Europa / Politik

Immigranten: Sündenböcke der Krise

Fremdenfeindlichkeit in Europa wächst. Essay von Ignacio Ramonet

Das Ergebnis des Referendums vom 28. November 2010 (53 Prozent), organisiert von der Schweizerischen Volkspartei (die schon 2009 erreicht hatte, dass der Bau von Minaretten in Moscheen verboten wurde), legalisiert die Ausweisung – nach einer rechtskräftigen Verurteilung – von allen Ausländern, die wegen schwerer Verbrechen verurteilt wurden (Totschlag, Diebstahl, Zuhälterei, Drogenhandel, schwerer Raub), aber auch wenn jemand nur "missbräuchlich Sozialleistungen bezogen oder keine Alimente gezahlt" hat. Je mehr sich die Wirtschaftskrise zuspitzt, umso mehr kann man auch in anderen europäischen Ländern einen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit beobachten.

Der kürzliche Sieg der Rechtsextremen in der Schweiz birgt die Gefahr, dass andere europäische Parteien gleicher ideologischer Ausrichtung ihre Haltung Ausländern gegenüber radikalisieren, vor allem wenn es sich um Moslems handelt. Das wird Auswirkungen auf die  Europäische Union haben, deren Mitglied die Schweiz zwar nicht ist, die aber mit Bern im Jahr 2002 ein Abkommen über den ungehinderten Personenverkehr geschlossen hat. Dieses Referendum zeigt eine wachsende Unruhe im Hinblick auf Immigranten, die als Ursache allen Übels verantwortlich gemacht werden.

Natürlich hat jede Gesellschaft das Recht festzulegen, was sie innerhalb ihres öffentlichen Raumes akzeptiert oder nicht. Und es ist nicht die Pflicht des Aufnahmelandes, ihre gesellschaftlichen Gepflogenheiten für die neu Hinzugekommenen zu ändern – letztere sind in der Pflicht, Anstrengungen zu unternehmen, um sich anzupassen. Ausgehend von diesen beiden Annahmen, die innerhalb der Gesellschaft eine breite Zustimmung finden, versuchen die rechtsextremen Parteien einen islamfeindlichen Diskurs zu konstruieren, breiten ihren Einfluss weiter aus und zielen darauf ab, dass ihre extremistischen Ideen nach und nach akzeptiert werden.

Im Namen einer zwanghaften und abstrakten "Modernisierung" sind die europäischen Gesellschaften in den letzen zwanzig Jahren von gewaltsamen Erschütterungen und Traumata heimgesucht worden. Die Logik des Wettbewerbs ist in den Rang eines kategorischen Imperativs erhoben worden. Die Globalisierung der Wirtschaft, die Ausweitung der europäischen Union, das Ende der nationalen Souveränität, die Schaffung des Euro, das Verschwinden der Grenzen, die große Anzahl von Immigranten, multikulturelle Gesellschaften und die Zerschlagung des Wohlfahrtstaates – all das hat bei vielen Europäern einen Identitätsverlust ausgelöst. All das geschieht obendrein noch im Kontext einer finanziellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, die nicht hinnehmbare gesellschaftliche Zerstörungen hervorruft (25 Millionen Arbeitslose, 85 Millionen Arme innerhalb der EU) und bringt einen Anstieg der Gewalt in allen Bereich mit sich.

Angesichts der Brutalität und rasanten Schnelligkeit so vieler Veränderungen wächst die Unsicherheit für viele Bürger, der Horizont verdunkelt sich, die Welt erscheint düster und scheint den Eindruck zu vermitteln, dass die Geschichte außer Kontrolle gerät. Eine große Anzahl von Europäern sieht sich von den Regierungen allein gelassen, sowohl von den Rechten als auch von den Linken. Und die Medien stellen diese weiter als Spekulanten, Betrüger, Lügner und Korrupte bloß.

Heruntergezogen von diesem Strudel haben viele Bürger große Angst und fühlen das, was Tocqueville sagte, "seit die Vergangenheit ihr Licht nicht mehr auf die Zukunft wirft, irrt der menschliche Geist in der Finsternis".

In diesem Kontext entstehen die neuen Volksverführer. Sie sorgen mit ihren  demagogischen Argumenten dafür, dass die Ursachen für diese neuen Erschütterungen und Unsicherheiten den Ausländern zugeschrieben werden, den Moslems, Juden, Schwarzen. Die Immigranten sind am leichtesten zu Sündenböcken zu machen, sie sind das Symbol der gesellschaftlichen Verwirrungen und in den Augen der einfachen Europäer nur unerwünschte Mitbewerber auf dem Arbeitsmarkt.

Die Rechtsextremen wollen die Krise  bewältigen, indem sie einen einzigen Schuldigen benennen: den Ausländer. Es ist bedauerlich festzustellen, dass diese Haltung gerade auch von demokratischen Parteien gefördert wird, die sich nur darauf beschränken, die Auswirkungen von Fremdenfeindlichkeit innerhalb ihres eigenen  Diskurses zu hinterfragen.

In Frankreich betreibt die Front National (FN) von Jean-Marie Le Pen schon lange den Blut–und-Boden–Kult, die Wiederherstellung der Nation in der ethnischen Bedeutung, die Errichtung eines autoritären Regimes zur Bekämpfung von Unruhen, die Rückkehr zum ökonomischen Protektionismus, die Rückkehr der Frauen an den Herd und die Ausweisung von drei Millionen Ausländern, die dann angeblich Arbeitsplätze frei machen für die "reinrassigen" Franzosen. Auf bösartige Art und Weise verführt dieser Diskurs seit langem "mehr als einen von vier Franzosen".

Um seinerseits diese Wähler zu gewinnen, hat Präsident Nicolas Sarkozy im Sommer 2010 eine Kampagne gegen Zigeuner (oder Roma) lanciert. Obwohl europäisches Recht verbietet, gemeinsame Bürger auszuweisen, hat die französische Regierung nicht gezögert, zwischen dem 1. und 17. Oktober 2010 insgesamt 8601 rumänische Zigeuner auszuweisen; 7447 auf "freiwillige Art" und 1154 gewaltsam. Paris behauptet andererseits, dass jeder Zigeuner, der "freiwillig gegangen" ist, 300 Euro angenommen habe, um Frankreich zu verlassen. Eine wenig glaubwürdige "Freiwilligkeit". Die wiederholte Räumung von illegalen Lagern hat den Rumänen gar keine andere Möglichkeit gelassen, als die Hilfe anzunehmen und zurückzukehren.

Das Italien von Silvio Berlusconi geht genau so vor, Lager der Roma werden immer wieder geräumt. In Mailand hat sich z.B. die Zahl der Roma von 10.000 auf 1200 verringert. Andere Länder der Europäischen Union weisen sie auf diskretere Art aus. In Dänemark hat der sozialdemokratische Bürgermeister von Kopenhagen beklagt, dass sich eine Anzahl von Zigeunern "dem Raub widmen". Die Folge davon: Die Regierung hat Anfang September einige Roma ausgewiesen, nachdem sie Anfang Juli schon circa zwanzig ausgewiesen hat.

Schweden, Österreich und Belgien weisen auch aus, aber sie konzentrieren sich hauptsächlich auf Roma aus Serbien, dem Kosovo oder Mazedonien, Länder, die keine Mitglieder der EU sind. Deutschland seinerseits hat ein Abkommen unterzeichnet, um 12.000 Zigeuner auszuweisen, die während des Kosovokrieges aus ihrem Land geflohen sind. Auch die Schweiz hat ein "Rückkehrabkommen" mit den Behörden im Kosovo geschlossen. In Ungarn und der Slowakei sind Roma vor kurzem Opfer von tödlichen Angriffen geworden.

Dieses Vorgehen sind nicht unpopulär. In Frankreich z.B. hat eine Umfrage ergeben, dass 55 Prozent der Katholiken die Ausweisungen der Roma verteidigen. Eine immer größer werdende Zahl von Europäern glaubt, dass die Integration (besonders von Moslems) gescheitert ist, dass die "Bereicherung durch Vielfalt" nicht funktioniere und man daher "nicht mehr so viele Ausländer aufnehmen" dürfe.1

Diese neuen Auswüchse an Fremdenfeindlichkeit in Europa zeigen sich umso offener, je mehr Rückhalt die zahlreichen Mitte-Rechts-Regierungen von fremdenfeindlichen und nationalistischen Parteien gegenwärtig erhalten. In Italien, Österreich, Schweden und Dänemark bilden die Regierungen eine Koalition oder eine Minderheitenallianz, die von rechtsextremen Parteien unterstützt werden.

Viele europäische Länder sind entschlossen, "kulturelle Praktiken" von Moslems einzuschränken. Frankreich und Belgien haben z.B. ein Gesetz gegen das Tragen eines  Ganzkörperschleiers, der Burka oder Niquab, erlassen. Diese Länder verbieten ab sofort, das "Gesicht an öffentlichen Plätzen teilweise oder ganz verhüllt oder verschleiert" zu haben.

Die Strategien sind unterschiedlich, aber diese Frage beunruhigt gleichermaßen auch andere europäische Staaten. In Dänemark ist seit Januar 2010 das Tragen eines Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum eingeschränkt. In den Niederlanden gibt es einige Gesetzesvorhaben, die das ebenso verbieten wollen, vor allem in Schulen und öffentlichen Einrichtungen. Einige spanische Städte haben beschlossen, die Burka oder Niquab in städtischen Gebäuden zu verbieten.

Unter dem Druck ihrer Partei, der CDU, die eine härtere Haltung gegenüber Immigranten und besonders Moslems fordert, hat in Deutschland  Kanzlerin Angela Merkel am 17. Oktober 2010 bekräftigt, dass "das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland gescheitert" sei. Merkel hat eine Warnung an die Immigranten gerichtet: "Wer nicht sofort die deutsche Sprache lernt, ist nicht willkommen."

Zu ihren Erklärungen passen auch die von Volker Bouffier (CDU), Ministerpräsident von Hessen: "Der Islam ist kein Teil der Republik". Ebenso der Vorsitzende der CDU Fraktion im Parlament, Volker Kauder: "Der Islam erfüllt nicht die Ansprüche unserer Verfassung, die auf unserer jüdisch-christlichen Tradition fußt." Mehr als ein Drittel der Deutschen glaubt, dass ihr Land besser ohne Moslems funktioniere, 55 Prozent halten Moslems für "unangenehm", und 58 Prozent glauben, dass man "ihnen verbieten müsse, ihre Religion auszuüben".

In der gesamten europäische Union sind im Jahr 2010 extremistische Positionen, "entschieden anti-demokratische und rassistische" wie die Akzeptanz eines sozialen Darwinismus, extrem angestiegen. Das "antidemokratische Potenzial" der Gesellschaft misst man ab jetzt in Europa mit dem Thermometer der Islamphobie.

Eine am 13.Oktober 2010 veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung macht deutlich, dass die gegenwärtige Wirtschaftskrise den "politischen Raum in Europa nach rechts verrückt" und extremistische Konzepte in den Mittelpunkt des Diskurses mit den Wählern stellt. Fremdenfeindlichkeit zeigt sich jetzt offen und frei von allen Komplexen. All das lässt befürchten, dass ebenso wie in den USA mit der Tea-Party die politischen Ideen in Europa radikaler nach rechts driften werden. Und das bringt die Demokratie in Gefahr.







  • 1. Le Monde, Paris, 27.November 2010