Deutschland-Argentinien: "Vertrauensvolle Beziehungen"

Deutsche Regierung will eng mit Argentinien unter dem ultrarechten Präsidenten Milei kooperieren. So wie die BRD bereits mit der Diktatur kollaborierte

argentinien_amtseinfuehrung_milei.jpg

Milei bei seiner Amtseinführung am 10. Dezember 2023
Milei bei seiner Amtseinführung am 10. Dezember 2023

I

Die Bundesregierung bemüht sich weiter um die Ratifizierung des Mercosur-Freihandelsvertrages und will ihre "enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Argentinien" auch mit Präsident Javier Milei fortsetzen. Dies bestätigt ein Regierungssprecher in Berlin.

Milei ist dabei, die Außenpolitik seines Landes neu zu strukturieren, hat Argentiniens eigentlich geplanten Beitritt zum Brics-Bündnis abgesagt, geht auf Distanz zu China und orientiert das Land wieder stärker auf die USA. Dies bietet Chancen auch für eine engere Kooperation mit Deutschland und der EU. Zugleich hat Milei in Argentinien eine radikale Deregulierung gestartet, den weitreichenden Ausverkauf von Staatsbesitz eingeleitet und herbe Einschnitte in das Streik- sowie in das Demonstrationsrecht per Dekret oktroyiert; vom argentinischen Kongress will er sich die Kompetenz übertragen lassen, für zwei Jahre per Dekret ohne parlamentarische Zustimmung zu regieren. Bei Kritikern ruft er damit Erinnerungen an die Zeit der Militärdiktatur wach. Während Berlin enger kooperieren will, kommt es im Land selbst zu ersten Massenprotesten.

"Verhandlungen zügig abschließen"

Die Bundesregierung setzt ihre Bemühungen um eine baldige Ratifizierung des Freihandelsabkommens mit dem südamerikanischen Staatenbündnis Mercosur fort. Vor zwei Wochen tauschte sich Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Telefongespräch mit Milei über weitere Schritte aus. Nach Angaben der Bundesregierung waren sich beide "einig, dass die Verhandlungen über das Abkommen zügig abgeschlossen werden sollen".1

Milei hatte im Wahlkampf unter anderem über den Austritt Argentiniens aus dem Mercosur spekuliert; dieser hätte das Abkommen hinfällig gemacht. Mittlerweile ist davon keine Rede mehr.

Darüber hinaus ist die Bundesregierung bestrebt, die französischen Widerstände gegen die Vereinbarung auszuhebeln. Frankreich fürchtet – wie auch Österreich und Irland –, das Abkommen werde zu größeren Nachteilen für seine Bauern führen. Es stellt sich deshalb seit Jahren quer und verschanzt sich dabei hinter der Forderung, der Mercosur müsse eine Zusatzerklärung zum Schutz des Regenwaldes unterzeichnen, was die Mercosur-Staaten ablehnen. Wie ein Sprecher der Bundesregierung in der vergangenen Woche erklärte, werbe Berlin "in engen Gesprächen mit der französischen Seite" immer wieder für das Abkommen und hoffe, "zu einer Lösung zu kommen".2

"Weiterhin eng kooperieren"

Dabei finden Berlin und die EU zur Zeit nicht nur mit Blick auf das Mercosur-Abkommen durchaus günstige Chancen vor, ihre Zusammenarbeit mit Argentinien auszubauen. Präsident Milei ist dabei, die Außenpolitik des Landes umfassend umzuformen. Den Beitritt zum Brics-Bündnis zum 1. Januar 2024, den die Vorgängerregierung ausgehandelt hatte, hat er zum jetzigen Zeitpunkt abgesagt. Stattdessen orientiert er vorrangig auf eine Kooperation mit den USA, die er Ende November bereits vor seiner Vereidigung besucht hat, um seine ersten Absprachen mit der US-Administration zu treffen. Milei hat darüber hinaus erklärt, er wolle eng mit Israel kooperieren. Die Beziehungen zu China gestalten sich äußerst heikel. Das Land ist Argentiniens zweitgrößter Handelspartner und gegenwärtig sein bedeutendster Investor; einen Bruch mit ihm zu vollziehen, wie Milei es im Wahlkampf in Aussicht gestellt hat, ist kaum möglich. Außenministerin Diana Mondino hat vor kurzem die Vertreterin Taiwans in Buenos Aires offiziell empfangen und damit einen Eklat ausgelöst.3Die Kooperation mit Deutschland wiederum will Milei, wie er bei seinem Telefonat mit Scholz erklärte, stärken.4 In Berlin hatte ein Regierungssprecher bereits Ende Dezember bestätigt, man wünsche "die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Argentinien fortzusetzen".5

Der Anarchokapitalist

Dem steht aus Sicht der Bundesregierung die extrem rechte Orientierung, die Milei und führende Mitglieder seiner Regierung aufweisen, offenkundig nicht im Weg. Milei selbst ist ein bekennender Anhänger der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, deren prominenteste Vertreter Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek sind; er vertritt libertäre Positionen und bezeichnet sich selbst als "Anarchokapitalisten". Im Wahlkampf hat er erklärt, er wolle die argentinische Landeswährung, den Peso, abschaffen, ihn durch den US-Dollar ersetzen und die Zentralbank auflösen. Über den Handel mit menschlichen Organen hat er einst geäußert, dies sei "auch nur ein Markt".6 International unterhält Milei gute Beziehungen zu Beratern von Ex-US-Präsident Donald Trump sowie zu dessen Ex-Berater Steve Bannon; dabei legt er Wert auf die Feststellung, noch vor seinem ersten Gespräch mit US-Präsident Joe Biden Ende November habe er mit dessen Vorgänger Trump persönlich telefoniert. Ein enges Verhältnis verbindet ihn zudem mit Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro und mit dessen Sohn Eduardo Bolsonaro, der für seinen Vater internationale Beziehungen knüpft. Aus Bolsonaros Umfeld erhielt Milei nicht zuletzt auch wertvolle Unterstützung im Wahlkampf.

Deregulierung per Notstandsdekret

Schon mit seinen ersten Maßnahmen im Amt hat Milei begonnen, seine ultraliberalen Pläne im großen Stil zu realisieren. So hat er am 20. Dezember in einem Präsidialdekret (Decreto de Necesidad e Urgencia) den Notstand ausgerufen und mehr als 300 Maßnahmen oktroyiert, die etwa das Arbeitsrecht aushöhlen, Mietbeschränkungen aufheben und die Privatisierung von Staatsunternehmen forcieren. Beobachter sprechen von einer "Schocktherapie". Am 27. Dezember legte Milei außerdem das "Ley Omnibus" vor, einen Gesetzestext mit 664 Paragraphen, der zahlreiche weitere Deregulierungsmaßnahmen enthält, darunter die Abschaffung von Regelwerken für den Bergbau, die Öffnung der argentinischen Meeresgebiete für auswärtige Fischereiflotten, die Legalisierung der Anstellung von Haushaltshilfen ohne Sozialabgaben sowie die Streichung von Kontrollen und Strafen bei Schwarzarbeit.7 Schätzungen zufolge hat die argentinische Bevölkerung bereits in Mileis erstem Monat im Amt 15 Prozent ihrer Kaufkraft verloren – beinahe doppelt so viel wie in der gesamten Amtszeit von Mileis Amtsvorgänger Alberto Fernández (8 Prozent).8 Zur "Ley Omnibus" zählen auch Schritte, die Proteste verhindern sollen. So wird das Streikrecht stark eingeschränkt; zudem müssen künftig bereits Gruppen von drei Personen, wenn sie sich öffentlich versammeln, eine Genehmigung dafür einholen.

Generalstreik

Schließlich verlangt Milei, mit dem die Bundesregierung eine "enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit" anstrebt, von beiden Kammern des argentinischen Parlaments, es ihm für zwei Jahre zu erlauben, per Dekret zu regieren. Nach Ablauf der zwei Jahre will Milei es sich selbst gestatten dürfen, dies für den Rest seiner Amtszeit zu tun. Artikel 29 der argentinischen Verfassung verbietet ein solches Vorgehen ausdrücklich; dass der Kongress sich selbst entmachtet, gilt zudem als wenig wahrscheinlich.9 Unabhängig davon hat die Justiz erste Maßnahmen gestoppt; so wurden arbeitsrechtliche Deregulierungen, etwa die Kürzung des Mutterschutzes oder eine Verlängerung der Probezeit, gerichtlich unterbunden.10 Außerdem haben massive Proteste aus der Bevölkerung begonnen. Zu ersten Demonstrationen kam es bereits am 20. Dezember, gerade einmal zehn Tage nach Mileis Amtsantritt. Am 24. Januar fand ein Generalstreik statt. Ein heftiger Kampf gegen die Notstandsdekrete ist in vollem Gange.

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9455

II

argentinien_verteidigungsminister_petri.jpeg

Mileis Verteidigungsminister Luis Petro beim Truppenbesuch am Marinestützpunkt Mar del Plata
Mileis Verteidigungsminister Luis Petro beim Truppenbesuch am Marinestützpunkt Mar del Plata

Das Heer des Landes wurde einst unter deutscher Anleitung modernisiert; "Germanophile" boten NS-Verbrechern nach 1945 Zuflucht

Offen antidemokratische Maßnahmen von Milei sorgen für Unruhe. Er will sich vom Kongress ermächtigen lassen, für mindestens zwei Jahre per Dekret zu regieren. Parallel baut er die Führungsspitze der Streitkräfte radikal um, während Vizepräsidentin Victoria Villarruel auf eine Rehabilitierung der Militärdiktatur hinarbeitet. Argentiniens Streitkräfte waren in einer maßgeblichen Phase ihrer historischen Prägung starkem deutschen Einfluss ausgesetzt: Als sie seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert modernisiert wurden, hatten deutsche Offiziere als Berater und Ausbilder prägende Funktionen inne. Historiker schreiben der Fraktion der "Germanophilen" im argentinischen Heer bis 1945 eine tonangebende Rolle zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Personen aus diesem Spektrum daran beteiligt, teilweise schwer belasteten NS-Verbrechern den Weg ins argentinische Exil zu bahnen. Zuflucht in dem südamerikanischen Land fanden neben vielen anderen Josef Mengele und Adolf Eichmann.

Tonangebende "Germanophile"

Erheblichen Einfluss auf die argentinischen Streitkräfte erhielt das Deutsche Reich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als Argentinien sein Heer gezielt zu modernisieren begann. Ziel war es, das Land, das damals über eine Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung oberhalb derjenigen Deutschlands und Frankreichs verfügte, zur Führungsmacht Südamerikas zu machen und außerdem auf globaler Ebene mit den Industriestaaten zu konkurrieren. Dabei setzte Buenos Aires nicht nur auf deutsche Waffen etwa von Krupp, sondern auch darauf, argentinische Offiziere im Deutschen Reich ausbilden zu lassen und insbesondere auch deutsche Militärs als Ausbilder und Berater ins Land zu holen. Bekannt ist Wilhelm Faupel, ein deutscher Militär, der sich an Kolonialkriegen in China und in Afrika beteiligt hatte – in China an der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstands, im heutigen Namibia am Genozid an den Herero und Nama –, bevor er von 1911 bis 1913 an einflussreicher Stelle in Argentinien als Ausbilder wirkte. "Einen großen Teil der von Deutschen ausgebildeten Offiziere", so heißt es in einer Studie über die deutsch-argentinischen Militärbeziehungen, habe man "zu den ‘Germanophilen‘ rechnen" können, "die im argentinischen Heer bis 1945 den Ton angaben".11

Aus dem Freikorps nach Argentinien

"In den zwanziger Jahren", heißt es in der Untersuchung weiter über die "Germanophilen", "rückten ... zahlreiche von Deutschen ausgebildete Offiziere in Schlüsselpositionen auf". 1936 konnte sogar "mit Basilio Pertiné ... ein führender Germanophiler zum Kriegsminister" in Buenos Aires aufsteigen.12 Von deutschen Ausbildern und Beratern geprägt, empfanden zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Teile des argentinischen Offizierskorps "Sympathien ... für das Deutsche Reich"; "Sympathiebekundungen argentinischer Offiziere für die Achsenmächte" habe man in der bedeutendsten argentinischen Armeezeitung immer wieder lesen können, bis sich die deutsche Kriegsniederlage klar abgezeichnet habe. Auch die Grupo de Oficiales Unidos (GOU), ein Zusammenschluss von Offizieren, der sich 1943 per Putsch an die Macht brachte, umfasste eine Reihe prodeutscher Militärs, darunter Juan Perón, der 1946 zum Präsidenten Argentiniens aufstieg. "Intensive Kontakte" zum GOU sowie zu Perón unterhielt nicht zuletzt Wilhelm Faupel.13 Faupel hatte nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg ein Freikorps gegründet und sich am Kapp-Putsch beteiligt, bevor er als Berater erneut nach Argentinien ging. Nach 1933 wurde er erst Präsident des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin, 1936 dann deutscher Botschafter in Spanien bei Francisco Franco.

Deutsche Spezialisten

Faupel wird zum Kreis derjenigen Nazis gerechnet, die nach dem Zweiten Weltkrieg begannen, die Verschiebung von NS-Guthaben nach Argentinien und die Flucht teilweise führender NS-Funktionäre in das südamerikanische Land zu organisieren. Perón wollte Europas Schwächephase nach den Verheerungen des Krieges nutzen, um Argentinien einen weltpolitischen Aufstieg zu einer Großmacht zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ermöglichen. Dies veranlasste ihn unter anderem zu dem Versuch, NS-Wissenschaftler und -Rüstungsexperten ins Land zu holen, um Buenos Aires einen eigenen Zugriff auf die damaligen Spitzentechnologien zu eröffnen. In einigen Fällen hatte Perón damit Erfolg. So gelang es, Kurt Tank, den früheren Chefkonstrukteur der Bremer Focke-Wulf-Flugzeugwerke (1931 bis 1945), der für das NS-Reich Kampfflugzeuge gebaut sowie den Düsenjäger Ta 183 entworfen hatte, nach Argentinien zu holen.14 Tank entwickelte in Córdoba nun – unter anderem auf der Grundlage von Unterlagen, die er aus Deutschland nach Argentinien geschmuggelt hatte – das Jagdflugzeug Pulqui II, das damals als eines der besten Jagdflugzeuge weltweit galt. Tank konnte sich dabei auf ein Team von rund 50 Spezialisten stützen, die größtenteils, wie er selbst, aus Deutschland kamen.

Hauptverantwortlicher der Shoah

Neben Spezialisten wie Tank und seinem Team fanden zahlreiche weitere Nazis Zuflucht in Argentinien, darunter Erich Priebke und Josef Mengele. Priebke nahm als Hauptsturmführer der SS unter anderem am Massaker in den Ardeatinischen Höhlen in Rom teil, bei dem 335 Zivilisten ermordet wurden. Er lebte bis 1994 unbehelligt in Argentinien, wurde erst 1994 entdeckt und 1998 in Italien zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die er allerdings wegen seines Gesundheitszustandes nicht verbüßen musste. Mengele betätigte sich als Lagerarzt im Vernichtungslager Auschwitz, wo er den Massenmord an den Juden begleitete und Häftlinge menschenverachtenden Experimenten unterwarf. Im Jahr 1960 zog er aus Argentinien nach Brasilien; dort starb er 1979 unentdeckt an einem Schlaganfall. Gleichfalls nach Argentinien fliehen konnte im Jahr 1950 Adolf Eichmann, der Cheforganisator der Deportation von Millionen Jüdinnen und Juden in die deutschen Vernichtungslager und einer der Hauptverantwortlichen der Shoah. Eichmann wurde schließlich in Argentinien entdeckt, im Jahr 1960 von israelischen Agenten nach Israel gebracht und dort vor Gericht gestellt. 1962 wurde er hingerichtet.15

"Ermächtigung der Streitkräfte"

Aktuell ruft in Argentinien Unruhe hervor, dass Präsident Milei die Armeeführung radikal umbaut. So hat er an die Spitze aller drei Teilstreitkräfte neue Oberkommandierende gesetzt, den Oberbefehlshaber des gemeinsamen Generalstabs von Heer, Luftwaffe und Marine ausgetauscht sowie 22 Heeresgeneräle in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. "Dies entspricht zwei Dritteln des Führungsstabes", heißt es in einem Bericht.16 Zusätzlich sind auch im Verteidigungsministerium zahlreiche Posten, die bisher Zivilisten innehatten, an Militärs übertragen worden. "Seit der Rückkehr der Demokratie", urteilt der Politologe Fabián Calle, "hatten die Militärs nicht mehr so viel Einfluss im Verteidigungsministerium wie jetzt. Dies ist ein klares Zeichen für die Ermächtigung der Streitkräfte".17 Über das konkrete Ziel der Maßnahmen wird spekuliert.

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9456

III

argentinien_villarruel_videla.jpg

Proteste gegen die Leugnerin der Diktarturverbrechen: Villarruel hatte Ex-Diktator Videla im Gefängnis besucht und auch Jugendliche dazu eingeladen
Proteste gegen die Leugnerin der Diktarturverbrechen: Villarruel hatte Ex-Diktator Videla im Gefängnis besucht und auch Jugendliche dazu eingeladen

Die Vizepräsidentin der von Berlin umworbenen ultrarechten Regierung sucht die Militärdiktatur zu rehabilitieren. Die Bundesrepublik kollaborierte mit der Diktatur

Der angestrebten engen Zusammenarbeit mit Argentinien steht offenbar auch nicht entgegen, dass die neue Vizepräsidentin Victoria Villarruel sich um Unterstützung für Militärs bemüht hat, die wegen Verbrechen in der Zeit der Diktatur (1976 bis 1983) verurteilt wurden, und sich für ihre Rehabilitierung einsetzt. Mit der Diktatur, die ungefähr 30.000 tatsächliche oder angebliche Oppositionelle "verschwinden" ließ, kollaborierte die damalige sozialliberale Bundesregierung, die den ersten Juntachef als eine "ordnende Hand" im "argentinischen Chaos" lobte. Bundesdeutsche Konzerne profitierten stark. Gegen Manager von Mercedes Benz Argentina laufen deshalb noch heute Gerichtsverfahren.

Ein "friedlicher Militäraufstand“

Villarruel, die seit dem 10. Dezember amtierende Vizepräsidentin Argentiniens, ist seit mehr als zwei Jahrzehnten in verschiedenen Organisationen oder in ihrem Umfeld aktiv, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Militärs zu unterstützen und sie nach Möglichkeit zu rehabilitieren, die für ihre Verbrechen im Rahmen der argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983) verurteilt wurden. 2006 gründete sie dazu das Centro de Estudios Legales sobre el Terrorismo y sus Víctimas ("Zentrum für Rechtsstudien über den Terrorismus und seine Opfer"), das sich mit Tötungs- und anderen Delikten befasst, die Aktivisten und Guerilleros im Widerstand gegen die Militärdiktatur und ihre Vorläufer begangen haben sollen.18 Die Aktivitäten des Zentrums laufen darauf hinaus, die Militärs der 1970er und der 1980er Jahre und ihre Parteigänger als Opfer darzustellen, die von Linken angegriffen wurden. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Militärs sich nicht verteidigen mussten und nur dazu 1976 nach der Macht griffen. Die neue, von Milei ernannte Staatssekretärin für Bildung und Erziehung, Maria Eleonora Urrutia, knüpfte gedanklich daran an, als sie den Putsch vom 24. März 1976 einst einen "friedlichen Militäraufstand" nannte und erklärte, die Militärs könnten damals keine Verbrechen begangen haben, da sie nur "kämpfende Bevölkerung" ins Visier genommen hätten.19

Eine "ordnende Hand“

Ähnliche Positionen waren in den Jahren 1976 und 1977 intern in der bundesdeutschen Botschaft in Buenos Aires und in Bonner Regierungskreisen zu hören. Dort wurde etwa der erste Chef der Junta, General Jorge Rafael Videla, als "ordnende Hand" im "argentinischen Chaos" gelobt.20 Bereits am 26. März 1976, lediglich zwei Tage nach dem Putsch, sicherte die Bonner Regierung ihm eine "Fortsetzung der freundschaftlichen Beziehungen" zu.[4] 21 Erste Berichte von Massenverhaftungen änderten daran nichts; als Ende März 1976 von bis zu 4.000 politischen Gefangenen berichtet wurde, wurde dies im Auswärtigen Amt als übertriebene Propaganda eingestuft.22 Noch im September 1977 rechtfertigten Beamte im bundesdeutschen Außenministerium den Putsch mit der Behauptung, "das Eingreifen der Streitkräfte" im März 1976 sei “der einzige gangbare Ausweg" gewesen, das im Land "entstandene Machtvakuum auszufüllen". Damals waren schwerste Verbrechen der Militärs in Bonn längst bekannt, nicht zuletzt, weil allein 1976 und 1977 mindestens 40 deutsche Staatsbürger entführt, gefoltert und ermordet worden waren. Argentinische Angehörige des Sicherheitspersonals der deutschen Botschaft, die außerhalb ihres dortigen Diensts an der Folter beteiligt waren, erzählten einmal in Anwesenheit eines Beamten des BND, sie hätten gerade "einer Terroristin den Bauch aufgeschlitzt".23 Folgen hatte das nicht.

"Auslandskapitalfreundlich“

Die demonstrative politische Ignoranz der Bundesregierung gegenüber den Verbrechen der Militärdiktatur korrespondierte mit einer Blütephase der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen in den Jahren von 1976 bis 1983. Auch dank des Streikverbots, das die Militärs verhängten, schrumpften die Reallöhne in Argentinien bis 1980 um rund ein Drittel, während sich die Chancen für auswärtige Händler und Investoren klar verbesserten. Die Investitionen aus der Bundesrepublik schnellten zwischen 1976 und 1982 um 131 Prozent in die Höhe, während die bundesdeutschen Exporte von 873 Millionen D-Mark im Jahr 1976 auf 3,056 Milliarden D-Mark im Jahr 1983 stiegen. Der Umsatz, den die argentinischen Filialen bundesdeutscher Unternehmen erzielten, wuchs von 1,8 Milliarden D-Mark im Jahr 1976 auf ungefähr 2,8 Milliarden D-Mark 1979. Herausragende Bedeutung hatten der Auftrag zum Bau eines Atomkraftwerks (Atucha II) durch die deutsche Kraftwerk Union im Jahr 1980 und allerlei Rüstungsgeschäfte, die auch die Vergabe von Lizenzen umfassten und Argentinien in die Lage versetzten, die Rüstungsindustrie eigenständig weiterzuentwickeln. Bereits Ende 1978 lobte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Militärs: "Die bereits über zweieinhalb Jahre andauernde Phase muß als Stabilitätserfolg gewertet werden."24 Endlich sei ein "auslandskapitalfreundliches“ Investitionsklima gegeben.

Produktionssteigerung

Nicht nur deutsche Regierungsstellen, auch deutsche Konzerne haben mit der argentinischen Militärdiktatur kollaboriert, die ihnen äußerst attraktive Profite ermöglichte. Ein Beispiel, das die argentinische Justiz bis heute beschäftigt, bietet Mercedes Benz Argentina bzw. dessen Werk in González Catán bei Buenos Aires. 14 Arbeiter, die dem dortigen unabhängigen Betriebsrat angehörten, wurden von den Repressionskräften der Diktatur verschleppt und ermordet; offiziell gelten sie bis heute als "verschwunden“. Vor ihrer Entführung waren zumindest einige von ihnen laut Recherchen der Journalistin Gaby Weber als "Subversive“ bei den Militärs denunziert worden.25 Mehrere Gerichtsverfahren, darunter auch solche in Deutschland, wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt. Aktuell läuft noch eines gegen den damaligen Mercedes-Manager Juan Tasselkraut. Der damalige Mercedes-Arbeiter Héctor Ratto, der im August 1977 in die Folterkeller der Diktatur verschleppt wurde, aber überlebte, sagt aus, dass er mithörte, wie Tasselkraut den Repressionskräften den Aufenthaltsort eines anderen Arbeiters, Diego Núñez, verriet. Núñez wurde daraufhin verschleppt und mutmaßlich ermordet.26 Tasselkraut hat konstatiert, dass nach dem Verschwinden mehrerer Arbeiter die Produktion im Werk in González Catán deutlich stieg. Mercedes war damals der zentrale Lieferant von Unimogs für die Diktatur.27

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9463

  • 1. Bundeskanzler Scholz telefoniert mit dem Präsidenten der Argentinischen Republik Milei. bundesregierung.de 09.01.2024.
  • 2. Regierungspressekonferenz vom 10. Januar 2024. bundesregierung.de 10.01.2024.
  • 3. Diana Mondino sigue provocando a China. pagina12.com.ar 10.01.2024.
  • 4. Román Lejtman: Milei dialogó con Scholz y Trudeau para fortalecer las relaciones bilaterales con Alemania y Canadá. infobae.com 09.01.2024.
  • 5. Christoph Röckerath: Was von Mileis Außenpolitik zu halten ist. zdf.de 05.01.2024.
  • 6. Karen Naundorf: Präsident mit Kettensäge. srf.ch 20.11.2023.
  • 7. Miguel Arndt: Nationalkongress in Argentinien soll Mileis "Ermächtigungsgesetz" absegnen. amerika21.de 31.12.2023.
  • 8. Roland Peters: Milei will Kongress für mindestens zwei Jahre entmachten. n-tv.de 09.01.2024.
  • 9. Miguel Arndt: Nationalkongress in Argentinien soll Mileis "Ermächtigungsgesetz" absegnen. amerika21.de 31.12.2023.
  • 10. Gericht bremst Milei in Argentinien aus. n-tv.de 04.01.2024.
  • 11. Oliver Gliech: Die Deutsch-argentinischen Militärbeziehungen (1900-1945). In: Peter Birle (Hrsg.): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien. Frankfurt am Main 2010. S. 75-95.
  • 12. Oliver Gliech: Die Deutsch-argentinischen Militärbeziehungen (1900-1945). In: Peter Birle (Hrsg.): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien. Frankfurt am Main 2010. S. 75-95.
  • 13. Frank Garbely: Evitas Geheimnis. Die Nazis, die Schweiz und Peróns Argentinien. Zürich 2003.
  • 14. Frank Garbely: Evitas Geheimnis. Die Nazis, die Schweiz und Peróns Argentinien. Zürich 2003.
  • 15. Uki Goñi: Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Berlin/Hamburg 2006.
  • 16. Christian Dürr: Argentinien: Regierung von Javier Milei baut Streitkräfte um. amerika21.de 06.01.2024.
  • 17. Christian Dürr: Argentinien: Regierung von Javier Milei baut Streitkräfte um. amerika21.de 06.01.2024.
  • 18. Luciana Bertoia: ¿Quién es Victoria Villarruel, la defensora de la familia militar que secunda a Javier Milei? pagina12.com.ar 19.11.2023.
  • 19. Stephan Hollensteiner: Argentinien: Javier Milei vervollständigt sein Kabinett und kündigt "Stagflation" an. amerika21.de 04.12.2023.
  • 20. Wolfgang Kaleck: Die "Koalition gegen Straflosigkeit". In: Peter Birle, Elke Gryglewski, Estela Schindel (Hg.): Urbane Erinnerungskulturen im Dialog: Berlin und Buenos Aires. Berlin 2009. S. 261-270.
  • 21. Konstantin Thun: Menschenrechte und Außenpolitik. Bundesrepublik Deutschland – Argentinien 1976-1983. Aktualisierte Neuauflage, 2006. S. dazu Aufstieg mit der Diktatur und Rezension: Konstantin Thun: Menschenrechte und Außenpolitik.
  • 22. Wolfgang Kaleck: Die "Koalition gegen Straflosigkeit". In: Peter Birle, Elke Gryglewski, Estela Schindel (Hg.): Urbane Erinnerungskulturen im Dialog: Berlin und Buenos Aires. Berlin 2009. S. 261-270.
  • 23. Konstantin Thun: Menschenrechte und Außenpolitik. Bundesrepublik Deutschland – Argentinien 1976-1983. Aktualisierte Neuauflage mit Ergänzungen des Autors und Beiträgen von Kuno Hauck, Osvaldo Bayer, Wolfgang Kaleck, Roland Beckert, Esteban Cuya. Bad Honnef 2006.
  • 24. Siehe 6
  • 25. Gaby Weber: Die Verschwundenen von Mercedes-Benz. Berlin/Hamburg/Göttingen 2001.
  • 26. Luciana Bertoia: Elevan a juicio oral a un exgerente de Mercedes Benz por secuestros durante la dictadura. pagina12.com.ar 28.10.2023.
  • 27. Gaby Weber: Wunder gibt es nicht – 2017. www.youtube.com/watch?v=US_i-KW7jWI.