"Argentinien sollte eine Zweigstelle Europas sein und die Bevölkerung 'weiß gemacht' werden"

Die Afro-Argentinierin Griselda Manzoli über Rassismus, intersektionalen Feminismus und den Kampf um Erinnerung

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"Schöpferinnen der Erinnerung" war das Motto des Treffens am 24. und 25. Juli
"Schöpferinnen der Erinnerung" war das Motto des Treffens am 24. und 25. Juli

Nach Angaben der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) leben in unserer Region 134 Millionen Personen mit afrikanischen Wurzeln, die damit 21 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Davon leben laut dem landesweiten Zensus von 2010 mindestens 150.000 in Argentinien. Zivilgesellschaftliche Organisationen schätzen die Zahl unter allen Argentiniern und Migranten sogar auf fast zwei Millionen.

Vom 22. bis 24. Juli führte das Kollektiv Mesa Afro aus der Provinz Córdoba das achte Treffen Afroamerikanischer, Afrokaribischer, Afrolateinamerikanischer und Frauen der Diáspora durch. Das Datum fällt auf den „Internationalen Tag der Schwarzen Frauen in Lateinamerika, der Karibik und der Diaspora“, der an jedem 25. Juli begangen wird1

Frauen afrikanischer Herkunft erfahren eine doppelte Unterdrückung: aufgrund ihres Geschlechts und aufgrund ihrer Hautfarbe. Das rassistisch-patriarchale System macht ihre Körper zu Objekten, hypersexualisiert sie und verbindet sie mit Orten der Dienerschaft, der Haus- und Sorgearbeiten.

Griselda Manzoli ist Argentinierin mit afrikanischen Wurzeln, Mitglied des Mesa Afro Córdoba und eine der Organisatorinnen des Treffen, das sich für die Sichtbarmachung der afrikanischen Kultur in der Provinz und im gesamten Land einsetzt.

"Der Titel dieser Veranstaltungen lautet 'Schöpferinnen der Erinnerung: Von der Erinnerung zur Intersektionalität', da wir glauben, dass es wir Frauen sind, die uns selbst mobilisieren, damit uns der Platz gegeben wird, der uns zusteht, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in Hinsicht auf unsere Vergangenheit", erklärte sie.

Im Lauf der Jahre haben nationale und internationale Persönlichkeiten teilgenommen, wie die ehemalige Vizepräsidentin von Costa Rica, Epsy Campbell Barr; die Präsidentin der Asociación Misibamba aus Argentinien, María Elena Lamadrid; die puerto-ricanische Schriftstellerin Yolanda Arroyo Pizarro und die aktuelle Vizepräsidentin Kolumbiens, Francia Márquez.

"Solche Räume sind sehr wichtig, um Perspektiven, Meinungen und Erfahrungen austauschen zu können, da uns das Ökonomische, das Politische, das Soziale und das Geografische gleichermaßen bestimmt. Die Ansicht der Anderen hilft uns dabei, den Kampf für die Einforderung unserer Rechte weiterzuführen, damit die Schwarze und Frau afrikanischer Herkunft die gleichen Möglichkeiten und die gleichen Räume in allen Teilen Argentiniens hat", fügte Griselda hinzu.

Umfasst und repräsentiert die argentinische feministische Bewegung die Frauen afrikanischer Herkunft?

Nun, wir wissen, dass es verschiedene Arten von Feminismus gibt. Wir arbeiten insbesondere zusammen mit dem LGBTQI+ Kollektiv; mit Attta (Asociación de Travestis y Transexuales) in Córdoba; und mit indigenen Gemeinschaften, zum Beispiel mit den Menschen von La Toma unter Leitung von Lucía Villarreal, das ist die Gemeinschaft der Comechingones von Córdoba.

Unserem Verständnis nach ist es ein intersektionaler Feminismus, da sich bei uns unterschiedliche Situationen, unterschiedliche Perspektiven auf geografischer Ebene und auf der Ebene der Bildung überschneiden. Die Sicht der Anderen macht uns bewusst, dass wir Kämpferinnen für eine gemeinsame Sache sind, und in diesem Moment geht es darum, dass wir uns auf gesellschaftlicher Ebene nicht repräsentiert fühlen.

Vor kurzen wurde Francia Márquez zur Vizepräsidentin Kolumbiens gewählt, was wir sehr gefeiert haben. Eigentlich bräuchten wir viele Personen wie Francia Márquez in der Gesellschaft, damit wir zumindest ein paar der Klischees aufbrechen können, den Rassismus, die Unsichtbarmachung, die Diskriminierung, die wir als Frauen, als Schwarze und als Arme erfahren müssen. Angesichts dieser drei Bedingungen wissen wir, dass unser Kampf nicht derselbe ist wie der Kampf der weißen Frau.

In einigen Fällen mag er sich überschneiden, aber nicht in allen und wir wollen keine Spaltung zwischen jenem und unserem Kampf, denn das sind antagonistische Diskussionen, die nichts bringen. Wir müssen alle vereint sein, damit wir die Orte einnehmen können, die die Frau in Wirklichkeit verdient hat und schon immer hätte einnehmen sollen.

Es gibt einen Wandel, eine Neugestaltung, eine Dekonstruktion, die wir aus zuvor begrenzten und mittlerweile erweiterten Räumen voranzutreiben versuchen, denn mitunter können wir auf die Unterstützung der Stadtverwaltung von Córdoba zählen. Ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, das Erinnerungsschild zum 27. April (Tag der Afrocordobesischen Kultur) gegenüber der Kathedrale anzubringen, in Anerkennung, dass es eine Afro-Kultur in Cordobá gegeben hat, dass es versklavte Menschen gegeben hat, was einem Großteil der Bevölkerung von Cordobá nicht bekannt ist. Ich denke, dass es Kämpfe und Räume sind, die wir gewinnen.

Sind wir Argentinierinnen und Argentinier rassistisch? Warum existiert die falsche Annahme, dass es keine afro-argentinischen Personen geben würde?

Ja, ich denke, dass wir sehr rassistisch sind. Natürlich ist es nicht allen bewusst, denn es ist eine derart normalisierte Praxis, dass sie Teil unserer Sprache ist, leider. Die erste Beleidigung, die jemand einer Schwarzen Person sagen wird, lautet "scheiß Schwarzer", aber diese Beleidigung ist genauso negativ aufgeladen wie andere Wörter, die wir im Alltag nutzen. Zum Beispiel "Schwarzarbeit", "schwarze Liste", "ein schwarzer Tag für Argentinien" und tausend andere Beispiele, die wir in einem langen historischen Prozess verinnerlicht haben, der bis zu Regierungen wie der von Domingo Faustino Sarmiento (Präsident von 1868 bis 1874) zurückreicht.

In seiner Vorstellung sollte Argentinien eine Zweigstelle Europas werden, vorangetrieben durch die europäische Immigration und den Versuch, die Bevölkerung "weiß zu machen", die in höchstem Maße Schwarz geprägt war. In diesem Prozess der Weißmachung und der Mestizierung begann sich das Wort "afro" erst vor wenigen Jahren zu verbreiten, dabei hätte es in Wahrheit schon die ganze Zeit über benutzt werden sollen, denn ein großer Teil unserer Bevölkerung ist Schwarz.

Das ist bei so einfachen Dingen wie dem nationalen Personalausweis geschehen. Ich erinnere mich, dass in meinem ersten Ausweis, den ich mit sechs oder acht Jahren besaß, "Hautfarbe: farbig" (color de piel: trigueña) stand. Es gibt keine "farbige" Hautfarbe. Ich habe mich immer als Schwarze Frau gesehen, also hätte die korrekte Bezeichnung "afrikanischstämmig" (afrodescendiente) sein müssen.

Bis hin zu den Geschichtsbüchern. Die Afro-Person wird auch bei Schulaufführungen nur als die kleine Schwarze dargestellt, die Mazamorra, Empanada oder Kerzen verkauft, das Gesicht wird grob mit verkohltem Kork bemalt und sie wird in ein buntes Hemd gesteckt, obwohl das nicht den historischen Tatsachen entspricht. Die Versklavten haben keine Kerzen verkauft, sie spazierten nicht in geblümten und bunten Hemden durch die Gegend, denn sie trugen Lumpen. Und das Gesicht eines Kindes in einem Schulstück sollte außerdem nicht bemalt werden, denn das ist eine Verspottung unserer Vorfahren.

Diese Themen versuchen wir in unsere Workshops einzubringen, die wir in den Grundschulen und weiterführenden Schulen halten, wo wir durchweg positive Rückmeldungen von den Kindern und auch von den Lehrern erhalten. Es ist notwendig, unsere Kindern zu bilden, denn sie sind die nachfolgenden Generationen, die mit einer anderen Denkweise heranwachsen werden und wir müssen ihnen die Wahrheit erzählen.

Wir müssen ihnen sagen, dass, wenn sie ein Geschichtsbuch öffnen und das Gesicht von Bernardino Rivadavia sehen (erster argentinischer Präsident, 1826-1827), dies nicht sein wahres Gesicht ist. Rivadavia hatte afrikanische Wurzeln, er war Schwarz. Tatsächlich bezeichneten ihn seine Gegner, um ihn zu beleidigen, als "Doktor Schokolade". Und wenn wir heute ein Porträt von Rivadavia sehen, dann sehen wir ihn weiß, wir sehen eine bearbeitetes Bild.

Wir müssen Nationalhelden zurückfordern, damit sich Personen afrikanischer Herkunft ebenfalls repräsentiert fühlen. Zum Beispiel María Remedios del Valle, Unteroffizier Juan Bautista Cabral, Martín Miguel de Güemes,2 alles Schwarze Menschen, die Teil unserer argentinischen Geschichte waren und nicht als solche benannt werden. Ich bin überzeugt, dass wir einen Prozess der Bildung und auch des Lernens vollziehen müssen, von der Sprache bis zur Enthüllung unserer wirklichen Geschichte.

In meiner persönlichen Geschichte bin ich nicht mit dem Wissen aufgewachsen, dass ich afrikanische Wurzeln habe. Ich habe es gemerkt, wenn ich mich im Spiegel betrachtet und gesehen habe, dass ich Schwarz bin. Die Geschichte, die mir Zuhause von meinem italienischen Urgroßvater erzählt wurde, passte nicht mit dem zusammen, was ich im Spiegel sah, ich wusste, dass da noch mehr war.

Ich forschte weiter, fragte Verwandte, meine Großmutter, vor allem meine Tante und entdeckte schließlich, dass es eine Schwarze Ahnin gab, die mein italienischer Urgroßvater versteckte, weil er sich schämte zu sagen, dass sie seine Ehefrau war. Er stellte sie als Dienstmädchen des Hauses vor. Sie war die Mutter meines Großvaters väterlicherseits.

Von dieser Geschichte ausgehend, die für mich sehr schmerzhaft war, verstand ich, dass die Bevölkerung Cordobas voll von solchen Familiengeschichten ist. Das einzige, was wir machen müssen, ist nachzufragen, die Daten des ältesten Vorfahren herauszufinden, den wir haben, und mit der Suche zu beginnen, um unsere Geschichte zusammenzufügen. Unsere Identität ist ein Puzzle.

Meine Urgroßmutter zu finden, Frau Sabina Gordillo, meine Schwarze Vorfahrin, war das letzte Stück eines großen Puzzles, das mich heute als Mensch vervollständigt und mich sagen lässt: "Ich habe afrikanische Wurzeln, ich weiß, wer ich bin."

  • 1. Am 25. Juli 1992 trafen sich afroamerikanische Frauen aus 32 Ländern Lateinamerikas und der Karibik in der Dominikanischen Republik, um ihre Kämpfe und ihren Widerstand sichtbar zu machen und Strategien festzulegen, die es ihnen ermöglichen, verschiedenen Formen der Unterdrückung wie Rassismus, Sexismus, Ausgrenzung, Gewalt und Armut aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive zu begegnen. Seitdem ist dieses Datum als "Internationaler Tag der afro-lateinamerikanischen, afro-karibischen und Diaspora-Frauen" eingeführt worden.
  • 2. Bedeutende Persönlichkeiten im argentinischen Befreiungskrieg gegen den Kolonialismus