um ein Modell einer hochverstaatlichten Gesellschaft mit einer zentralisierten bürokratischen Regierung handelt.

Die sich abzeichnende Verwischung der Grenze zwischen der öffentlich-staatlichen Sphäre und der politischen bzw. parteipolitischen Sphäre sowie die Absicht des Staates, die Autonomie der sozialen Organisationen zu kontrollieren oder einzuschränken, ließen aber Fragen offen, besonders eben hinsichtlich der Unterscheidung des Sozialismus des 20. Jahrhunderts und dem des 21., der mit dieser Reform vorangebracht werden sollte.

Eng verknüpft damit ist die konzeptionelle Form der Volksmacht in dem Verfassungsvorschlag zu sehen. In Übereinstimmung mit dem Artikel 5 der Verfassung des Jahres 1999:

" Die Souveränität geht unmittelbar vom Volke aus, das sie direkt, wie die Verfassung und das Gesetz es vorsehen, ausführt. Sie wird indirekt über das Wahlrecht - durch die Wahl der Organe, die die öffentliche Macht ausüben - gesichert." Und: "Die Staatsorgane repräsentieren die Volkssouveränität und sind ihr untergeordnet."

Ausgehend von diesen Feststellungen erscheint die neue Definition der Volksmacht im Unterschied zu den anderen Staatsorganen widersinnig. Artikel 136 des Reformvorschlages besagt:

"Die öffentliche Macht wird territorial in folgender Form verteilt: Volksmacht, Gemeindevertretung, Staatsmacht und nationale Macht. In Bezug auf ihre auszuführenden Funktionen wird die Volksmacht in Form der Legislative, der Exekutive, der Gerichtsbarkeit, der Bürgerrechte und des Wahlrechts organisiert."

Weiter heißt es:

"Das Volk übt unmittelbar die Souveränität aus. Es übt sie mittels der Volksmacht aus. Sie entsteht nicht durch das Wahlrecht, nicht durch irgendeine Wahl, sondern durch die Organisationsform der Volksgruppen als Basis der Bevölkerung."

Und:

"Die Volksmacht wird ausgeübt, indem sich Gemeinschaften, Kommunen und städtische Selbstverwaltungen bilden. Sie wird ausgeübt durch die Gemeinderäte, die Arbeiterräte, die Studentenräte, die Räte der Bauernschaft, die Räte der Handwerker, die Räte der Fischer, Sporträte, Jugendräte, Erwachsenen- und Ältestenräte, Frauenräte, Räte behinderter Personen und anderer Besonderheiten, die das Gesetz bestimmt."

Hier ergeben sich zwei Fragen:

Erstens, wenn "die Souveränität unmittelbar vom Volke ausgeht" und "die Staatsorgane die Volkssouveränität repräsentieren und ihr untergeordnet sind", macht es dann Sinn, dass die Volksmacht einer der territorialen Bereiche der öffentlichen Macht sein soll? Soll damit gesagt werden, dass die anderen territorialen Bereiche der öffentlichen Macht (die Gemeinden, die Staatsmacht, die nationale Macht) am Rande der Volksmacht agieren?

Zweitens steht die Frage der politischen Konsequenzen, die Volksmacht in einen Teil der öffentlichen Macht, sprich des Staates, zu verwandeln. Die Verwandlung der Volksorganisationen in einen Teil des Staates kann kurzfristig Vorteile hinsichtlich des Zugriffs auf Ressourcen erbringen. Mittel- oder langfristig wären sie weit entfernt davon, mehr Macht zu erhalten und zur Festigung der autonomen Volksorganisation beizutragen. Sie könnten als Mechanismus zur Vereinnahmung und der Kontrolle von oben entwickelt werden. Solange der Staat existiert, bringt die Demokratie - und das muss notwendiger Weise anerkannt werden - unausweichliche (sogar notwendige) Spannungen zwischen dem Staat und der Vielfalt der Organisationsformen und dem unabhängigen Assoziationsnetz in der Gesellschaft mit sich. Zu versuchen, diese Widersprüche durch die Einbeziehung dieser vielfältigen Organisations- und Assoziationsformen in den Staatsapparat oder durch die Suche nach einer Einheit Staat-Volk zu minimieren, würde die Existenz der autonomen, nicht der Staatslogik untergeordneten Bereiche bedrohen. Wie die Geschichte gezeigt hat, ist diese Autonomie eine unabdingbare Bedingung der Demokratie, nicht nur der liberalen Demokratie, sondern auch für eine radikale, postkapitalistische Demokratie.

In Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Verfassungsreform sind die vielfältigen Organisationsformen der Volksmacht nicht nur Teil des Staates, sondern wären hochgradig abhängig von den Organen der öffentlichen nationalen Macht. Zu den Kompetenzen der öffentlichen nationalen Macht zählen:

"... die Förderung, Organisation und die Registrierung der Räte der Volksmacht wie auch ihre technische und finanzielle Unterstützung zur Durchführung von sozialökonomischen Projekten in Übereinstimmung mit den Haushalts- und Steuerbestimmungen" (Artikel 156).

Eine der Quellen zur Finanzierung der Einrichtungen der Volksmacht ist der "Nationale Fond des Finanzausgleiches". Für die Verwendung dieser Finanzierung wurde festgelegt, dass "sie in Übereinstimmung mit der Politik des Integralen Nationalen Entwicklungsplan stehen muss". [6] In gleicher Weise wird gesagt: "Die Vertreter und Vertreterinnen der Volksmacht" können vom Präsidenten oder der Präsidentin der Republik einberufen werden, um an den Versammlungen des Nationalrates der Regierung teilzunehmen, einem Organ, "das beauftragt ist, diverse kommunale, regionale, staatliche und provinziale Projekte zu beurteilen und diese in den Nationalen Integralen Entwicklungsplan aufzunehmen. Es begleitet die Realisierung der bestätigten Vorschläge und führt die erforderliche Anpassung an die zu erreichenden Ziele durch" (Artikel 185).

In Übereinstimmung mit dieser Aussage werden die Projekte der Volksmacht, an deren Ausarbeitung keinerlei Partizipation erfolgte, im Nationalen Integralen Entwicklungsplan aufgenommen. Das liegt ausschließlich in der Kompetenz des Präsidenten der Republik (Artikel 236).

Einige der Vorschläge der Verfassungsreform können als Rückschritt in Bezug auf die demokratische Partizipation und die Menschenrechte bezeichnet werden. So sollte eine bedeutende Erhöhung der Anzahl erforderlicher Unterschriften für Verfassungsänderungen eingeführt werden. In den Verfassungsdebatten des Jahres 1999 gab es noch keine Erfahrung, die es gestattet hätte, klare Kriterien in Bezug auf solche Referenden einzuführen und um ein adäquates Gleichgewicht zu schaffen zwischen finanziellen, administrativen und politischen Kosten einerseits und der effektiven Möglichkeit andererseits, dieses Recht auszuüben. So sind Referenden nicht in eine beständige und oft zu wiederholende Einrichtung verwandelt worden. Heute, nach acht Jahren der Existenz dieser Verfassungsnormen, kann nicht bezweifelt werden, dass die anfänglichen Erfordernisse eines Referendums in einer sehr vereinfachten Form festgelegt worden sind. 2004 wurde ein Abberufungsreferendum des Präsidenten durchgeführt. Bisher war nur über die Abberufung einiger Bürgermeister in kleinen Ortschaften abgestimmt worden. Es fanden keine Referenden zur Abberufung von Gouverneuren oder zur Veränderung eines Gesetzes der Republik statt.

Mit der erheblichen Erhöhung erforderlicher Unterschriften für jede einzelne der in der Verfassung festgelegten Modalitäten des Referendums wird der Regierungstätigkeit klare Priorität gegenüber der Ausübung des Volkswillens gegeben. Damit hätte man ernsthaft eine der demokratischen Errungenschaften eingeschränkt, die als bedeutendste in der Verfassung von 1999 angesehen wird. Ebenfalls problematisch sind die Artikel, die sich auf die Erweiterung der Rechte des Präsidenten beziehen, den Ausnahmezustand auszurufen. In den vorgeschlagenen Veränderungen wurde u. a. das Recht auf Information (Artikel 337) abgeschafft. Eliminiert wurde ebenfalls der Passus, der im Ausnahmezustand die Erfüllung des Internationalen Vertrages der zivilen und politischen Rechte und der Amerikanischen Konvention über die Menschenrechte (Artikel 339) garantiert. Obwohl in der aktuellen Verfassung zeitliche Limits für jede Art Ausnahmezustand vorgesehen sind, wird im Reformvorschlag gesagt, "dass diese aufrechterhalten werden, solange die Ursachen für ihre Durchführung erhalten bleiben" (Artikel 338). Ebenfalls abgeschafft werden sollte die Forderung, dass das Oberste Gericht sich "zu seiner Verfassungskonformität äußert" (Artikel 339).

Wenn wir unter dem Prozess der Demokratisierung die progressive und immer breitere Verteilung der Macht in der Gesellschaft verstehen, d. h. also eine umfassende Demokratie, dann ist eine Reform beunruhigend, die in systematischer Form mehr Macht in den Händen des Präsidenten konzentriert. Außer der Verlängerung der präsidialen Amtszeit von sechs auf sieben Jahre und des Wegfalles der Beschränkungen zur Wiederwahl kann der "Staatschef strategische Verteidigungsregionen ausrufen" und in Situationen der Gefahr o. ä., die "die unmittelbare Einmischung des Staates erfordern", spezielle Organe einberufen. Der Staatschef übernimmt und besitzt folgende Möglichkeiten:

"Die Ordnung und Leitung des Territoriums und des territorialen Regimes des Föderalen Distriktes, der Bundesstaaten, der Gemeinden, der föderalen und anderer regionaler Einrichtungen ... Die Schaffung, die Abschaffung, Ordnung und Leitung der Bundesstaaten, strategischen Verteidigungsregionen, der föderalen Territorien, der Gemeinden, der föderalen Städte und Gemeinden, untergeordneter Distrikte, maritimen Regionen und Inseldistrikte" (Artikel 156).

Er hätte außerdem die Möglichkeit, die Führungen dieser neuen, politisch-territorialen Gliederungen abzuberufen oder zu ersetzen (Artikel 236). Er kann den Oberbürgermeister von Caracas austauschen, die oberste Instanz des Föderalen Distrikts kann direkt vom Präsidenten der Republik ernannt werden (vorübergehende Vollmachten). Mit der Annullierung der Autonomie der Zentralbank ginge deren direkte Befugnis an den Präsidenten über und mit der Leitung dieser Institution die Verfügung über die internationalen Reserven des Landes (Artikel 236). Bezüglich der bewaffneten Kräften erweitern sich die Kompetenzen insofern, als dass der Staatschef verantwortlich sein würde für "die Beförderung aller Offiziere der Bolivarianischen Streitkräfte auf der Ebene aller Offiziersgrade und Hierarchien" und die Benennung ihrer Aufgaben und Funktionen (Artikel 236).

Wie oben gesagt wurde, sieht der Reformvorschlag ebenfalls die außerordentliche Befugnis des Präsidenten vor, "den integralen Entwicklungsplan des Landes auszuarbeiten und seine Realisierung zu leiten" (Artikel 236).

Die Veränderung der Machtbeziehungen hinsichtlich der Befugnisse und Finanzen zwischen der nationalen öffentlichen Macht und den staatlichen und kommunalen Bereichen würde eine Verletzung des Artikels 4 der Grundbestimmungen der Verfassung nach sich ziehen. In diesem Artikel wird gesagt:

"Die Bolivarianische Republik Venezuela ist ein dezentralisierter föderaler Staat entsprechend der in der Verfassung festgeschriebenen Bestimmungen, und sie wird auf der Grundlage der Prinzipien der territorialen Integrität, der Kooperation, der Solidarität, der gegenseitigen Unterstützung und der Verhältnismäßigkeit regiert."

Auf dem Gebiet der Erdöl- und Erdgasvorkommen war die Reform mehrdeutig. Die Ungleichbehandlung der Staatsreserven an Erdöl und Erdgas, festgeschrieben in der derzeit gültigen Verfassung, sollte beseitigt werden. Nach den bisher geltenden Gesetzen war eine weitgehende Öffnung des Erdgasmarktes für das transnationale Kapital möglich. Gleichzeitig aber war die Möglichkeit der Privatisierung von Unternehmensfilialen und strategischen Vereinigungen des ‚Erdöl Venezuelas‘ unterbunden. Artikel 303 der vorgeschlagenen neuen Verfassung sieht jedoch nur das Verbot der Privatisierung des Staatsunternehmens "Erdöl Venezuelas S.A. (PVDSA) und der staatlichen Einrichtungen und Unternehmen vor, die ihre Aktivitäten ausschließlich auf nationalem Territorium realisieren ..."

Mit dieser Formulierung wäre nicht verhindert worden, dass gemischte Gesellschaften (existierende oder neu zu bildende), also Unternehmen, die nicht ausschließlich der PVDSA gehören, hätten privatisiert werden können. Das hätte in keiner Weise zur Sicherung des öffentlichen und souveränen Charakters der Industrie beigetragen.

Um eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen zu erreichen, wie im Reformvorschlag attraktiv ausgestaltet (als "Fond der sozialen Stabilität für Arbeiter und Arbeiterinnen auf eigene Kosten" [Artikel 87] und der Verringerung der täglichen Arbeitszeit) wäre eine Verfassungsreform nicht notwendig gewesen. Selbst wenn die Verfassungsnorm ihnen, sowohl im Sinne der universellen sozialen Sicherheit [7] als auch der Verringerung der täglichen Arbeitszeit, mehr Gewicht verliehen hätte, sind diese Punkte bereits in der aktuellen Verfassung enthalten. [8] Daher ist zu fragen, warum die Nationalversammlung in den letzten Jahren keine entsprechenden Gesetze vorbereitet hat? Andere Fragen wie die Gleichheit der Geschlechter in Leitungsorganen, auf den Kandidaten- und Kandidatinnenlisten zu den Wahlen (Artikel 67), das Verbot der Diskriminierung ausgehend von "der ethnischen Abstammung, des Geschlechts, des Alters, der Gesundheit, des Glaubens, der politischen Haltung, der sexuellen Veranlagung, der sozialen oder religiösen Position" (Artikel 21) oder der Gewährleistung von Wohnraum, könnten durch entsprechende Gesetze und ihrer Realisierung garantiert werden.

Andere vorgeschlagene Veränderungen wie die Herabsetzung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre, die Finanzierung politischer Organisationen (ausdrücklich in der aktuellen Verfassung untersagt), die Aufhebung der Beschränkung der Wiederwahl des Präsidenten oder die politisch-territoriale Neugliederung des Landes, können nicht ohne Veränderung des Verfassungstextes durchgeführt werden.

Zusammenfassend:

Es stand eine große Anzahl problematischer Fragen zur Abstimmung. Doch die Bedingungen für eine systematische und informative Debatte waren beschränkt. Für die Wähler gab es zwischen den einzelnen Bereichen der Reformvorschläge keine Abstufung. Dies und das erreichte Niveau der Partizipation, das dank der beschleunigten Politisierung der letzten Jahre in großen Teilen der venezolanischen Bevölkerung vorhanden ist, erklärt die geringe Bereitschaft der Chávez-Wähler, mit ihrer Ja-Stimme die Reformvorschläge zu unterstützen.

4. Der Hauptinhalt der Debatte nach dem Referendum

Die Ablehnung der Verfassungsreform leitet einen neuen politischen Prozess ein, der als Beginn einer politischen Debatte charakterisiert werden kann. Es scheint, als ob die Wahlniederlage eine Tür geöffnet hat, und es nun möglich ist, vielfältige Haltungen auszudrücken, die bisher aus den verschiedensten Gründen wenig öffentliche Äußerungen erfahren haben. Im Folgenden wird eine Auswahl von Texten aufgeführt - ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben -, die die ganze Breite der Debatte widerspiegelt, die von verschiedensten und unterschiedlichsten Ansichten charakterisiert wird, und die sich mit den Transformationsprozessen, die im Lande vor sich gehen, befassen. Im Wesentlichen handelt es sich um Artikel, veröffentlicht bei "Aporrea", dem Onlineportal der venezolanischen Linken, aber auch um Erklärungen und Interviews in der nationalen Presse wie auch um aktuelle analytische Dokumente, die von Intellektuellen, Journalisten und diversen sozialen und politischen Organisationen geschrieben wurden. [9] Die Zielstellung dieser Wiedergabe besteht darin, wichtige Aspekte der Debatte hervorzuheben. Es erfolgt keine Darstellung von unterschiedlichen Positionen in der Opposition oder einer Identifizierung mit Personen und politischen und sozialen Organisationen. Es ist ein Versuch, einzelne Leitgedanken und zentrale politische Themen, die die Debatte durchziehen, darzustellen. Deshalb werden die Organisationen oder Personen, die die Texte schrieben, nicht genannt. Das gestattet es, sich auf die ausgedrückten Ideen und nicht auf die Schreiber zu konzentrieren. Aus den unterschiedlichsten Aspekten, die hervorgehoben werden können, werden hier drei genannt.

Erstens: Vor dem Referendum herrschte ein politisches Klima von Sektierertum und Intoleranz, in dem eine abweichende Meinung als Verrat bezeichnet wurde; nach der Wahlniederlage zur Verfassungsreform begann die Phase einer umfassenden Debatte. Kritik, Sorgen und Meinungsverschiedenheiten, die vor dem Referendum nur in privater Form oder diskret geäußert wurden, wurden jetzt in aller Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht. Damit sind neue Bedingungen für eine umfassende demokratische Debatte entstanden, nicht nur über die Ursachen, die zur Wahlniederlage führten, sondern eine tiefer gehende Debatte über den Fortgang des Transformationsprozesses überhaupt.

Die Form, in der die Ausarbeitung und die Konsultation zum Reformvorschlag erfolgten, wird als Ausdruck einer Tendenz wenig demokratischen Vorgehens im bolivarianischen Prozess angesehen. Es ist auch auffällig, dass der Inhalt der Reform selbst keinen herausragenden Platz in der Debatte einnimmt.

Zweitens muss hervorgehoben werden, dass es - jedenfalls in dieser Phase der Debatte - zwischen den Regierungsfunktionären und politischen Führern einerseits und den Aktivisten und Mitgliedern politischer und sozialer Basisorganisationen andererseits Unterschiede in der Analyse des Abstimmungsverhaltens gibt.

Erstere suchen die Ursache der Niederlage vor allem in der aktuellen Situation und bei den Gegnern des Transformationsprozesses (private Medien, Einwirkungen von außen, Schwächen der Wahlkampagne, das schwache Bewusstseinsniveau und die Bereitschaft des Volkes).

Die andere Seite unterstreicht klar die kritische Position gegenüber des eigentlichen Prozesses (Schwächen in der öffentlichen Führung, Infragestellung des Modells, auch der politischen Führung, das vertikale oder bürokratische Herangehen an die Entscheidungen usw. und die Betonung der Forderung nach mehr Demokratie und Partizipation).

Drittens ist hervorzuheben, dass im Unterschied zum bisher herrschenden Grundtenor, in dem es zwar möglich war, Unzulänglichkeiten der öffentlichen Führung, nicht aber direkt den Präsidenten zu kritisieren, jetzt Kritik ausgedrückt und seine direkte Verantwortung in einigen Fragen angesprochen wird.

Die ersten Reaktionen von Präsident Chávez waren ambivalent. Noch am Morgen, an dem die Ergebnisse bekannt wurden, erklärte er, dass der Reformvorschlag zwar "im Moment" abgelehnt worden ist, er ihn aber in seiner Gänze weiter vorantreiben werde. Er anerkannte, dass das Volk seine Meinung gesagt hatte und auf die Meinung des Volkes gehört werden muss. Das konnte man verstehen als Notwendigkeit, kritisch Bilanz zu ziehen, schließlich hatten sich drei Millionen Chávez-Wähler der Stimme enthalten.

In den Tagen danach änderte sich der Ton, schon gab es keine Ambivalenz mehr, es fehlte eine selbstkritische Analyse.

"Verloren wurde in den barrios, Millionen gingen nicht wählen. Ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber ihr habt keine Entschuldigung. Es fehlt das Bewusstsein für die Heimat. Ein Revolutionär sucht nicht nach Entschuldigung."

"Jetzt wird gesagt, mir gefällt der Bürgermeister nicht. Was hat der Bürgermeister damit zu tun? Weder der Bürgermeister noch der Gouverneur haben damit etwas zu tun. Das sind Entschuldigungen der Schwachen, der Feigen und der Kraftlosen, derer, die kein Bewusstsein haben."

"Demjenigen, der mir in dieser Zeit - nach neun Jahren Revolution - kommt und sagt, dass er nicht wählen war, weil er kein Stipendium bekommen hat, weil seine Tochter keinen Studienplatz in der Universität bekam, er keinen Kredit erhalten hat, schon seit drei Jahren auf eine Wohnung wartet, dem würde ich sagen, dass er lieber zur Opposition gehen soll. Dem würde ich sagen, dass er kein Revolutionär ist. Am Ende bleibe ich mit vier revolutionären Abgeordneten allein. Willkommen! Ich ziehe wahre Revolutionäre vor, keine Ramschrevolutionäre. Seien wir bereit, unsere privaten Interessen hintenanzustellen." [10]

Damit scheint auch der Ton für andere Regierungsmitglieder vorgegeben zu sein. Anfänglich wurden für die Niederlage im Referendum drei Erklärungsversuche abgegeben. Der erste bezieht sich auf die Rolle des US-Imperialismus, seine Unterstützung für die venezolanische Opposition und die Rolle der privaten (oppositionellen) Medien, die durch Desinformation und Verzerrung des Inhalts des Reformvorschlages, Unsicherheit und Angst unter den Menschen verbreiteten: "Die mediale Manipulation führt dazu, dass die Menschen zweifeln, Furcht empfinden und falsches Verhalten im Bewusstsein zeigen."

"Was wir wissen müssen, ist, dass drei Millionen Menschen nicht gewählt haben. Ich denke, sie wurden durch die Meldungen der Opposition manipuliert."

Ein zweiter Erklärungsversuch bezieht sich auf die Grenzen und Fehler der Kampagne selbst. Hervorgehoben wird, dass es nicht gelang, eine Wahlkampagne zu organisieren, die in der Lage war, die Chávez-Wähler von den Vorzügen der Reform zu überzeugen. Schuld wird einigen politisch-organisatorischen Instanzen und Leitern zugewiesen, die ihrer Verantwortung nicht richtig nachgekommen sein sollen.

Und zum Dritten, Erklärungen, die mit denen von Präsident Chávez übereinstimmen und dem Volk wegen seines niedrigen Niveaus oder dem Fehlen des revolutionären Bewusstseins die Schuld geben:

"Ein Element, das dem Siege schadete, war das Fehlen des revolutionären Bewusstseins."

5. Die notwendige Forderung nach einer kritischen und selbstkritischen Debatte

Ein erster Aspekt, der in Stellungnahmen von Aktivisten und politischen und sozialen Organisationen zum Ausdruck kommt, ist die Forderung nach einer Debatte und die Notwendigkeit der kritischen Auseinandersetzung: "Kritisches Herangehen, so riskant es auch sein mag, ist zwischen denen, die am Transformationsprozess beteiligt sind, erforderlich."

Äußere Faktoren, die den Prozess beeinflusst haben, werden nicht deutlich erfasst: "Womit ich nicht einverstanden bin, ist, dass der Imperialismus als Vorwand für unsere Fehler, Unfähigkeit und Verantwortung benutzt wird. Die Suche nach dem Geheimnis unserer Wahlniederlage in den dunklen Wandelgängen des Pentagon übersieht dabei die offensichtlichen Wahrheiten und inneren Ursachen; was sich und warum es sich abgespielt hat. Im Grunde genommen war die Wahlniederlage vorauszusehen, obwohl nicht erwünscht, kam sie nicht so unerwartet."

Kategorisch abgelehnt wird die Einschätzung, dass die Ursachen der Niederlage in der Faulheit des Volkes und seinem geringen politischen Bewusstsein liegen sollen: "Drohungen, Kriminalisierung und schlechte Behandlung sind schlechte Ratgeber in der Situation einer Niederlage, in der direkte Verantwortung auszumachen ist. Es wäre kontraproduktiv, die Spirale der Niederlage und der Fehler weiter zu drehen. Die Fehler können nicht beim Volk, sondern müssen bei denen gesucht werden, die nicht verstanden haben, es zu mobilisieren und zu überzeugen. Die Schuld liegt woanders. Die Niederlage trägt das Volk, aber nicht angesichts eines unfehlbaren Führers, nicht angesichts eines cäsaristischen Mythos. Die Verantwortung für die Niederlage liegt bei der politischen Führung der Revolution, einschließlich ihres Präsidenten Chávez. Das ist die nüchterne Wahrheit. Es ist schmerzhaft, sie zu erkennen, aber damit muss begonnen werden."

"Wir lehnen die Einschätzung ab, wonach wir nicht vorbereitet waren und auch dass es nicht der passende Moment für die Reform war. Das Volk, das sich enthalten hat, ist das gleiche, das heroische Seiten in unserer jüngsten Vergangenheit geschrieben hat, das sich der Manipulation und der Oligarchie widersetzte, das keinen Moment gezögert hat, alles für die Revolution zu geben und in vorangegangenen Wahlen massiv für den Präsidenten und das revolutionäre Projekt gestimmt hat."

Für viele ist die Entscheidung von Millionen von Wählern keinesfalls Ausdruck geringer politischer Bildung, sondern genau das Gegenteil: Ausdruck der gewachsenen Politisierung und der Forderung des Volkes nach mehr Gewicht und Partizipation.

Als Erklärung für die Wahlniederlage wird gesagt, dass der Reformvorschlag oben ausgearbeitet wurde und nicht Ergebnis einer umfassenden Partizipation von unten war. Es handelte sich aus dieser Sicht um einen Vorschlag, der der demokratischen Partizipation, die dank der Politisierung des Volkes in diesen Jahren vor sich ging, entgegenstand.

"Der extreme Subjektivismus und die mit der Ausarbeitung beauftragte Kommission stimmten in keiner Weise mit der öffentlichen Partizipation und Initiative überein. Die Führung hat das politische Bewusstsein des Volkes in diesen Wahlen unterschätzt." "Es war ein Fehler, das Referendum in einen Akt der persönlichen Loyalität gegenüber dem Präsidenten zu verwandeln."

"Das Volk besitzt heute mehr Kultur und politisches Bewusstsein. Das ist eine Errungenschaft der Revolution von Präsident Chávez. Das Volk kann nicht beschuldigt werden, gegen gravierende Fehler nicht protestiert zu haben. Es stimmte nicht gegen das Ja. Es zog vor, weitere Überlegungen anzustellen. Dafür muss man dankbar sein."

"Mit anderen Worten: Die Führung vergaß das Subjekt, das Volk, und wollte sich selbst erhöhen und dachte, selbst Subjekt der Revolution zu sein. So machten sie eine Reform ,aus ihrer Hand und ihrer Feder‘, bei der sie einige Inhalte, die die Straße interessieren, aufgriffen. Es blieb kein Raum für die Partizipation des Volkes, was Millionen Menschen den Grund gab, nicht wählen zu gehen, was für den revolutionären Prozess bitter ist."

"In Folge der propagandistischen Erpressung, die realisiert wurde, um das Referendum in ein Plebiszit zu verwandeln und es zu einer Abstimmung der Loyalität zu machen, wurde ein grundsätzlicher Protest im chávistischen Lager deutlich. Drei Millionen Venezolaner hielten es nicht für angebracht, zur Wahl zu gehen. Wenn thematisch abgestimmt worden wäre, hätte es noch eine höhere Zahl von Stimmenthaltungen gegeben."

6. Ein Blick auf die Situation nach dem Referendum

Die kritische Analyse des Referendums beschränkt sich nicht nur auf das, was im Vorfeld des Referendums selbst ablief (beginnend mit der Schaffung der Kommission für die Ausarbeitung des Vorschlages bis zur Wahl am 2. Dezember). Das Referendum wurde zum Anlass für eine umfassendere Debatte über die aktuellen Bedingungen und die Beschränkungen des bolivarianischen Prozesses genommen. Obwohl es sich um Fragen handelt, die unmittelbar miteinander verbunden sind, ist es möglich, diese kritische Debatte in zwei Blöcke zusammenzufassen: zum einen in Bezug auf die öffentlichen Organe (Unsicherheit, fehlende Dienstleistungen, ungenügende Versorgung mit Lebensmitteln, Korruption, Inflation) und zum anderen in Bezug auf politische Aspekte, speziell wegen der Beschränkungen zur vollen Umsetzung der Demokratie und der Partizipation.

7. Über die Ungereimtheiten in den öffentlichen Organen, Unsicherheit und die Korruption

In vielen Meinungsäußerungen wird die Unzufriedenheit des Volkes mit der wachsenden Distanz zwischen der Rhetorik der Revolution und den täglichen Bedürfnissen der Menschen zum Ausdruck gebracht. Hervorgehoben werden vor allem die Ineffizienz der öffentlichen Organe, die Abgehobenheit der Angestellten der öffentlichen Organe, die Vetternwirtschaft, das Fehlen von Nahrungsmitteln, fehlende Umsetzung der Programme, die Unsicherheit, die Korruption und die Inflation.

"Es gibt Unzufriedenheit unter der Bevölkerung, weil eine Reihe von Grundbedürfnissen unzureichend befriedigt wurde, wie Wohnung, Land, Arbeit, Bildung und soziale Sicherheit. Verbunden damit ist die Bürokratie und die Korruption in den Staatsorganen."

"Ein anderer Faktor, der aus der Analyse nicht ausgeschlossen werden kann, ist die nicht zu übersehende Unzufriedenheit des Volkes mit Gouverneuren, Bürgermeistern und Funktionären, die sich nicht ausreichend um die Bedürfnisse der Menschen kümmern. In manchen Fällen erweisen sie sich als anmaßend und teilnahmslos gegenüber den Forderungen des Souveräns. Der Reformvorschlag wird in diesem Sinne auch so gesehen, als ob eine Kultur der Vetternwirtschaft vorherrscht."

"Große Schwächen in der öffentlichen Administration haben bedeutende Teile der Bevölkerung unzufrieden werden lassen. Verzeichnet wird ein Widerspruch des Redens über die Revolution und ihrer praktische Ausführung. Probleme, wie die schlechte Versorgung, die nach dem Erdöl-Streik 2002/2003 anscheinend gelöst schienen, haben jetzt Sorgen und Verwirrung in der Bevölkerung hervorgerufen." "Heute fühlen sich die Chávisten belogen, weil die Reden einerseits und die Realität andererseits auseinanderklaffen. Deshalb sagen mir die Leute, dass sie sich verschaukelt fühlen. Sie wollen, dass die Bürgermeister und Gouverneure ihr Vertrauen genießen und nicht das des Präsidenten. Was haben die Vertrauensleute des Präsidenten aus Caracas gemacht?"

"Was haben die Barretos, die Bernals, die Rangels gemacht? Ich sage Ihnen: gar nichts. Ich bitte Sie lediglich, einen Spaziergang durch das Zentrum von Caracas zu machen ... Danach reden wir über die Revolution."

"Die Wahlniederlage kann nicht fast ausschließlich der Tätigkeit derjenigen zugeschrieben werden, die die Veränderungen politisch und ideologisch ablehnen. Es hat vielmehr mit der Art und Weise zu tun, wie der bolivarianische Prozess bis heute geführt wird, nämlich von einer politischen Partei- und Staatsführung, die die Laster der Vetternwirtschaft und den Reformismus geerbt hat, d. h. von Vertretern, die sich in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht von ihren Vorgängern unterscheiden."

"... und die sich im Jahre 2007 fast völlige von ihren Missionen (v. a. vom Programm Barrio adentro) verabschiedet hat. Das Ganze ist verbunden mit Ineffektivität der Regionalregierungen, in den Bürgermeistereien und dem Fehlen der Bindungen zu unseren Räten und regionalen Abgeordneten des Volkes."

"Die Tätigkeit der öffentlichen Dienste ... Wir können sie als völlig unzureichend charakterisieren. Die Einwohner sagen: Nach acht Jahren Tätigkeit der Regionalregierung und der Gemeinde sind die aktuellen Bedingungen extrem schlecht (Befahrbarkeit der Straßen, Versorgung mit Energie, Müllabfuhr, Brauchwasser, Kultur und Gesundheit) ... Wohin führt uns der Sozialismus des 21. Jahrhunderts?"

Ein weiterer Punkt der Kritik ist die Korruption, auch die überhöhten Gehaltszahlungen an viele Funktionäre, die Zurschaustellung ihres Eigentums und ihr Konsumgebaren:

"Wir haben die Korruption und die Arroganz der Bürgermeister über, die unsere Probleme nicht lösen und die Vereinigte Sozialistische Partei und die Gemeinderäte manipulieren. Sie nutzen es aus, dass wir arm sind und offerieren bestimmten Leuten Unterstützungen in Höhe von 500.000 Bolivar, damit sie die Volksorganisationen kontrollieren ... Von welcher Art Sozialismus sprechen wir?"

"Der Überfluss mancher Funktionäre ... Es entstehen Fragen: Nach acht Jahren Regierung essen sie schon Hummer und haben Landbesitz? Deshalb: Wohin führt uns der Sozialismus des 21. Jahrhunderts?"

"Notwendig wird eine Revolution in der Revolution, eine Revolution, die das Selbstvertrauen der Menschen stärkt und hilft, sie zu mobilisieren. Die Korrupten müssen weg, um die Macht des Volkes zu stärken. Und das muss im Zentrum der Beschlüsse stehen."

"Die Korruption ist keine neue Krankheit, sie zersetzt die Seele vieler Menschen. Sie ist Teil des Verhaltens vieler Funktionäre ..., sie verdirbt auch bestimmte Militärs. Das Motto ist: Jedes Geschäft bringt etwas. Die Schwarzgeschäfte erzeugen feste Bande mit der Straflosigkeit."

"Offensichtlich muss man begreifen, dass Chávist sein nicht unbedingt heißt, Revolutionär zu sein und umgekehrt. Es gibt Chávisten, die es sind, weil es das Geschäft ihres Lebens ist: Nimm ihnen das Geschäft und sie werfen die rote Baskenmütze weg."

Wiederholt wird die Bedeutung der persönlichen Unsicherheit als Quelle des Unbehagens des Volkes hervorgehoben: "Nehmen Sie zur Kenntnis, Herr Minister, dass einer der Gründe, weshalb die Abstimmung zum Referendum verlorenging, das Fehlen der Unterstützung seitens das Staates war. Das ist ein Gefühl, das alle Bürger dieses Landes haben. Das Gefühl, dass gegen das Gaunertum, das täglich alle Familien und alle politischen Tendenzen betrifft, vorgegangen werden muss."

"Wenig Lust, wählen und auf die Straße zu gehen, wird hervorgerufen, wenn man dem Müll und dem Dreck, den Straßenhändlern, die den öffentlichen Raum besetzen, ausweichen muss. Man riskiert das Leben in einer Situation der Unsicherheit (wenn dich der Nachbar nicht erschlägt, dann ist es die Polizei) oder man wird um Jahre älter, wenn man auf der Straße in den teuflischen Staus verkommt."

"Andere von der Bevölkerung wahrgenommene Probleme sind die Unsicherheit und die Inflation. Diese sind nicht unter Kontrolle gebracht worden und beeinflussen täglich die Unterstützung der Bevölkerung für die Revolution. Die Kriminellen agieren frei im ganzen Lande. Das geht so weit, dass die Grenze zwischen Polizei und kriminellen Gruppen verlorenging."

"Sehen Sie, hier in Petare hat jede Familie einen Toten zu beklagen, der von den Gaunern umgebracht wurde. Das interessiert aber niemanden. Das ist schon tägliches Geschehen. Ist das unser mit Blut geschriebenes Schicksal? Ein Toter mehr. Pure Statistik."

8. Die Grundlinien der politischen Debatte

Ein wesentlicher Teil der kritischen Debatte betrifft die Notwendigkeit der Vertiefung demokratischer Praktiken, wobei die Beschränkungen der Demokratie sowohl der Niederlage im Referendum zugeschrieben werden wie auch als ernsthafte Risiken für diesen Prozess gesehen werden. Gefordert wird die Weiterführung der Debatte als Meinungsstreit. Es wird hervorgehoben, dass sich ein vertikaler Leitungsstil durchgesetzt hat, nicht nur im Führungsstil von Präsident Chávez, sondern auch im Prozess der Formierung der Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und in den Beziehungen der Regierungsvertreter gegenüber den sozialen Bewegungen. Letztlich wird die Notwendigkeit betont, autonome, soziale und politische Organisationen zu haben, wobei deren Beschränkungen gegenüber staatlichen Organisationen hervorgehoben werden. Es wird aufgerufen, die aktuelle Situation zu nutzen, um die Debatte zu vertiefen.

"Zuerst geht es um die Führung einer umfassenden und intensiven Debatte an der Basis, zwischen den Volksvertretern, zwischen Sprechern und Delegierten der PSUV und zwischen den sozialen Bewegungen."

"Es darf hinsichtlich interner Zwiste der Ideenaustausch nicht unterschätzt werden. Innerhalb des Chávismus muss das Nachdenken über den Weg hinaus, hin zur Kritik gefunden werden. Nichts richtet mehr Schaden an als heuchlerisches Schweigen an Stelle von Kritik."

"Für die Niederlage gibt es keine andere Erklärung als das permanente Fehlen der Debatte unter den Revolutionären, die es mit Klarheit gestattet, die richtige Taktik von der falschen zu unterscheiden. Ohne diese Debatte agieren wir voluntaristisch und manchmal auch blind, während der Bürokratismus, die vertikale Struktur und das Autoritäre uns zerstören. Und so gestatten wir es uns das eine und andere Mal, eine Reihe von kommunikativen Dummheiten zu begehen, die uns zu einem großen Teil in die jetzige bittere Situation geführt haben. Und Präsident Chávez ist der Hauptverantwortliche, er selbst muss diese Verantwortung übernehmen, weil er der Kapitän diese Schiffes ist. Auch deshalb, weil er nicht nur einmal Initiator sektiererischer, anmaßender und autoritärer Erscheinungen in vielen Bereichen des revolutionären Lagers war."

"Mehr als einmal haben wir über die Einstellung sozialer Projekte diskutiert und über die überraschende Veränderung einiger führender Funktionäre. Gesprochen wurde über die absurde Politik, dass alles, was wir Chávisten machen, vom Präsidenten jedes Mal kommentiert, beklatscht und bekrittelt wird. Vergessen werden dabei die elementarsten revolutionären Prinzipien, wie die Diskussion, die Selbstkritik und die ständige Infragestellung."

Einer der Aspekte der Debatte, auf den viel Wert gelegt wird, ist die Frage nach dem Typ der Gesellschaft, die aufgebaut werden soll. Ebenfalls betont wird die Notwendigkeit, sektiererische und ausschließende Faktoren zu überwinden, die bis heute die Debatte bestimmen, und die Dringlichkeit von offenen politischen Vorschlägen und Ideen, mit denen die Schichten unserer Gesellschaft erreicht werden können, die sich bisher noch nicht mit dem bolivarianischen Prozess identifizieren, aber in keiner Weise der Oligarchie zugerechnet werden können. Das sind Vorschläge, die darauf abzielen, eine Politik durchzuführen, die das Gut-Böse- oder Freund-Feind-Schema überwindet und sich auf die Entwicklung einer demokratischen Gegenhegemonie konzentriert. Die anderen, die Nicht-Chávisten (das sind 40% der Bevölkerung), müssen anerkannt werden und mit Vorschlägen und Ideen politisch einbezogen und nicht ausgegrenzt werden.

"Es gibt keine partizipative Demokratie ohne beratende Demokratie." "Es muss weiter für den Sozialismus gekämpft werden, aber es muss verstanden werden, zwischen einer autoritären Hegemonie und einer demokratischen Gegenhegemonie zu unterscheiden. Einheit in der Vielfalt ist der gangbare Weg zu einem pluralen und libertären Sozialismus. Jeder Sozialismus, der die politische Pluralität direkt oder indirekt beseitigt, wird im Volke nicht bestehen."

"Der Unterschied der Wählerstimmen zwischen Ja und Nein ... bestätigt in überzeugender Weise: Die Unterschiede der Venezolaner ähneln denen, die auch in allen anderen Ländern der Region vorhanden sind. Die Menschen der Mitte sind nicht zu unterwerfen, aber sie werden gebraucht."

"Die Regierung muss die Vorurteile beiseite lassen und anerkennen, dass eine Hälfte des Landes gegen sie ist. Deshalb muss sie bestrebt sein, diese auf demokratischem Wege zu erobern."

"Die Revolution wurde nicht verraten, nicht von einem, nicht von allen, sie erreicht nicht die Enttäuschten, sie zieht sie nicht heran, sie liebt sie nicht. Hauptverantwortlich für diese Unfähigkeiten sind die Unstimmigkeit der politischen Kommunikation und die Botschaften, die von den sektiererischen Teilen des Chávismus ausgehen und von aktuellen Vorkommnissen verstärkt wurden. Wir treten ein für eine verstärkte politische Kommunikation und für eine Öffnung hin zu den Menschen der Mittelklasse, die keine Chávisten sind (und auch keinen Grund haben, es zu sein) und die auch weder Putschisten sind noch mit antidemokratischen Aktivitäten zu tun haben."

"Es muss damit begonnen werden, die Herzen zu öffnen, und es müssen Strategien gegen die Manipulation erarbeitet werden. Es muss erreicht werden, dass wir nicht nur das Verhältnis 60:40 verändern und wenigsten ein Verhältnis von 80:20 zwischen Chávisten und Antichávisten erreichen, sondern auch, dass wir Menschen haben, die bereit sind, für die Souveränität und Unabhängigkeit unseres Landes zu arbeiten - selbst wenn 20% der Bevölkerung unausweichlich Feinde unserer Demokratie bleiben. Der simple Radikalismus bringt nicht die Voraussetzung mit, diese taktische Aufgabe zu lösen. Es ist Aufgabe der Führung, die Verantwortung für die Veränderung der politischen Kommunikation zu übernehmen."

"Die drei Millionen, die sich der Stimme enthielten, sind keine Verräter, keine vom Imperialismus gekauften, keine schwachen Menschen. Die vier Millionen, die mit Nein stimmten, sind keine vier Millionen Oligarchen (ohne dabei zu übersehen, dass einige Stimmen - allerdings in geringer Zahl - den Chávismus abstrafen wollten). Sie gehören nicht zu einer Armee von sieben Millionen feindlicher Personen. Es muss eine Politik gemacht werden, die diese Menschen gewinnt und die falsche Politik ,Freund oder Feind‘ überwunden wird. Es müssen Räume für die Debatte geschaffen werden, auch für die eigene revolutionäre Kritik, die die Politik und die offizielle Sprache durchdringt."

Neu in der aktuellen Debatte ist auch die Häufigkeit, mit der der Führungsstil des Präsidenten hinterfragt wird - ohne dabei seine Rolle in Frage zu stellen, die er im gesamten Prozess gespielt hat und spielt. Hinterfragt wird auch die unkritische und opportunistische Unterwürfigkeit vieler, die ihn umgeben.

"Große Verantwortung für die Niederlage tragen die, die Präsident Chávez davon überzeugten, dass die Revolution ausschließlich von seiner Person abhängt. Ein Fehler! Wahrscheinlich gäbe es ohne Präsident Chávez keine Revolution, aber es gibt sie auch nicht nur mit Präsident Chávez."

"Präsident Chávez braucht Menschen um sich herum, die ihm sagen, was los ist."

"Ist nicht derjenige ein Verräter, der bedingungslose Ergebenheit vortäuscht, im Unterschied zu denen, die offen ihre Kritik und Warnungen äußern?"

"Es ist ganz einfach, wenn du (gemeint ist Präsident Chávez) anerkennst und wir es akzeptieren, dass das Volk die Basis ist. Es ist nicht der erhobene Finger, der einen anderen Sozialismus fördert. Es ist die ideologische Kraft, die uns vorwärts bewegt." "... selbst Präsident Chávez hat seinen Teil an Verantwortung, wenn er sich mit einer Truppe von Schmeichlern und Reformisten umgibt und diejenigen ausschließt, die ihm helfen könnten, eine wirkliche sozialistische Revolution durchzuführen. Aber diese sind Opfer des irrationalen Sektierertums und des Pragmatismus ..."

"Gleichzeitig glauben wir, obwohl die Kritik hart ist (es ist aber der Moment, um sie anzubringen), dass mit den Ergebnissen des 2.12. die Ausnahmestellung und das Kriterium der Unfehlbarkeit unseres Kommandanten Präsident Chávez in Frage gestellt wird."

"Das ist die Debatte, die wir brauchen, Genossen: Entweder wir gewöhnen uns daran, Präsident Chávez und seinen Gleichgesinnten laut zu sagen, dass sie sich irren können, oder dieser Sozialismus, den wir haben wollen, ist pure Phantasie."

"Es gibt auch solche, die vor allem sagen, dass Präsident Chávez unersetzbar ist."

Hervorgehoben werden Fragen der vertikalen Struktur und der Einschränkungen der Partizipation während der Referendumskampagne, auch in Bezug auf den Prozess der Bildung der PSUV und die Probleme in vielen Sektoren der öffentlichen Führung.

"Keine der großen sozialen Organisationen wurde während der Ausarbeitung des Referendums konsultiert, nicht während der Zeit als sich die Leitung zusammensetzte, auch nicht danach, als sie schon ihre Tätigkeit aufgenommen hatte. Die Vertreter der Basis wurden ignoriert."

"Im Prozess der Bildung der PSUV setzte sich im Allgemeinen eine autoritäre Leitung der politischen Tätigkeit durch. Die PSUV wird von Personen angeführt, die von niemandem gewählt wurden. Ausgeschlossen wurden solche, die einzelne Fragen kritisierten, bspw. der Genosse Luis Tascon. Völlig diskriminierte Personen setzten sich auf bürokratischem Wege an die Spitze, genutzt wurden persönliche Beziehungen."

"Die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas ... diese Partei, von oben her geboren, wird als Institution geschaffen, die als eine willkommene Gelegenheit für Opportunisten angesehen wird."

"... einer der Gründe der geringen Wahlbeteiligung von Lehrern und Studenten kann die Realisierung einer falschen Politik seitens des Bildungsministeriums sein. Sie wurden nicht konsultiert, nichts wurde seitens des Ministeriums getan, um den Inhalt der Reform bekannt zu machen."

Einer der strittigsten Aspekte der Konzepte und Praktiken der Regierung und der politischen Führung des Transformationsprozesses bezieht sich auf die dirigistische Leitung des Staates gegenüber den sozialen und politischen Organisationen. Damit steht die Kernfrage der politischen und organisatorischen Autonomie dieser Organisationen zur Debatte, die eine Bedingung für die Vertiefung der Demokratie ist. Diese Frage durchzieht einen bedeutenden Teil der gegenwärtigen Debatte.

"Festgestellt wird eine Schwächung der Organisationen und sozialen Bewegungen, deren Autonomie beschnitten wird und die gezwungen werden, sich öffentlichen und politischen Organisationen unterzuordnen. Dies hat die sozialen Bewegungen geschwächt. Manche haben sich aufgelöst, andere wurden in ihrer Arbeitsfähigkeit beschnitten. Sie sollten sich der ,offiziellen Linie‘ unterordnen."

"Wir sind für die Stimmenthaltung auch selbst verantwortlich. Wir waren nicht fähig, das Unbehagen des Volkes in Mobilisierung und Protest umzusetzen, mit denen wir die Bürokraten gezwungen hätten, den Forderungen des Volkes nachzukommen. Wir dachten, dass der politische Moment zur Mobilisierung nicht geeignet sei.

Verwechselt wurde die Loyalität gegenüber dem Präsidenten mit den gegen das Volk gerichteten, ungerechten und verwerflichen Machenschaften der Politiker und Regierungsbeamten, die keine Verbindung zum venezolanischen Volke haben."

"Um diese Ziele zu erreichen, müssen wir die historischen Widersprüche überwinden: die Schwächung der Volksbewegung, den Antagonismus mit dem bourgeoisen Staat und was wir unter einer revolutionären Situation auf der Basis des wachsenden Protestes seitens des Volkes verstehen. Die Einheit der Volksbewegung auf der nationalen Ebene ist möglich, wenn wir uns durch die Kämpfe, die Erfolge, die Errungenschaften des Volkes miteinander verbinden, die unsere Verschiedenartigkeit respektieren und unseren Kampf anerkennen."

"... heute sind die Widersprüche der Volksmacht gegenüber dem Staat mehr und mehr zugespitzt. Ein Beispiel dafür sind die jüngsten Proteste, die nicht mehr zu verschweigen sind. Das Volk verlangt mehr Partizipation, d. h. reelle Teilnahme an der Ausübung der Macht durch die Bildung der kommunalen Selbstverwaltungen. Diese sollen keineswegs einfache Befehlsausführer und Vermittler der öffentlichen Politik sein, die im Falle ihres Misserfolges die Organisationen des Volkes dafür verantwortlich machen."

"Präsidentenkommission der Studenten... es gelang nicht, sie als richtige Studentenbewegung zu schaffen. Die Studentengruppe, die außerordentlich positiv in der Nationalversammlung (AN) sprach und die ein Gegengewicht gegen die oppositionelle Studentenbewegung darstellte, endete faktisch als bürokratischer Apparat wie andere Organisationen auch, die der Präsident per Dekret bilden ließ, ohne die natürlichen Organisationen zu konsultieren, nämlich die FBE, die Front Fransisco de Miranda (Frente Fransisco de Miranda).

" Das Thema Autonomie wurde besonders in den gewerkschaftlichen Organisationen diskutiert, d. h. in einem Bereich, in dem die Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und den sozialen Organisationen und der Partei und den Gewerkschaften historisch geprägt sind. Die Existenz einer fest verwurzelten sozialistischen politischen Kultur in einigen Sektoren der Gewerkschaften und die Existenz einiger trotzkistischer Gewerkschaftsführer gibt diesen Debatten noch besonderen Ausdruck. Es gibt Kritik am Ministerium für Arbeit, das versucht hatte, die Gewerkschaftsbewegung durch die Regierung zu steuern.

"Auf der Ebene der Gewerkschaften kann die Situation nicht schlechter sein. In neun Jahren gab es keine klaren Richtlinien seitens der Regierung, um die Entwicklung einer machtvollen Arbeiterbewegung zu gewährleisten und zu fördern, die der Unterstützung des revolutionären Prozesse gedient hätte. Im Gegenteil, es herrschten antigewerkschaftliche Praktiken seitens leitender Staatsfunktionäre vor." "Das ist die Stunde der demokratischen Debatte im Schoße des Chávismus. Es ist die Stunde der gemeinsamen Beschlüsse auf der Basis der gegenseitigen Anerkennung der politischen Unterschiede und der Existenz unterschiedlicher gewerkschaftlicher Tendenzen. Wenn die Regierung ihren Kurs nicht sofort korrigiert, wird die Unterstützung des Volkes für den Transformationsprozess geschwächt werden, so dass die Revolution weitere Niederlagen erleiden wird."

"Gewerkschafter der Basis fordern eine sofortige Veränderung im Ministerium für Arbeit, weil von dort so viele überstürzte Maßnahmen ausgehen und die Gewerkschaften vereinnahmt werden sollen. Das zeugt von Unkenntnis der demokratisch erarbeiteten Direktiven. Das Gleiche geht in anderen Bereichen ebenfalls vor sich."

"Es ist erforderlich, unsere Tätigkeit zur Partizipation an der Organisation der lokalen Strukturen wieder aufzunehmen, allerdings keinesfalls in Verbindung mit professionellen Politikern und Verhinderern der autonomen Partizipation der Kollektive."

"Es handelt sich um den Aufbau des Sozialismus der demokratischen Mehrheit. Nicht mehr und nicht weniger. Dazu ist es nicht erforderlich, die Debatte zu radikalisieren. Vertieft werden müssen die sozialistischen, demokratischen und revolutionären Praktiken von unten, hingewandt zur organischen Errichtung der autonomen, demokratischen und revolutionären Volksmacht."

9. Der venezolanische politische Prozess im Lichte einer kritischen Alternative

Mit der Niederlage des Vorschlages der Verfassungsreform eröffnet sich in Venezuela eine kritische Alternative. Es geht um eine große Zahl von Fragen und Optionen, deren Lösung in hohem Maße von der Vertiefung der Demokratie des Transformationsprozesses abhängt, den das Land durchlebt. Das Risiko seiner Kehrtwende besteht. Es scheint offensichtlich, dass es viel Unbehagen mit zahlreichen Aspekten der Leitung des Staatsapparates gibt. Dazu gehören Forderungen zur Vertiefung der Demokratie und Partizipation. Das erste Mal in all den Jahren kann festgestellt werden, dass eine Debatte eröffnet wurde, die auch den Führungsstil von Präsident Chávez einschließt.

Es ist offenkundig, dass es einerseits starke Spannungen gibt zwischen Tendenzen, den Etatismus zu verstärken und die vertikale bürokratische Kontrolle im Transformationsprozess durchzusetzen und andererseits der Forderung nach demokratischer Öffnung, nach freiem Austausch von Ideen, nach mehr Pluralität und der Notwendigkeit der Verbreiterung der Basis für die politische Unterstützung des Wechsels. Dazu gehört auch die Stärkung der Autonomie der sozialen Organisationen. Von der Stärkung der demokratischen Optionen wird nicht nur der Charakter einer alternativen Gesellschaft abhängen. In gleicher Weise hängt davon auch die Fähigkeit ab, wie sie inneren und äußeren Gefahren widersteht, die es ohne Zweifel auch weiterhin geben wird.

Die Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen 2008 erfordern eine Festlegung der Richtung der Optionen, die heute in Frage stehen. In der Bevölkerung gibt es große Unzufriedenheit mit Bürgermeistern und Gouverneuren, die man als eingesetzte Kandidaten betrachtet. Für sie wird man nur aus Loyalität zu Präsident Chávez stimmen, obwohl sie in vielen Fällen als ineffektiv, sogar korrupt, gelten. Die demonstrierte Autonomie von Millionen Wählern, vor die Alternative Präsident Chávez oder Bush gestellt, lässt die Schlussfolgerung zu, dass der Wähler sich anders verhalten wird. Wenn versucht wird, Kandidaten von oben mit Hilfe des Staates durchzudrücken oder aufgerufen wird, sich loyal gegenüber Präsident Chávez zu verhalten, wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Opposition gestärkt aus diesen Wahlen hervorgehen. Im schlechtesten Falle würde das der Anfang vom Ende sein, d. h. es könnte zu einem Abberufungsreferendum oder sogar zu einem Sieg des Präsidentschaftskandidaten der Opposition im Jahr 2012 führen.

Wenn aber andererseits die allgemeine Forderung nach mehr Transparenz und Partizipation anerkannt wird, wenn die Wege und Mechanismen der Auswahl der Kandidaten offen, partizipativ und demokratisch gestaltet und Initiativen von unten mit Anerkennung der neuen lokalen und regionalen Führungskräfte gefördert werden, und ein starkes Signal gegeben wird, dass "die Stimme des Volkes" gehört wird, dann wird es möglich sein, eine neue reichere Phase einzuleiten, in der der Transformationsprozess konsolidiert, vertieft und vor allem demokratisiert wird. Nur dieser Weg würde die venezolanische Erfahrung als echte und neue postkapitalistische und demokratische Alternative sichern.

Caracas, Dezember 2007

[1] Die 69 Artikel des Reformvorschlages der Verfassung wurden dem Wähler in zwei Blöcken vorgelegt. Da die Differenz der zahlenmäßigen Ergebnisse sehr klein ist, basiert diese Analyse auf den Zahlenergebnissen des Blockes A, in dem zu 33 Artikeln des Präsident-Chávez-Vorschlages abzustimmen war.
[2] Die vorherigen Wahlen, in denen über die Präsidentschaft von Präsident Chávez abgestimmt wurde, waren einmal die Präsidentenwahl 1998, die Präsidentenwahl auf der Basis der neuen Verfassung 2000 und das Abberufungsreferendum 2004.
[3] Barrio adentro, dt. etwa Hinein ins Viertel, ist ein Programm der Regierung, das eine medizinische Grundversorgung vor allem in den Barrios (Armenvierteln) gewährleisten soll. Knapp 15.000 Ärzte, v. a. aus Kuba, arbeiten in sogenannten Gesundheitsstationen. Gerade die Unzulänglichkeiten bei diesem Projekt schaden seinem Image.
[4] Umfrage auf Umfrage zeigt in nachhaltiger Weise, dass die persönlich Unsicherheit in Verlaufe von Jahrzehnten - vor und auch während der jetzigen Regierung - als Hauptproblem des Landes angesehen wurde. Nur in kurzen Zeiträumen spielte die persönliche Sicherheit in Fragen der Arbeitslosigkeit als Hauptproblem laut Umfragen keine Rolle. Hier handelt es sich nicht nur um eine subjektive Auffassung. Nach Angaben des Volksministeriums des Inneren und der Justiz hat sich die Zahl der Selbstmorde, bezogen auf 100.000 Personen, in Caracas und auf der nationalen Ebene in den Jahren von 1998 bis 2006 mehr als verdoppelt. Total hat sich die Anzahl an Selbstmorden von 4550 (1998) auf 12.257 (2006) erhöht. (Provea. Situation der Menschenrechte in Venezuela. Jahresbericht, Oktober 2006/ September 2007, Caracas, Dezember 2007, Seite 336). Mehrheitlich sind vor allem die Bewohner der Volksbezirke (barrios) betroffen, in denen die hauptsächlichste Hilfe der Regierung konzentriert ist.
[5] Es ist schwierig zu bestimmen, ob es heute mehr oder weniger Korruption gibt als zu Zeiten der Vorgängerregierungen. Was aber offensichtlich ist, ist die allgemeine Auffassung, dass es ein erhöhtes Niveau von Korruption und Straflosigkeit gibt. Luxusautos, Luxusgüter, teure Restaurants seitens derjenigen, die sich zu Zeiten dieser Regierung bereichert haben oder derjenigen, die außerordentlich hohe Gehälter beziehen im Vergleich zu den Gehältern der Mehrheit der Bevölkerung, d. h. das Konsumstreben, stellen eine beständige Herausforderung dar. Präsident Chávez hat aus verschiedenen Anlässen darauf aufmerksam gemacht.
[6] Im Artikel 167 des Verfassungsvorschlages ist festgelegt, dass eine der Einnahmenquelle der Bundesstaaten "die Einkünfte aus dem Nationalen Fond des Finanzausgleiches sind, die in einem nationalen Gesetz bestimmt werden, um die sozialökonomischen und klimabedingten Unterschiede in den Regionen und Gemeinschaften zu korrigieren. Die Mittel, die auf der Basis dieses Gesetzes zur Verfügung gestellt werden, werden von den Bundesstaaten, dem Föderalen Distrikt, den Gemeinden und den Einrichtungen der Volksmacht verwaltet. Ihre Verwendung findet in Übereinstimmung mit der im Integralen Nationalen Entwicklungsplan festgelegten Politik statt."
[7] "Alle Menschen haben im Sinne der öffentlichen Tätigkeit nicht lukrativen Charakters Anspruch auf soziale Sicherheit, die ihnen Gesundheit garantiert und Unterstützung im Falle einer Mutter- und Vaterschaft, Krankheit, Invalidität, außergewöhnlichen Krankheiten, Arbeitsunfähigkeit, besonderen Erfordernisse, Arbeitsrisiken, Verlust des Arbeitsplatzes, Arbeitslosigkeit, Alter, Witwenschaft, Waisenstand, besonderer Belastungen familiären Charakters oder irgendwelcher anderen Umstände gewährleistet. Der Staat ist verpflichtet, die Durchsetzung dieses Rechtes auf der Basis eines sozialen, umfassenden, universellen Sicherheitssystems zu gewährleisten. Dieses System beruht auf der Basis einer solidarischen, allgemeinen, effektiven und partizipativen Finanzierung, die sich aus direkten und indirekten Beiträgen zusammensetzt. Das Fehlen eines eigenen Beitrages ist kein Grund, Personen aus diesem Sicherheitssystem auszuschließen." (Artikel 86)
[8] "Die Arbeitszeit überschreitet weder acht Stunden täglich noch 48 Stunden wöchentlich. Die nächtliche Arbeitszeit überschreitet weder sieben Stunden täglich noch 35 Stunden wöchentlich. Kein Unternehmer kann die Arbeiter und Arbeiterinnen zwingen, zusätzliche Stunden zu arbeiten. Es ist eine progressive Verminderung der Arbeitszeit im sozialen Sinne und in bestimmten Bereichen vorgesehen. Die freiwerdende Zeit kann angemessen für die bessere Nutzung der Freizeit zu Gunsten der physischen, kulturellen und geistigen Entwicklung der Arbeiter und Arbeiterinnen genutzt werden." (Artikel 90)
[9] Zur Erklärung sei gesagt, dass hier keine repräsentative Darstellung der Debatte erfolgt, sondern ihr Reichtum und ihre Mannigfaltigkeit gezeigt werden soll.
[10] Maria Lilibeth Da Corte: "Präsident Chávez knurrt seine Anhänger wegen der Niederlage an und sagt ihnen, dass er geht", El Universal, Caracas, 7.12.2007

Das Original des Textes finden Sie auf den Seiten der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Wir bedanken uns bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Übersetzung des Textes und die freundliche Genehmigung zur Übernahme.