Massive Proteste in Argentinien gegen "Anpassungsplan" der neuen Regierung

Erste Mobilisierung bringt in der Hauptstadt und an anderen Orten Massen auf die Straßen. Einsatzkräfte des Bundes mussten unwillige örtliche Polizei flankieren

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Erste Mobilisierung gegen das "Schockprogramm" der Regierung Milei
Erste Mobilisierung gegen das "Schockprogramm" der Regierung Milei

Buenos Aires. Zehn Tage nach Amtsantritt hat die Regierung von Präsident Javier Milei die ersten großen Demonstrationen gegen ihr Programm einer wirtschaftlichen "Schocktherapie" erlebt. Der Mittwoch war zugleich eine Kraftprobe um das repressive "Sicherheitsprotokoll" der Innenministerin Patricia Bullrich, mit dem die Menschen von der Teilnahme an Protesten abgeschreckt werden sollten.

Gewerkschaften und soziale Organisationen wie die Unidad Piquetera (UP) und der Polo Obrero führten am Mittwoch in Buenos Aires mehrere Demonstrationszüge an, die auf den Plaza de Mayo zogen, "um Milei und dem Anpassungs- und Elendsplan des IWF entgegenzutreten". Die Politik der Regierung verurteilten die Protestierenden als "eine Kriegserklärung gegen die tariflichen, sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiterschaft und des Volkes".

Die historische Anführerin der Mütter der Plaza de Mayo, die 93 Jahre alte Nora Cortiñas, kam ebenfalls auf den Platz, der zum Symbol für den Widerstand gegen die argentinische Militärdiktatur (1976 - 1983) geworden ist.

Demonstrierende trugen Schilder mit Aufschriften wie "Nein zu Mileis Sparmaßnahmen. Am Ende war 'die Kaste' das Volk", "Nieder mit dem Kettensägen-Anpassungsplan von Milei und dem IWF" oder "Nein zu Bullrichs Protokoll". In seinem Wahlkampf hatte Milei hervorgehoben, dass er zur Lösung der wirtschaftlichen Krise des Landes gegen "die Kaste" der politischen und wirtschaftlichen Eliten vorgehen werde.

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In Erinnerung an Mileis Wahlkampfparolen
In Erinnerung an Mileis Wahlkampfparolen

Die Reden von einer aufgebauten Bühne hoben die "Einheit" hervor, die "Dutzende von Volks-, Gewerkschafts-, Streikposten-, Studenten-, Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen" zeigen würden. Von hier aus wurde ein Dokument verlesen, das die Ziele des Protestes zusammenfasste.

Zu den Hauptforderungen gehörten "ein Ende der Unterdrückung und Kriminalisierung der Proteste", die "sofortige Wiederaufnahme der Tarifverhandlungen und eine allgemeine Erhöhung der Gehälter, Renten und Sozialpläne" sowie "keine Entlassungen und Suspendierungen". "Wir wollen keine weitere Austerität, wir wollen keine Repression, wir wollen nicht, dass die Werktätigen für die Krise bezahlen". Wer die Einheit des Protests nicht wolle, werde verlieren, so eine zentrale Botschaft.

Das Datum der Mobilisierung verwies auf den Volksaufstand vom 19. und 20. Dezember 2001, bei dem landesweit 39 Menschen ums Leben kamen und der zum Sturz des damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa führte. Dessen Regierung neoliberaler Anpassung gehörte auch Bullrich an.

Die Mobilisierung erstreckte sich auf mehrere Stadtviertel von Buenos Aires wie Monserrat, Caballito, Boedo, Villa Crespo, Palermo, Colegiales, Belgrano, Once, Villa Urquiza, Balvanera, San Telmo, Flores und fand auch in weiteren Provinzen wie Santa Fe und Mendoza statt.

Präsident Milei wählte den Mittwochabend, einige Stunden nach Beginn der Demonstrationen, um in einer auf allen TV-Kanälen übertragenen Ansprache, ein "Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit" zu verkünden. Insgesamt sollen demnach 300 Regularien abgeschafft oder reformiert werden, unter anderem zum Arbeits- und Mietrecht. Staats- und andere öffentliche Unternehmen sollen in Aktiengesellschaften überführt und anschließend privatisiert werden. Viele Regularien hätten "das Wirtschaftswachstum in unserem Land aufgehalten", so Milei. Die Regulierung von Mieten müsse abgeschafft werden, damit der Immobilienmarkt wieder funktionieren könne. Weitere Deregulierungen sollen Sektoren wie Gesundheit, Tourismus, Internet, Handel und Brandschutzvorschriften betreffen. Sozialausgaben sollen drastisch reduziert werden.

Für die Proteste bot Milei die Erklärung an, das es Menschen gebe, "die unter dem Stockholm-Syndrom leiden" und "mit Nostalgie, Liebe und Zuneigung auf den Kommunismus blicken".

Nach der Ansprache dehnten sich die Demonstrationen bis in die frühen Morgenstunden des Donnerstag auf den Platz vor dem Kongress aus. Hier wurde Unmut darüber geäußert, dass das Parlament durch die Dekrete Mileis umgangen werde.

Der Präsident persönlich, die Innenministerin und die Ministerin für Humankapital, Sandra Pettovello, beobachteten zeitweise die Einsätze der Polizei von deren Zentrale aus.

Das Aufgebot war massiv. Während die lokale Polizei unbewaffnet präsent war, trat die Bundespolizei schwer bewaffnet in Erscheinung. Autobahnen, die in die Stadt führen, und das Stadtzentrum wurden von einer großen Zahl an Truppen der Gendarmerie und der Bundespolizei militarisiert. Kleine Einheiten drangen in öffentliche Verkehrsmittel ein, um Fahrgäste zu filmen. An Haltestellen brachten sie Plakate an, die daran erinnerten, dass Demonstrierenden, die die Auflagen des "Sicherheitsprotokolls" verletzen, soziale Leistungen gestrichen werden können. Pettovello hatte zuvor die Telefonnummer 134 ausgegeben, über die "Regelbrecher" gemeldet werden können. Die Botschaft der Plakate wurde auch immer wieder über Lautsprecher verbreitet.

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Bundespolizei im Einsatz, da die lokalen Ordnungskräfte "unzuverlässig" schienen
Bundespolizei im Einsatz, da die lokalen Ordnungskräfte "unzuverlässig" schienen

Die Provinz Buenos Aires und die städtische Polizei hatten im Vorfeld angekündigt, dass sie das "Sicherheitsprotokoll" des Innenministeriums nicht mittragen würden. Der Minister der Provinzregierung, Carlos Bianco, erklärte: "Wir werden es nicht anwenden, weil wir damit nicht einverstanden sind", da der Plan "den Protest in gewissem Sinne kriminalisiert". Mit den Einschränkungen des Rechts auf Protest würde eine Grenze überschritten, "die wir in all den Jahren der Demokratie hatten", fügte er hinzu.

Obwohl die Polizei mit Absperrungen versuchte, die Demonstranten daran zu hindern, die Bürgersteige zu verlassen ‒ der gemäß "Sicherheitsprotokoll" genehmigten Fläche für Demontrationen ‒ gewannen die Protestierenden schließlich die Straßen.

Teilnehmende der Proteste sahen sich im Anschluss als erfolgreich gegenüber dem repressiven Konzept der Regierung. "Der ganze Zirkus von Bullrich wurde durch die Stärke von Tausenden von Demonstranten zu Fall gebracht, die die Polizeiabsperrungen überrannten und ihre Transparente schwenkten und lautstark den Slogan 'Jetzt haben sie das Protokoll im Arsch' skandierten", so die Plattform Resumen Latinoamericano.

In der Menge habe Euphorie darüber, "den Arm von Milei, Bullrich und ihrer Kaste gebeugt zu haben", die Rufe nach Einheit des Protests befördert, so die Schilderung weiter. In den Sozialen Netzwerken kursieren Videos darüber, wie die Demonstrierenden die Polizeiabsperrung durchbrechen und nicht wie vorgeschrieben auf dem Bürgersteig, sondern auf der Straße liefen.