Venezuela / Politik

Von Geschichte und Mythos des Libertadors

Michael Zeuske nähert sich Leben und Nachwirken von Simón Bolívar

Die Geschichtsschreibung ist von der Gegenwart des Historikers nicht zu trennen. Genauso wenig die Geschichte von ihrer Rezeption, der Mythos, der aus historischen Gestalten erwächst. Bei kaum einer Figur sind Geschichte und Mythos so sehr verwoben wie bei Simón Bolívar. Heute kann keine Biografie über den Mann geschrieben werden, der schon zu Lebzeiten den Titel eines "Befreiers" (Libertador) erhalten hat, die nicht gleichzeitig die Rezeption und die damit verbundene Mythenbildung thematisiert. Denn die historische Gestalt Bolívars ist vom Mythos überdeckt, gerade durch die quasi religiöse Verehrung insbesondere in Venezuela, und dabei von allen politischen Seiten vereinnahmt worden.

Dass sich Michael Zeuskes Buch über Bolívar, das 200 Jahre nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Venezuelas erschienen ist, sich deshalb sowohl mit dem Mann und seiner Zeit als auch mit dessen Weiterleben in den Erzählungen befasst, ist deshalb folgerichtig. Sein neues Buch kann quasi als Ergänzung zu den beiden Geschichten des Landes aus Zeuskes Feder gelesen werden, einer "kleinen" und einer (wenn auch nicht so betitelten) "großen". Dabei geht es dem Kölner Lateinamerikanistik-Professor mit Leipziger Wurzeln nicht darum, in der Form der postmodernen Geschichtsschreibung Mythen zu dekonstruieren, so dass am Ende letztlich die Frage bleibt, ob es überhaupt eine Realität in der Geschichte geben würde. Dieses Problem der Kultur- und Mediengeschichte, die heute oft genug verfolgt wird, thematisiert Zeuske in einem Exkurs. In diesem geht es um eine Begegnung Bolívars mit Alexander von Humboldt im Jahr 1804, von der lange Jahre die Rede war, die aber nach der (mustergültig vorgeführten) quellenkritischen Analyse wohl niemals stattgefunden hat.

Zeuske schreibt, dass er den Glauben an die Realität der Geschichte nicht verloren hat. Gut so. Dabei erkennt er auch die Realität des Mythos und ihre Bedeutung für die Geschichte an, wie er gleichsam versucht, diese bis zu ihrem faktischen Grund hin zu verfolgen. Denn anders als in Venezuela heute oft genug angenommen, gab es eben keine einheitliche Nation in dem Karibikstaat. Es gab vor der Unabhängigkeitserklärung 1811 eine kleine Elite mit spanischen Wurzeln, es gab Mestizen, schwarze Sklaven und die Reste indigener Völker. Die Entwicklung der Kolonialgesellschaft bis dahin zeichnet Zeuske nach und lässt einen knappen Überblick über die Unabhängigkeitskriege folgen. Vor diesem Hintergrund werden dann die verschiedenen Mythenbildungen der vergangenen knapp 200 Jahre über Bolívar verständlich.

Denn Bolívar steht wie kein anderer für die Unabhängigkeit und gleichzeitig für die Widersprüche, die mit dem Kampf gegen die Spanier wie für ein eigenständiges Lateinamerika verbunden sind. Allerdings werden diese Widersprüche normalerweise nicht thematisiert. Vielmehr nehmen sich die jeweiligen Interpreten den Teil Bolívars, den sie für ihre Zwecke einsetzen können. Und so entstand der liberale Bolívar, der für die Demokratie steht. So entstand auch der konservative, der als Legitimationsrahmen einer Diktatur herhalten konnte. Insbesondere am konservativen Bild arbeitete sich dann die Linke ab, die spätestens mit Hugo Chávez ihren eigenen Bolívar-Mythos pflegt. Dieser ist laut Zeuske „die Antwort auf 200 Jahre Bolívar-Mythos von oben“. Dass daraus ein neuer nunmehr linker Kult wurde, anstatt dass Bolívar kritisch historisiert wurde, bedauert Zeuske. Dem fügt er völlig zu recht die Bewertung an, dass es sich derzeit nicht sagen lasse, "ob es sich nur um eine neue Etappe des Bolívar-Mythos handelt, oder ob der 'bolivarianische Prozess' à la longue in eine tiefgreifende Umgestaltung einmündet."

Die nationalistische Kontinuität, die Zeuske für die Linke ausmacht, verwirrt jedoch dann weniger, wenn man sich noch einmal (wiederum mit Zeuske selbst) die Gründe für ihr Entstehen klar macht. Denn die venezolanische Nation hat außer der Unabhängigkeit und ihren Folgen bis heute keine gemeinsame Geschichte. Selbst das Territorium bildet in letzter Konsequenz mehr zufällig einen Staat. Ohne historische Bezüge und ohne eine gemeinsame Identität ist ein neues gemeinsames und einschließendes Projekt kaum zu bewältigen. Da bei Bolívar wie erwähnt die verschiedenen Probleme seiner Zeit zusammen kommen – so war er beispielsweise gleichzeitig erklärter Gegner der Sklaverei wie Sklavenbesitzer – und auf sein (wenn auch mythisch überhöhtes) Wirken die gemeinsame Geschichte der Venezolaner aufbaut, bleibt er der entscheidende Bezugspunkt. Zeuske hat gleichwohl mit dem erwähnten Zitat vollkommen recht. Nur wenn es den heutigen Venezolanern gelingt, über den Mythos hinaus eine gemeinsam gestaltete Geschichte zu schaffen und sie selbsttätig ihre Geschicke in die Hand nehmen, können wir von einer tiefgreifenden Umgestaltung sprechen. Und dann werden sie auch erst wirklich zu einer kritischen Reflexion der Geschichte in der Lage sein, weil sie sie dann erst bewältigt haben.

Michael Zeuske, Simón Bolívar. Befreier Südamerikas. Geschichte und Mythos, Rotbuch Verlag, 173 Seiten, 12,95 Euro.


Eine gekürzte Fassung dieser Rezension erschien am 26. November 2011 in der Tageszeitung Neues Deutschland.