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Vivir Bien ("Gut leben")

Zur Entstehung und Inhalt des "Guten Lebens"

"Ich habe zwei Kleider – eines für besondere Anlässe wie zum Beispiel Feste, und eins für alle anderen Tage. Mehr habe ich nicht, und mehr brauche ich auch nicht." So lautete die kurze entschiedene Antwort der Ketschua-Bolivianerin auf die Frage des Moderators "Welche Rolle spielt das wirtschaftliche Wachstum beim Begriff des 'Guten Lebens'"? Bei diesem Anlass trug sie ein dunkles Kleid mit farbenfrohen leuchtenden Ziersäumen am Halsausschnitt, am Oberteil und an den Ärmelenden. Offensichtlich hatte sie also ihr elegantes Festkleid an. Sie saß auf dem Podium neben dem renommierten Geisteswissenschaftler Alberto Acosta aus Ecuador, der mehrere Bücher über "Gutes Leben" geschrieben hat. Persönlichkeiten aus der Dritten Welt waren auch die Hauptreferenten des Attac-Kongresses unter dem Motto "Jenseits des Wachstums?".

Die Menschen, die sich bei dieser Konferenz von Attac im Mai dieses Jahres trafen, staunten nicht schlecht über die Antwort der festlich gekleideten Bolivianerin. Sie hatten ein theoretisches Statement mit ökonomischen Bezugsgrößen oder theoretischen Überlegungen zum Wachstum aus der Sicht des Konzeptes "Gut Leben" erwartet. Die Antwort fiel anders aus. Statt eines Theoriepaketes präsentierte sie ihnen ein Lebensweise-Paket. Der Moderator und die Zuhörer mussten es interpretierend auspacken und seinen Inhalt mit den Theoriepaketen vergleichen, die in Europa gültig sind. Vor dieser Aufgabe, dem interkulturellen Dialog, stehen wir.

Entstehung des Begriffs "Gut leben"1

Zum Ende des 20. Jahrhunderts wollten Politiker, Geisteswissenschaftler und Aktivisten verschiedenster Coulœur, vor allem in Bolivien, wissen, was der Begriff "Entwicklung" in den Sprachen der originären Völker bedeutet. Sie wollten mit ihnen in ihrer Sprache kommunizieren, um sie zu "entwickeln". Aber sie fanden keine Entsprechung. Da staunten die Entwicklungsverfechter: In der Sprache der "Indios" gibt es kein Wort für Entwicklung! Allerdings fanden sie ein "bedeutungsentsprechendes Äquivalent", wie Javier Medina2, Beteiligter an diesen Aktivitäten und Theorieexperte auf diesem Gebiet, schreibt. Das Äquivalent auf Aymara heißt Suma Qamaña. Im Ketschua gibt es das historische Äquivalent Qhapaq Ñan3, das in Peru bereits gebräuchlich war und in Ecuador wurde Sumak Kawsay geschaffen.

Auch wenn diese gefundenen Entsprechungen der Verständigung mit den Aymara und Ketschua dienen, müssen sie richtig übersetzt und interpretiert werden, um darüber beispielsweise mit der westlichen Welt kommunizieren zu können. Die gefundenen Wörter ähnelten dem Originalbegriff "Entwicklung" gar nicht. Sie waren wie Stiefkinder mit völlig anderem Aussehen und Charakter. Folgerichtig wurden sie im Spanischen auf einen anderen Namen getauft. So entstand der Begriff Vivir Bien - "Gut Leben".

Aber er trifft nicht zu. Die Wortschöpfer sind in der unbequemen Lage darlegen zu müssen, dass "Gut Leben" nicht "Besser Leben" bedeutet. Das ist etwas absurd. Denn die Wörter "gut" und "besser" spiegeln in unterschiedlichem Grad den gleichen Inhalt wider. Später geben die Ermächtigten den Übersetzungsfehler zu. Und nun? Soll man die Übersetzung korrigieren? Das ist schwierig. Der Geist, der gerufen wurde, hat sein Eigenleben entwickelt. Es ist aber angebracht, die Übersetzung zu verbessern und anzupassen, um die wahre Bedeutung der gefundenen Wörter zu verstehen. Im Falle von Ecuador wird ein Konzept zum Guten Leben entwickelt, das seinem tatsächlichen Inhalt nahe kommt und mit dem es nicht so schwierig ist umzugehen.

Wenn man berücksichtigt, dass man unter den Begriffen Sumaq Qhamaña, Suma Kawsay oder Qhapaq Ñan4 eine Form versteht, richtig mit den Wesen, seien es Menschen, Tiere, die Natur oder der Kosmos, umzugehen, so müssten diese Begriffe verstanden werden als Buen Convivir oder Convivir correctamente. Im Deutschen entspricht das "Gut Zusammenleben" oder "Richtig Zusammenleben". Es ist wie im täglichen Leben - die Namensgebung erfolgt nach der Geburt. Der Begriff "Gut Zusammenleben" entsteht als Konzept für eine antikoloniale postkapitalistische Alternative nach einer langen und komplizierten Schwangerschaft. Mehrere Faktoren sind an diesem Entstehungsprozess beteiligt.

Die Kämpfe der sozialen Organisationen der Andenländer

In Ecuador ist vor allem der Verband der Indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAI) zu nennen, der schon im Jahr 1990 einen Plurinationalen Staat5 forderte. Schlüsselereignis in Bolivien war der "Erste Historische Kongress für Grund und Boden und politische Instrumentarien" im März 1995. Daran nahmen unter anderem der Einheitliche Arbeiter- und Bauern-Gewerkschaftsverband Boliviens CSUTCB und die Indigene Konföderation des Bolivianischen Ostens CIDOB teil.6 Die Teilnehmenden des Kongresses haben ihre historischen Forderungen in einem Aufruf festgehalten. Nicht zu vergessen ist aber auch die zapatistische Bewegung in Mexiko. Das”gehorchende Befehlen" (mandar obedeciendo) ist einer ihrer Grundgedanken, die ganz Lateinamerika erleuchtet haben und noch immer erleuchten. (Anm. d. Ü.: Gemeint ist das Treffen von Entscheidungen im Sinne des Willens des Volkes).

Ein weiterer wichtiger Faktor, der im Inhalt von "Gut Zusammenleben" steckt, ist die von den Vorfahren ererbten Überlieferung der vorkolumbianischen Zivilisationen, die auf verschiedene Art und Weise widerstanden und die Kolonialisierung überlebt haben. Die westliche Zivilisation konnte sie nicht zerstören. Allem Anschein nach konnte das vorkolumbianische Leben entweder insgeheim weiter praktiziert oder an die herrschende Lebensweise angepasst werden. Das Ergebnis der Untersuchung, der Beschreibung und der Systematisierung dieser Wirklichkeit bezeichnete man schließlich als "Mündliche Geschichte".

Die Rolle bedeutender Theoretiker

Zu den Theoretikern, die das von den Vorfahren überlieferte Wissen systematisiert haben, gehört Alberto Acosta7, der die Verfassungsgebende Versammlung in Ecuador leitete. Herausragend in Bolivien sind Javier Medina und Simón Yampara, Fernando Huanacuni, David Choquehuanca und Raúl Prada Alcoreza. Präsent sind aber auch die Arbeiten von sozialistischen Strömungen, zum Beispiel von Àlvaro Linera, derzeit Vizepräsident von Bolivien, wenn sie auch nicht direkt einen Beitrag leisteten, sondern versuchten, Rechte der Indígenas einzufordern. Schließlich brachten einige Vertreter der Theologie der Befreiung wie Leonardo Boff und Enrique Dussel wertvolle Überlegungen ein, natürlich aus ihrer Perspektive.

Diese genannten Faktoren sind eine Art Geburtshelfer für das neue Lebensparadigma. Vor der Geburt war jedoch ein früherer Schritt notwendig. In beiden Ländern wurden mit absoluter Stimmenmehrheit neue Regierungen gewählt, die sich selbst als antineoliberal bezeichnen. An ihrer Spitze steht in Ecuador der Akademiker Rafael Correa, in Bolivien der Anführer der Kokabauern Evo Morales. Und im Gefolge des neuen politischen Szenariums wird jeweils eine neue Magna Charta angenommen – in Ecuador 2008 und in Bolivien 2009 -, in der das Konzept vom "Guten Zusammenleben" eines der zentralen Ziele beim Aufbau der neuen Staates darstellt.

Wie oben beschrieben heißt der Terminus in Ecuador Buen Vivir (Gutes Leben)8 und in Bolivien Vivir Bien (Gut Leben)9. In Artikel 275 der Verfassung Ecuadors finden wir eine ausdrückliche Formulierung seines Inhalts: die Achtung der Diversität, das Menschenrecht10 nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für Personengemeinschaften (zum Beispiel Gemeinden) und das Zusammenleben mit der Natur. Die Ecuadorianer benennen mit dem neuen Begriff die Art und Weise, wie das Ziel "Entwicklung" vom Staat umgesetzt wird. Auf der Verpackung steht noch "Entwicklung", aber der Inhalt ist ein anderer.

In der bolivianischen Verfassung sucht man vergeblich eine Begriffsbestimmung. Die gibt es in diesem Dokument nicht.11 Der Terminus erscheint neben anderen als ein ethisches Prinzip des Multinationalen Staates (siehe Artikel 8) und wird in dem Teil zu Biodiversität und Boden (Artikel 80) sowie bei den Zielen des Wirtschaftsmodells aufgeführt. In diesem Zusammenhang spricht man von "Gemeinsam Gut Leben".

Es wird deutlich, wie wenig ausgereift der Begriff Vivir Bien - "Gut leben" ist. Aber sein mit Schwierigkeiten behafteter Gebrauch12 in diesem Dokument spiegelt auch die Interessenvielfalt der bolivianischen Gesellschaft wider. Das erklärt auch am besten die aktuellen Widersprüche der bolivianischen Regierung: Zum Einen will sie ein Gesetz über die Mutter Erde erlassen, zum Anderen betreibt sie eine auf die Ausbeutung von Rohstoffen gerichtete Wirtschaftspolitik; sie verabschiedet ein Gesetz zur Förderung der Produktion organischer Stoffe, aber sie gestattet den Einsatz von gentechnisch veränderten Produkten. Auf internationalem Parkett wird sie aktiv und schlägt zum Beispiel der UNO vor, den 22. April zum Internationalen Tag der Mutter Erde auszurufen, gleichzeitig möchte sie auf nationaler Ebene Projekte ohne die Berücksichtigung der Entscheidungen der Indígenas durchführen. Dieses Paradoxon widerspiegelt sich am deutlichsten in der Absicht der Regierung von Evo Morales eine Straße mitten durch TIPNIS (Indigenes Territorium des Nationalen Parks von Isiboro Sécure) zu bauen.

Der Inhalt des Konzeptes zum "Guten Zusammenleben"

An dieser Stelle soll nicht auf die unterschiedlichen Interpretationen des "Guten Zusammenlebens" eingegangen werden, wir wollen aber versuchen, seine hauptmerkmale zu beschreiben.

Das Prinzip der Pluralität:

Genauso wie wir in der Natur die Biodiversität finden und anerkennen, müssen wir es in der menschlichen Gesellschaft tun. Wir kommen aus unterschiedlichen Kulturen. Wir denken, handeln und verwirklichen uns auf unterschiedliche Art und Weise. Wir sind voneinander verschieden und haben die Eigenschaft, dass wir mehr als eins (ein Element) in der Gesellschaft sind. In diesem Sinne repräsentieren wir die Pluralität. Wir sind der Vielfalt der Blätter an einer Pflanze ähnlich: "Wir sind Teil der Gemeinschaft, wie das Blatt Teil der Pflanze ist. Niemand sagt 'Ich werde mich nur um mich kümmern, die Gemeinschaft hat keinerlei Bedeutung für mich.' Das ist genauso unsinnig, als würde das Blatt zur Pflanze sagen 'Du bedeutest mir nichts, ich werde nur für mich sorgen.'"13

Diese Sichtweise, die auf den ersten Blick sehr naiv zu sein scheint, ist im Grunde von tief gehender Weisheit und weist eine lehrreiche Beobachtungsmethode auf. Sie verlässt den engen Beobachtungswinkel, der zum Beispiel bei der Dialektik zu finden ist. Der Widerspruch zwischen zwei Elementen, sagen wir Klassen, schließt die Existenz anderer gesellschaftlicher Gruppen aus. Diese Sichtweise ist exklusionistisch. Zum anderen kann es nicht sein, dass der Widerspruch letztlich durch das Verbleiben einer einzigen Klasse aufgelöst wird – die Synthese wäre das Ergebnis aus These und Antithese. Monisten beanspruchen die Existenz einer einzigen Wirklichkeit. Ist das vielleicht zum Teil die Erklärung für das kriegerische Leben der westlichen Welt? Sehr wahrscheinlich!

Die von den Vertretern des guten Zusammenlebens vorgeschlagene Methode besteht darin, den Beobachtungswinkel zu erweitern: die Mathematiker Molina und Javier Amaru nennen das Tetralektik14. Diese Methode sieht mehr als zwei Elemente. Die Autoren erläutern beispielsweise, dass die Zahl vier nicht nur als das Ergebnis von zwei Elementen, nämlich die Summe von zwei Zweien, gesehen werden, sondern auch als die Summe aus vier Einsen oder aus einer Drei und einer Eins. Oft vergessen wir solche einfachen Dinge. Diese Betrachtungsweise erlaubt es, das Vorhandensein einer pluralen Gesellschaft anzuerkennen, einer Gesellschaft, die nicht nur aus zwei Klassen besteht, sondern aus verschiedenen sozialen und kulturellen Schichten. Ausgehend von dieser Erkenntnis schlägt Simon Yampara vor, mit der Suche nach der Komplementarität, der gegenseitigen Ergänzung verschiedener Faktoren, ein Gleichgewicht anzustreben. Wir müssten uns die verschiedenen Zivilisationen als ein Apthapi (ein Bankett)15 vorstellen, von dem wir uns alle bedienen können. Die westliche Zivilisation hat den Irrtum begangen, das Individuum zu verabsolutieren und hat damit dem Individualismus, dem Egoismus und dem Machismus freie Bahn gegeben.

Das Prinzip der Komplementarität von Natur und Kosmos:

Nach Auffassung der Andenvölker des Amazonasgebietes ist das Leben nicht auf dasjenige der Menschen oder der Tiere beschränkt, sondern bezieht all das mit ein, was uns umgibt, auch den Kosmos. Das Leben der Mutter Erde (Pachamama) drückt sich in ihrer Wiedergeburt aus. Dieses ständige und lebendige Neuerstehen bedingt unsere biologische Reproduktion und unsere spirituelle Verwirklichung. Auf diese Weise ist die Mutter Erde nicht mehr ein Objekt, sondern als Teils des menschlichen Subjekts. So gesehen wird die Pachamama zu einer Art Erweiterung unserer Extremitäten. Deshalb soll sie das Recht auf ihre Reproduktion haben wie das Subjekt Mensch.

Wenn wir in Betracht ziehen, dass die Zerstörung der Pachamama auch unsere allmähliche Beseitigung bedeutet, so heißt das, dass wir sie achten und sie und uns schützen müssen, indem wir juristische Grundlagen erarbeiten, die ihr einen autonomen regenerativen Zyklus ermöglichen. Die westliche Zivilisation hat den Menschen in das Zentrum allen Seins gerückt. Das ist ein schädlicher Ethnozentrismus – einzig der Mensch verfügt über Rechte. Der Natur als seinem Objekt sind alle Rechte entzogen, sie muss ihm zu Diensten sein. Das Ergebnis: der Mensch zerstört die Natur unbarmherzig. Scheinbar frisst das Wesen Mensch seine eigenen Extremitäten auf. Die originären Völker hingegen betrachten das menschliche Leben als ein Leben von vielen im Kosmos. Wenn man so will, schlagen sie eine Art Kosmozentrismus (Yampara), Biozentrismus (Gudynas) oder Sozio – Biozentrismus (Acosta) des Lebens vor.

Diese Sichtweise rührt von ihrem Verständnis von Zeit und Raum her. Für die Andenvölker sind diese beiden Elemente nahezu gleich. Sowohl in der Ketschua- als auch in der Aymara-Sprache ist das entsprechende Wort, das die originären Völker als Äquivalent dafür benutzen, das Wort pacha. Sie differenzieren lediglich bei der Beschreibung ihrer verschiedenen Zustandsformen. In Bezug auf die Zustände der Zeit verwenden sie: Zukunft = qipapacha; das Heute = kaypacha; die Vergangenheit = ñaupapacha. Für den Raum haben sie die Begriffe: oben = hananpacha; unten = urinpacha; Horizont(al), das heißt der Punkt des Gleichgewichts = qha(o ukhu)pacha. Raum und Zeit werden zu einer Art Kreuz und haben einen Schnittpunkt, der von der Zeit her gesehen kaypacha ist, und vom Raum her qhapacha. In diesen unterschiedlichen Zustandsformen von Raum und Zeit findet das Leben in seiner Ganzheit statt und in diesem Schnittpunkt von Raum und Zeit, im Leben der Gegenwart, findet es sein Gleichgewicht.

Das Prinzip des pachakuti, der zyklischen Wiederholung:

Wenn wir Teil der Natur und des Kosmos sind, so ist es nur natürlich, dass die Mutter ihren organischen Zyklus wiederholen muss, um unsere Reproduktion zu ermöglichen. Wiederholen bedeutet aber das Holen ihres früheren Zustands in die Gegenwart. Wenn sich die Mikroorganismen der Erde nur teilweise oder gar nicht mehr reproduziert haben, das heißt, wenn sie ihren früheren Zustand nicht erreicht haben, so steht das spätere Funktionieren dieser Mikroorganismen auf dem Spiel. Das ist jedem Biologen bekannt und gehört zum Allgemeinwissen. Auch die westliche Zivilisation weiß das, aber hier wird die Zukunft so sehr überbetont, dass man blind für die Vergangenheit wird. Die Zukunft erscheint als etwas völlig Neues. Man vergisst, dass in der Zukunft die Funktion der Vergangenheit gewährleistet sein muss. Für die Verfechter des Sumaq Qhamaña dagegen ist die Zukunft die Vergangenheit. Wenn wir als Menschheit weiterhin in Zukunft existieren wollen, muss sich die frühere Fähigkeit der Erde zur Regeneration heute und in Zukunft erneut wiederholen.

Die Vergangenheit muss in der Zukunft präsent sein. Diese Aussage ist scheinbar töricht, aber sie trägt viel Vernunft in sich. Nur so ist der Begriff der Nachhaltigkeit zu verstehen. Alles, was wir verbrauchen, muss sich biologisch abbauen, damit wir von Neuem darüber verfügen können. Das ist genauso wie wenn wir alles unternehmen, damit unsere Eltern oder Kinder morgen noch so gesund sind wie gestern und heute. An Hand des biologischen Abbaus kann man das Prinzip des pachakuti besser verstehen. Es muss aber auch gesagt werden, dass dies nicht in Widerspruch zu einer bestimmten Form technologischer Entwicklung16 steht. Wenn technologische Entwicklung der Regeneration der Pachamama entspricht und sie ermöglicht, dann wird sie willkommen sein. Wir stehen also einem bestimmten Modernismus nicht feindlich gegenüber. Diejenigen, die glauben, wir möchten ins Zeitalter der Steinzeit zurückkehren, täuschen sich.

Wie festzustellen sein wird, ist das Stiefkind "Gut Leben" oder "Gutes Leben", dass als "Gutes Zusammenleben" aufzufassen ist, der Lieblingssohn oder die Lieblingstochter der Wissenschaftler und Völker nicht nur in Südamerika, sondern auf der ganzen Welt. Noch muss das Kind wachsen, und zwar mit der Hilfe aller. Mit ihrer Antwort wollte unsere bolivianische Freundin im Festkleid ausdrücken, dass wir unseren Lebensstil ändern müssen und dass dem Wachstum im Konzept des "Gut leben" deutliche Grenzen gesetzt sind. Wir können mit unserem Konsum nicht so weitermachen, während unsere Lebensquelle dabei ist auszutrocknen.


Muruchi Poma, Ayni e.V., Leipzig, den 28. Juli 2011
Internet: www.amigo-latino.de, E-Mail: german.muruchi@gmx.de

  • 1. Einen ersten Versuch, die Entstehung dieses Begriffes / Konzeptes zu erklären, ist nachzulesen in: Bolivien im Umbruch. Der schwierige Weg der Neugründung. Quetzal / Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2010, S. 686.
  • 2. Siehe Medina, Javier: Suma Qamaña. Por una convivialidad postindustrial (Suma Qamaña. Wege in ein postindustrielles Zusammenleben), Carza Azul Editores, La Paz, Bolivia, 2006, S. 7 Vergleiche auch: http://lareciprocidad.blogspot.com/2011_01_16_archive.html (besucht am 24.07.2011); Zitt von Thomas Fatheuer: Buen Vivir. Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur. S. 21.
  • 3. Siehe Muruchi Poma, Günther Buhlke: Qhapaq Ñan y Socialismo. La Paz, Bolivia, 2011, S. 20 ff.
  • 4. Zur Etymologie dieser Wörter siehe ebd. 5 Huanacuni Mamani, Fernando: Buen Vivir / Vivir Bien. Filosofía, políticas, estrategias y experiencias regionales andinas (”Gutes Leben / Gut Leben. Philosophie, Politik, Strategie und Erfahrungen in den Andenregionen"). Bolivien, 2010, S. 12 6 Muruchi Poma: Evo Morales. Die Biografie; Leipzig 2007, S. 108 7 Siehe Alberto Acosta: Buen Vivir auf dem Weg in die Post-Entwicklung. Ein globales Konzept? In: Werner Rätz/ Tanja von Egan-Krieger u.a. (Hrsg.): Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben. Ein Projekt von Attac. VSA-Verlag Hamburg, 2011.
  • 5. Huanacuni Mamani, Fernando: Buen Vivir / Vivir Bien. Filosofía, políticas, estrategias y experiencias regionales andinas ("Gutes Leben / Gut Leben. Philosophie, Politik, Strategie und Erfahrungen in den Andenregionen"). Bolivien, 2010, S. 12
  • 6. Muruchi Poma: Evo Morales. Die Biografie; Leipzig 2007, S. 108
  • 7. Siehe Alberto Acosta: Buen Vivir auf dem Weg in die Post-Entwicklung. Ein globales Konzept? In: Werner Rätz/ Tanja von Egan-Krieger u.a. (Hrsg.): Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben. Ein Projekt von Attac. VSA-Verlag Hamburg, 2011.
  • 8. Siehe Artikel 275 der geltenden Politischen Verfassung Ecuadors: http://es.wikipedia.org/wiki/Constituci %C3%B3n_de_Ecuador_de_2008 (besucht am 20 Juli 2011)
  • 9. Siehe Magna Charta von Bolivien http://www.presidencia.gob.bo/download/constitucion.pdf (besucht am 20 Juli 2011)
  • 10. Thomas Fatheuer schreibt dazu: " ... das Recht auf Ernährung, Gesundheit, Erziehung und Wasser. Diese Formulierungen erinnern stark an die so genannten Menschenrechte der dritten Generation, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte)." Siehe: Buen Vivir. Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur. In: Heinrich-Böll-Stiftung, Ökologie, Band 17, S. 21
  • 11. Eine Begriffsbestimmung erschien kürzlich in dem im Juni 2011 erlassenen "Revolutionsgesetz über die Gemeinschaftliche und Landwirtschaftliche Produktion". In Artikel 6 Nummer 5 werden die folgenden Aspekte als Ziel benannt: "kollektiver Nutzen", "Befriedigung von Grundbedürfnissen", "Harmonie mit der Mutter Erde" und "Gemeinschaft mit den menschlichen Wesen". http://www.gacetaoficialdebolivia.gob.bo/normas/verGratis/139308 (besucht am 25 Juli 2011)
  • 12. Natürlich müssen wir berücksichtigen, dass die erste Version der Verfassung, die von der Verfassungsgebenden Versammlung angenommen wurde, im Zuge der Verhandlungen mit den Vertretern der Rechten aufgeweicht wurde. Siehe das Interview mit der Präsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung, Silvia Lazarte, http://www.quetzal- leipzig.de/lateinamerika/bolivien/interview-mit-silvia-lazarte-praesidentin-der-verfassungsgebenden-versammlung- in-bolivien-19093.html (besucht am 24. Juli 2011)
  • 13. Choquehuanca, David: América Latina en movimiento ("Lateinamerika in Bewegung"). Bd. 452, Februar 2010, S. 10
  • 14. Eine Zusammenfassung dieser Methode ist zu finden in: Muruchi Poma, Günther Buhlke: Qhapaq Ñan und Sozialismus, S. 20 ff.
  • 15. Siehe Tani tani, Nr. 451 oder http://www.amigo-latino.de/indigena/noticias/newsletter_6_10/429_vivir_bien_sy.html