Chile begeht den "Tag des jungen Kämpfers"

Zahlreiche vor allem junge Menschen gedachten der unter der Pinochet-Diktatur ermordeten Brüder Vergara Toledo. Demonstrationen, Barrikaden und massive Polizeieinsätze in Santiago

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Transparent von Schülern des Liceo de Aplicación in Santiago
Transparent von Schülern des Liceo de Aplicación in Santiago

Santiago. Zur Erinnerung an die Ermordung der Brüder Eduardo und Rafael Vergara Toledo am 29. März 1985 während der Diktatur unter General Augusto Pinochet (1973–1990) ist in Chile wieder der "Tag des jungen Kämpfers" begangen worden.

Die Menschen gedachten der Brüder mit Kerzen, Musik und Kunst, aber auch mit brennenden Straßensperren. Bereits am Vormittag des 29. protestierten vor allem Schüler und Studenten im Zentrum von Santiago. Mehrere Metrostationen an der Hauptstraße Alameda wurden geschlossen und der Verkehr wegen vereinzelter Barrikaden umgeleitet. Die Polizei griff mit Spezialeinheiten und Wasserwerfern ein und nahm 27 Jugendliche fest.

In der Nacht kam es dann zu militanten Aktionen in Wohnvierteln, die schon zu Zeiten der Diktatur bevorzugtes Ziel des repressiven Staatsapparats waren, was dort starken Widerstand erzeugte. Die Sicherheitskräfte hatten im Vorfeld insgesamt 16 kritische Punkte ausgemacht und unter besondere Beobachtung genommen.

Laut dem Polizeibericht vom Tag danach brannten Barrikaden unter anderem in den Gemeinden Peñalolén, Huechuraba, Pedro Aguirre Cerda und San Bernardo, drei Busse des Personennahverkehrs wurden in Brand gesetzt sowie zwei Polizeistationen angegriffen.

Einen besonderen Zwischenfall gab es demnach, als Demonstranten ein gepanzertes Fahrzeug der Polizei mit Molotowcocktails angriffen, das daraufhin Feuer fing und bei einem Rückzugsversuch in einer Barrikade zum Stehen kam. Als die Besatzung das Fahrzeug verließ, sei es zu einem Schusswechsel gekommen, in dessen Verlauf ein Polizist eine leichte Schussverletzung davontrug. Bis zum Ende der Auseinandersetzungen wurden in dieser Nacht 41 Personen festgenommen.

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Demonstranten griffen auch gepanzerte Fahrzeuge der Carabineros an, wie hier in der Avenida Grecia
Demonstranten griffen auch gepanzerte Fahrzeuge der Carabineros an, wie hier in der Avenida Grecia

Im Jahr des Militärputsches 1973 waren die Brüder Toledo acht und sechs Jahre alt. Sie wuchsen in einem Arbeiterviertel auf, das wegen seiner sozialen und politischen Organisiertheit dem Unterdrückungsapparat der Diktatur ein Dorn im Auge war. Sie wurden früh mit Hausdurchsuchungen, Verschleppungen und politischen Morden in ihrem Viertel konfrontiert. Dazu kamen Arbeitslosigkeit und Hunger. Diese Erfahrungen und ihre Mutter, die Anhängerin des gestürzten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende war, politisierten die beiden Brüder schon seit dem Kindesalter. Später wurden sie aufgrund ihrer politischen Haltung von der Schule und Universität verwiesen. Sie bekamen Kontakt zum organisierten Widerstand und wurden Mitglieder der Bewegung der revolutionären Linken (Movimiento de Izquierda Revolucionaria, MIR).

Am Abend des 29. März 1985 verließen die Brüder zusammen mit einem Dritten die Wohnung zu einer Beschaffungsaktion, um Geld, Lebensmittel oder Kleidung für den Widerstand zu besorgen. Dabei stießen sie mit einer Polizeistreife zusammen und flüchteten. Schließlich stellten die Polizisten die beiden und richteten sie mit Kopfschüssen hin. Die offizielle Version lautete, sie seien bei einem Überfall überrascht und im Verlauf eines Schusswechsels mit den Carabineros ums Leben gekommen.

Zu ihrem Gedenken und als Aufruf, den Kampf um Wohnung, Arbeit, Gesundheit, Bildung und menschenwürdiges Leben weiterzuführen, deklarierte die MIR den 29. März zum "Dia del Joven Combatiente", dem "Tag des jungen Kämpfers", der seitdem jährlich begangen wird.

Der Historiker Cristián Pérez der Universidad Diego Portales analysiert in einem Interview das Phänomen und kommt zu dem Schluss, dass dieser Tag wohl wegen der Grausamkeit der Tat und wegen der unerfüllten Hoffnungen und Forderungen der Jugendlichen auch weitere Generationen mobilisiert und daher zu einem festen Gedenktag der Gesellschaft und vor allem der Linken geworden ist.

Aufmerksamkeit erregte indes eine Warnung der US-Botschaft an die in Chile lebenden US-Bürger, an diesem Tag vorsichtig zu sein, gewisse Gegenden zu meiden und die Wohnung nach Möglichkeit nicht zu verlassen. Ob das nur eine allgemeine Warnung war oder tatsächlich Übergriffe befürchtet wurden, bleibt unklar. Immerhin ist die direkte Beteiligung der USA am Putsch in Chile hinlänglich bewiesen und ihre Furcht vor direkten Protestaktionen nicht so ganz unbegründet.