"Recht auf Stadt" in Rio de Janeiro

Aufbegehren gegen soziale Spaltung und schmutzige Stadtpolitik vor den Megaevents. Ein Interview mit dem Stadtaktivisten João Griôt

Eine Stadt bereitet sich vor. In der Cidade Maravilhosa sind die Vorbereitungen zur Fußball Weltmeisterschaft 2014 und den Olympischen Spielen 2016 im vollen Gange. Seit 2008 versuchen die Stadt- und Bundesstaatsregierung von Rio de Janeiro, zu den Megaevents den Besuchern eine sichere und saubere Stadt vorweisen. Bereits während der Bewerbungsverfahrens der Olympischen Spiele wurden 2009 die UPP („Befriedungspolizei“) eigens zu dem Zweck eingeführt, in den Favelas für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Der Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen wird mit Repression begegnet. Die ursprünglich mit „nicht tödlichen“ Waffen ausgestatteten Polizeieinheiten sollen durch dauerhafte Besetzung der Favelas Drogengangs vertreiben und die Kriminalität dezimieren.

Mittlerweile wurden UPPs in 22 Favelas installiert und es sollen noch weitere folgen. Versprochen wurde, soziale Einrichtungen in den Favelas aufzubauen. Diesbezügliche Investitionen machen jedoch im Vergleich zu den Ausgaben für die Polizei einen eher geringen Teil aus. Auch die von offizieller Seite hoch gepriesenen UPP haben sich in alte Strukturen eingepasst und teilweise den Drogenhandel übernommen. Immer wieder werden Polizisten dieser Einheiten des organisierten Drogenhandels überführt. Zudem ist durch die Besetzung durch die UPP die Gewalt zwar in den betroffenen Vierteln zurückgegangen – hat sich aber lediglich in andere, weiter abgelegene Viertel verlagert.

Auch sind von den Auswirkungen der Errichtung der olympischen Stätten vor allem die ärmsten Teile der Bevölkerung Brasiliens betroffen. Ähnlich wie zur WM in Südafrika 2010 werden Wohnsiedlungen dem Erdboden gleich gemacht, um moderne Sportanlagen zu errichten oder um teuren Wohnraum und Hotels zu schaffen. Seit Beginn der Bauprojekte haben schon mehr als 25.000 Menschen in Rio de Janeiro ihr Dach über den Kopf verloren. Diese Politik wird von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen kritisiert.

Vom 16. – 27. Mai 2012 veranstaltete Zusammen y Misturados e.V. in Kooperation mit der Rosa Luxemburg Stiftung und der Stiftung Nord-Süd-Brücken eine zwölftägige Deutschlandtour zum Thema „Rio und die Spiele – eine Stadt räumt auf“. João Griôt, Stadtaktivist aus dem Fluminense-Tiefland, referierte über Veränderungen im Vorfeld der Megaevents. João ist aktiv in der Gruppe Grito do silêncio, die eng mit Direito à cidade ("Recht auf Stadt") zusammenarbeiten. In seinem Vortrag berichtete João aus eigener Erfahrung über den alltäglichen Widerstand an seinem Geburtsort São João de Merriti im Vorfeld der Megaevents.


Welche Bedeutung hat Rio de Janeiro für dich?

Abseits der Klischees, welche auch als Werbung für die Megaevents hochgehalten werden, bedeutet Rio als Ganzes für mich eine Zentralisierung von wirtschaftlicher Macht. Sowohl die Stadt, als auch der Bundesstaat sind wundervolle Orte, vor allem São João de Merriti hat eine wichtige Geschichte und ist sehr schön. Probleme sehe ich aber darin, dass sich die Macht allein auf Stadt Rio konzentriert.

Die Entscheidungen für die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele – welche Bedeutung hatte es für den Moment schon für die Cariocas?

60 Prozent der Menschen sind komplett positiv gestimmt; davon 20 Prozent total reiche Menschen. 40 Prozent hatte bereits von Beginn an Angst vor dem, was kommen wird. Die Umsetzungsmöglichkeiten werden wahrscheinlich bis zu den eigentlichen Spielen kontrovers diskutiert. Mittlerweile ist das Thema auch sehr ambivalent. Viele sehen es heute viel kritischer und viele Stadtaktivisten haben sich angesichts der ganzen kriminellen Ereignisse (UPPs) vereint, um Widerstand gegen die noch größere Ungerechtigkeit zu leisten. Andererseits gibt es ältere Leute, die aus Zeit der Militärdiktatur kommen und die es positiv beurteilen, dass die Polizei in die Favela eindringt und die UPPs und das Militär jetzt die Favelas aufräumen. Für sie sind das dann gut Effekte. Letztlich steigen die Widerstandsbewegungen in den letzten Monaten exponentiell an. Zuerst gab es nur in Belo Horizonte Widerstand. Jetzt gibt es ihn in allen 12 Städten, wo die Events stattfinden werden.

In deinem Vortrag hast Du die Begriffe direito à cidade ("Recht auf Stadt") und Gentrifizierung verwendet. Was bedeuten diese Begriffe für dich?

Direito à cidade ist eine neue wichtige Gruppierung in Rio de Janeiro, aber das "Recht auf Stadt" steht für mich gleichzeitig auch für Erfüllung der Grund- und Menschenrechte eines jeden Stadtbewohners, einer jeden Stadtbewohnerin. Gentrifizierung ist für mich ein sehr negativer Prozess, bei dem ein Großteil der Bevölkerung vernachlässigt und ausgegrenzt werden. Aufgrund kapitalistischer Interessen werden Grundrechte nur fahrlässig behandelt oder verletzt.

Wie ist die Aufteilung von Wohnung und Land in São João de Merriti? Gibt es viele Besetzungen?

São João de Merriti ist eine Pendlerstadt. Eine Vielzahl an Leute haben sich hier ihr eigenes Haus gekauft, aber arbeiten in Rio de Janeiro. Vor knapp 200 Jahren war São João de Merriti nur Waldfläche, die Stück für Stück aufgekauft und urbanisiert wurde. Aber São João de Merriti ist aber keine Favela. Einige Häuser sind schon über 60 Jahre alt und damit im Familienbesitz. Es gibt aber auch Sozial- und Mietwohnungen. In Brasilien stellt sich beim Häuserkauf immer noch die Frage, ob du einen rechtlichen Status dafür hast. Wenn Du dir ein Haus an Rios Peripherie kaufst, dann heißt das noch nicht, dass es dir auch gehört. Viele Käufer besitzen kein Zertifikat für „ihr“ Haus. Wichtig ist eben hervorzuheben, dass es keine weiteren Besetzungen gibt, sondern die Menschen sich ihre Häuser selbst kaufen.

Was bedeutet Widerstand für dich und wie leistest Du und dein Kollektiv Grito do silêncio Widerstand? Wie wirkt ihr diesen Prozessen entgegen?

Information und Vernetzung stellen zentrale Punkte unserer Arbeit dar. Einigesläuft über die Helatorios. Das sind Berichte über die Umstrukturierungsprozesse jeweiliger Viertel. Dazu gehört vor allem auch massig gesammeltes Fotomaterial. Zum anderen tauschen wir uns heute in Rio und ganz Brasilien darüber aus, wie man gegen die Prozesse vorgehen kann. In diesem Sinne findet auch diese Reise in Deutschland statt.

Räumung hast Du auf verschiedene Weise dargestellt. Wie unterscheiden sich Formen von Räumungen und welche Auswirkungen ergeben sich aus den Umstrukturierungsprozessen?

Man muss zuerst einmal zwischen drei Arten von remoção unterscheiden. Es gibt einmal die Umsiedlung, die entschädigte Räumung und die Zwangsräumung bzw. Vertreibung. Bei der Umsiedlung kommt jemand und wirft dich aus deinem Haus und verspricht dir, dass es eine Alternativwohnung gibt oder eine erbaut werden soll. Allerdings werden die Menschen oft, aufgrund fehlender Besitzurkunden, des illegalen Wohnens beschuldigt und dadurch wird es schwer Ersatzwohnungen zu bekommen.

Die zweite Form ist eine Entschädigungszahlung. Mit der Begründung , dass das jeweilige Haus die touristische Entwicklung behindert, erhalten die BewohnerInnen ungefähr ein Drittel des Wertes. Zum Beispiel wurden viele Häuser abgerissen, um eine Seilbahn zu erbauen.

Und die dritte und letzte Form ist die, wenn die Unidade da Policia Pacificadoras kommt. Die Polizei oder das Militär dringt in die Viertel ein und gibt oft als Vorwand an, dass sie nach Waffen suchen. In Wirklichkeit geht es aber um die Vertreibung der Familien und die Enteignung von Wohnraum, um diesen daraufhin zu renovieren und an Touristen weitervermieten zu können. In Vidigal z.B. ist Favela-Tourismus bereits Normalität. Außerdem wurden seit 2008 40 Milliarden Reais (15. Mio Euro) dazu verwendet, Mauern um Favelas zu bauen. Insbesondere entlang der Linha Vermelha, einer Schnellstraße in Rio und in der eher schicken Zona Sul der Stadt. Für mich bedeutet das Segregation; eine gezielte Ausgrenzung der armen Bevölkerung.

Du hast davon gesprochen, dass 25.000 Bewohner von der Räumungen betroffen sind, was passiert mit den Menschen. Gibt es alternative Wohneinheiten für sie und wo befinden sich diese dann?

Ja, es gibt Ersatz für viele Menschen, aber das Abstruse daran ist: die Wohnungen befinden sich noch weiter vom Stadtkern entfernt und sind in einem katostrophalen Zustand. Das Schlimmste an diesem Verbrechen ist, dass das soziale Leben der Gemeinschaften damit komplett zerstört wird. Jahrzehntelange Kontakte und Freundschaften werden von heute auf morgen komplett zerrissen. Es geht mir weniger um die katastrophale Lebensqualität, sondern um ein soziales Miteinander, dass zerstört wird. Es gibt auch Programme des Staats z.B. minha casa minha vida (Mein Haus, mein Leben).

Hierbei handelt es sich um in der Peripherie errichtete Hochhäuser. Die Wohnungen werden nicht explizit den Menschen, die ihr Haus verloren haben, zur Verfügung gestellt, sondern zum Kauf angeboten. In der Praxis kaufen Immobilienhändler billig diese Wohnungen, um sie dann teurer zu verkaufen. Nicht einmal die Hälfte der Menschen bekommt eine alternative Wohnung. Mit anderen Worten: Dir wird deine Wohnung, samt deinem sozialen Umfeld weggenommen und dann musst Du dir auch noch eine neue Wohnung kaufen. Abrigos (Notunterkünfte) sind da meist die einzige Lösung für viele Stadtbewohner und selbst hier gibt es nur begrenzten Platz.