Verfassungsreform in Chile: Von oben herab

Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung bestimmen nun vor allem die Parteien, soziale Bewegungen bleiben außen vor

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Die Sitzung der Vorstände beider Kongresskammern und der Expert:innenkommission am 6. März leitete den neuen Verfassungsprozess ein
Die Sitzung der Vorstände beider Kongresskammern und der Expert:innenkommission am 6. März leitete den neuen Verfassungsprozess ein

Mitte Januar hat der chilenische Kongress die Einigung des 13-köpfigen Ausschusses über einen neuen verfassunggebenden Prozess durchgewunken. Sobald Präsident Gabriel Boric die Reform unterzeichnet, tritt das "Abkommen für Chile" offiziell in Kraft. Die Gesetzesänderung sieht die Beteiligung dreier Organe an der Entstehung einer neuen Verfassung vor: eine Expert:innenkommission, einen Ausschuss zur Prüfung der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben und einen Verfassungsrat. Dass nur letzterer direkt gewählt wird, ist einer der zentralen Gründe, warum soziale Bewegungen den neuen verfassunggebenden Prozess kritisieren, während die am Abkommen beteiligten politischen Parteien ihn feiern. Eine Einordnung des chilenischen Journalisten und Kommunikationswissenschaftlers Leonel Yáñez Uribe.

"Es ist ziemlich enttäuschend, auf diesen aktuellen Verfassungsprozess zu blicken", meint Lucio Cuenca. Er ist Umweltexperte beim lateinamerikanischen Observatorium für Umweltkonflikte (Olca). Im letzten verfassunggebenden Prozess hat er Camila Zárate beraten, die als eine von sechs Vertreter:innen der Umweltorganisation "Bewegung für das Wasser und die Territorien" (Movimiento por el Agua y los Territorios, Mat) im Verfassungskonvent saß.

Am neuen verfassunggebenden Prozess, für den nun die Weichen gestellt sind, kritisiert Cuenca, die politischen Parteien hätten ihn drastisch eingeschränkt: "Das politische System in Chile ist Teil des Problems, es ist Teil der Krise, die wir gerade durchmachen. Dass sich nun genau diese krisenbehafteten Institutionen des Verfassungsprozesses angenommen haben, bedeutet, dass dieser bereits jetzt ungeklärte Fragen in sich trägt, darunter natürlich die nach der Legitimität." Vor allem kritisiert er den starken Rückfall ins Institutionelle. Dieser habe dazu geführt, dass konservative, rechte, aber auch Parteien der ehemaligen Concertación (Mitte-links), die das Land zwischen 1990 und 2010 ununterbrochen regiert hat, sich das Ergebnis des Plebiszits am 4. September zu eigen gemacht und nun einen streng limitierten Prozess eingerichtet haben.

Die drei neuen Organe im jetzigen verfassunggebenden Prozess werden zwar paritätisch besetzt. Zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen kritisieren jedoch vor allem, dass die 24-köpfige Expert:innenkommission, deren Rolle in den kommenden Monaten zentral sein wird, nicht direkt gewählt wird. Stattdessen werden die Expert:innen proportional zur Sitzverteilung in Senat und Abgeordnetenhaus von den Parteien ernannt – ohne allgemeine Wahl oder öffentliche Ausschreibung.

"Das mit den Experten ist ein Euphemismus. Denn am Ende gibt es keine harmlosen Experten. Sie alle stehen für politische Positionen oder Strömungen und genau diese werden sich in der Arbeit an der neuen Verfassung widerspiegeln", meint Cuenca. Der Entwurf für eine neue Verfassung werde also von der Meinung des aktuellen Parlaments dominiert sein, nicht aber der Meinung der Menschen in Chile.

Bereits Ende Januar schlug das Parlament 24 Expert:innen vor – Senat und Abgeordnetenhaus jeweils zwölf. Die paritätisch besetzte Expert:innenkommission kam am 6. März ein erstes Mal zusammen. Ihre Aufgabe ist es, einen ersten Entwurf für die neue Verfassung zu erarbeiten, die dann dem Verfassungsrat übergeben wird. Dessen 50 Mitglieder werden wiederum am 7. Mai unter allgemeiner Wahlpflicht gewählt. Die Sitze werden geschlechterparitätisch besetzt, außerdem gibt es – gemessen an den Bevölkerungsanteilen – überproportional viele reservierte Plätze für Vertreter:innen indigener Gemeinschaften.

In der vom chilenischen Kongress verabschiedeten Gesetzesreform heißt es: "Der Verfassungsrat ist ein Organ, dessen einziges Ziel es ist, einen Vorschlag für die neue Verfassung zu diskutieren und zu verabschieden." Auch hier wird deutlich, dass es vor allem darum geht, über den von Expert:innen zusammengestellten Verfassungsentwurf zu beratschlagen – ein Text, der die Diskussion von sich aus eingrenzen wird.

Die Expert:innenkommission hat demnach zwar im Verfassungsrat kein Stimmrecht, wird aber so oder so Einfluss auf die öffentliche Debatte haben, sobald der Entwurf im Verfassungsrat beraten wird. Schließlich bietet ihre Vorarbeit die Diskussionsgrundlage für alles, was im Verfassungsrat entschieden wird.

"Und dann ist da noch der Ausschuss, der über die Zulässigkeit und Einhaltung gesetzlicher Vorgaben entscheidet", erklärt Cuenca. "Das Parlament wird für diese Aufgabe 14 Anwälte ernennen. Dieses Kontrollgremium bestimmt dann, ob sich die Verfassungsartikel, die der Verfassungsrat verabschiedet, im Rahmen der zwölf Prinzipien bewegen, auf die sich als inhaltliche Eingrenzungen für die neue Verfassung geeinigt wurde".

Eines der zwölf Prinzipien, die den neuen Verfassungstext inhaltlich eingrenzen, besagt, dass Chile ein sozialer Einheits- und Rechtsstaat ist, in dem die Gewaltenteilung zwischen eigenständiger Judikative, Legislative und Exekutive gilt. Das Konzept eines plurinationalen Staates mit einem Rechtssystem, das sich in seiner eigenen Struktur demokratisiert, indem es beispielsweise Rechtsauffassungen indigener Bevölkerungsgruppen und ihrer Kulturen miteinbezieht, wird somit ausgeschlossen.

Viele kritisieren insbesondere diese zwölf Prinzipien, da sie die endgültige Abkehr von der Verfassung Pinochets unwahrscheinlicher machen. Auch Lucio Cuenca ist der Meinung, dass damit kritische Punkte erhalten bleiben, die lediglich dazu führen, dass die Grundpfeiler der Verfassung von 1980 reproduziert werden. Cuenca sieht darin eine Strategie: "Denn wenn man dieses Maß an Einschränkungen akzeptiert, geht die Aussicht auf eine wirklich demokratische Verfassung praktisch gänzlich verloren".

So schließen die zwölf Prinzipien auch viele Vorschläge des am 4. September 2022 im Referendum abgelehnten Verfassungsentwurfs von vornherein aus. Wie viele ist Cuenca deshalb der Meinung, dass der vergangene Verfassungsprozess vielleicht der demokratischste Prozess war, den Chile je gesehen hat. Dagegen würden die aktuellen Ereignisse zeigen, dass soziale Bewegungen es nun schwerer haben, sich einzumischen. Das gilt insbesondere für die Umweltbewegungen, die im Verfassungskonvent stark vertreten waren. Von den 388 Artikeln des im September abgelehnten Verfassungstextes nahmen 74 Bezug auf die Natur und Mechanismen zum Naturschutz, angefangen beim ersten Artikel. "Was wir im Verfassungskonvent erreicht haben, ist für uns viel wert, denn dort sind unterschiedliche Vorstellungen von einer sozialen und ökologischen Welt zusammengekommen", erinnert sich Cuenca.

Die Ablehnung des im Verfassungskonvent entstandenen Verfassungsentwurfs hat daher einen hohen Preis. Manche Ideen und Konzepte, die ein politisch und kulturell demokratischeres Land ausgemacht hätten, haben nun an Legitimität eingebüßt. Wenig davon wird sich im neuen Verfassungsentwurf wiederfinden.

Für den neuen verfassunggebenden Prozess wurde ein genauer zeitlicher Rahmen abgesteckt. Der Verfassungsrat hat ab dem 7. Juni fünf Monate Zeit, um den neuen Verfassungstext zu verabschieden. Am 17. Dezember dieses Jahres wird der fertige Text in einem Referendum zur Wahl gestellt, dann heißt es wieder "Apruebo" (Ja) oder "Rechazo" (Nein) zur neuen Verfassung.

Die Einigung auf einen neuen verfassunggebenden Prozess setzt ein Zeichen: Chile kehrt ins Institutionelle zurück, eine Expert:innenkommission macht einen Vorschlag, die Ratsmitglieder arbeiten daran. Nichts daran ähnelt jenem Prozess, den die Revolte entfacht hat und den wir seit 2019 verfolgt haben. Man kehrt zur Demokratie "da oben" zurück, Bürger:innen und soziale Bewegungen bleiben einfache Zuschauer:innen.

Das Schlimmste: Wer sich für den Verfassungsrat zur Wahl stellen möchte, muss einer gesetzesmäßig eingeschriebenen Partei angehören. Kandidaturen von Unabhängigen oder Vertreter:innen sozialer Bewegungen sind nicht möglich. Die Wahl der Mitglieder des Verfassungsrats wird in ihrem Prozedere damit an die Wahl der Senator:innen angelehnt. Dabei wird nicht proportional vorgegangen, sondern nach Methoden, die dem umstrittenen binominalen System ähneln, das bis 2013 angewandt wurde.

Beispielsweise werden für die Region Araucanía, in der ein Konflikt zwischen Mapuche, dem Staat und Forstunternehmen läuft, fünf Ratsmitglieder auf eine Million Einwohner:innen gewählt – genauso viele wie für die Metropolregion Santiago, in der acht Millionen Menschen leben. Dabei werden größere Listen bei der Sitzverteilung mathematisch übervorteilt, Pluralismus und Vielfalt gehen verloren.

Auch wenn der Verfassungsrat also zu 100 Prozent gewählt wird, so handelt es sich dabei doch um ein von den politischen Parteien im Parlament dominiertes Organ. Genau dagegen hatten sich 78 Prozent der Chilen:innen im Verfassungsreferendum von 2020 ausgesprochen. "Diese Wahl richtete sich mit großer Mehrheit gegen die Beteiligung des Parlaments im verfassunggebenden Prozess", erinnert Cuenca.

Fast alle Parteien, die derzeit im chilenischen Parlament vertreten sind, haben der Reform für eine neue Verfassung zugestimmt – außer der ultrarechten Republikanischen Partei und der rechtspopulistischen Partido de la Gente.

Die Parteien hinter dem "Abkommen für Chile" planen, mit der neuen Verfassung dem Erbe Pinochets ein Ende zu bereiten. Dass das gelingt und die neue Verfassung Chile am Ende demokratischer und gerechter macht, bezweifeln vor allem bewegungsnahe Kreise. "Das Abkommen sieht praktisch vor, dass das Parlament die neue Verfassung aufsetzt. Das bringt uns in eine sehr prekäre Lage. Sowohl das Vorgehen als auch die Akteure in diesem Prozess machen nicht viel Hoffnung", so lautet Lucio Cuencas Fazit.

Dieser Beitrag ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten 584