SOS Rio de Janeiro

Die Transformation einer der gefährlichsten Städte der Welt zur Olympiastadt ist bereits voll im Gang – mit erheblichen Kollateralschäden

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Stadtteilversammlung in Vila Autódromo - Symbol des städtischen Widerstandes
Stadtteilversammlung in Vila Autódromo - Symbol des städtischen Widerstandes

Dieser Text erscheint in der nächsten Ausgabe von lateinamerika anders 2/12.


Rio de Janeiro hat sich viel vorgenommen. Die UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung (Rio +20) im Juni 2012, der FIFA-Konföderationen-Cup und der Weltjugendtag 2013, das Endspiel der FIFA-Weltmeisterschaft 2014 und das 450. Stadtjubiläum 2015. Und schließlich die Krönung: die olympischen und paraolympischen Spiele 2016. Die Transformation einer der gefährlichsten Städte der Welt zur Olympiastadt ist bereits voll im Gang – mit erheblichen Kollateralschäden.

"Brasilien. Ein Land der Zukunft": Was Stefan Zweig vor 71 Jahren1 vorausgesagt hat, scheint derzeit wahr zu werden. Seit 2003, dem Jahr, in dem der ehemalige Staatspräsident Lula da Silva sein Amt aufnahm, haben über 40 Millionen Brasilianer den Ausstieg aus der Armut geschafft. Der "neuen Mittelklasse", so zeigt eine aktuelle Studie2, werden schon bald 60 Prozent der Bevölkerung angehören. Während die USA und Europa wirtschaftlich vor sich hin kränkeln, hat Brasilien die globale Finanzkrise fast spurlos überstanden und sammelt fleißig Punkte in der Weltliga der Wirtschaftsmächte.

Rio de Janeiro, so scheint es, ist das Zentrum dieses Booms. Aus der Sicht von Immobilienmaklern, Hotelbesitzern und ausländischen Investoren wird die Cidade Maravilhosa, die wunderbare Stadt, ihrem Zweitnamen gerade mehr als gerecht. Seit Rio im Jahr 2009 den Zuschlag für die olympischen Spiele 2016 erhielt, haben sich die Wohnungsmieten in der reichen Südzone verdoppelt. Hotelzimmer im Nobelvorort Leblon werden zu Preisen wie in Manhattan und London gehandelt. Mitverantwortlich ist eine neue Sicherheitspolitik, die verhindern soll, dass die gewalttätigen Drogenbanden, die den Großteil der 516 Favelas (Armenviertel) der Stadt regieren, Rios Auftritt auf internationaler Bühne stören. Neunzehn Favelas wurden bereits von der Militärpolizei besetzt, die Kriminellen entwaffnet und/oder vertrieben und eine bürgernahe Community-Polizei installiert, die sogenannte UPP (Unidade de Polícia Pacificadora). Die aktuellen Kriminalitätsstatistiken sprechen für den Erfolg der UPPs. In den besetzten Favelas und ihnen angrenzenden Stadtteilen sind Autodiebstähle, Raubüberfälle und Schießereien deutlich zurückgegangen.

Doch der schöne Schein trügt. Brasilien hat noch immer eine der höchsten Ungleichheits- und Kriminalitätsraten der Welt. Und Rio de Janeiro ist dafür das Paradebeispiel: 20 Prozent der 6,3 Millionen Cariocas (Einwohner von Rio) leben unter der grausamen Diktatur von Drogenbanden, in teils prekären Lebensumständen ohne Sanitäranlagen, Gesundheitsvorsorge und Bildungsmöglichkeiten. Diese Cariocas bekommen wenig ab vom Glamour der olympischen Stadt, ganz im Gegenteil. Bis zu 100.000 Favela-Bewohner sollen in den kommenden Jahren aus ihren Häusern vertrieben werden, um Platz für die Megaevents zu schaffen. Diejenigen, die das "Glück" haben, in einer von der Polizei besetzten Favela zu wohnen, leben in der ständigen Angst, dass ihre Häuser der Immobilienspekulation zum Opfer fallen, die auch vor den Favelas nicht Halt macht.

Eigentumsrechte sind in den Favelas ein Fremdwort. Doch statt in Mechanismen und Politiken zu investieren, die eine gerechtere Verteilung von Wohnraum regeln, widmet sich Rios Stadtverwaltung lieber imposanten Megaprojekten. Im Favela-Komplex Complexo do Alemão wurde für 87 Millionen Euro der Teleférico errichtet, eine Seilbahn mit 152 Gondeln, die dreitausend Menschen pro Stunde transportieren können. Das tun sie aber nicht. Denn lediglich drei Prozent der Bewohner des Alemão benutzen den Teleférico regelmäßig. Den meisten ist der Aufstieg zu den Stationen zu beschwerlich. Statt, wie ursprünglich geplant, die Mobilität der lokalen Bewohner zu verbessern, wird der Teleférico nun zur Touristenattraktion für ausländische Besucher, wie zuletzt der britische Kronprinz Harry.

"Ich habe den besten Job der Welt", verriet Rios Bürgermeister Eduardo Paes kürzlich bei der TED- Konferenz im kalifornischen Long Beach. So kann nur ein Mann sprechen, der das wahre Gesicht seiner Stadt nicht kennt, oder nicht kennen will. Die Verherrlichung der UPPs ist das beste Beispiel. Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass die Strategie der friedlichen Besetzung der Favelas die organisierte Kriminalität nicht an der Wurzel packt, sondern lediglich in andere Stadt- und Landesteile verdrängt. Auch mehren sich die Anzeichen, dass die Drogenbanden bereits versuchen ihre ehemaligen Territorien zurück zu erobern. Lokale Politiker und Medien schweigen beharrlich zu diesen Vorwürfen. Die öffentliche Kritik an der Verschleierungspolitik ist groß, doch bisher folgen den Worten keine Taten. Es scheint, als sei der Glaube an Bürgerbeteiligung und politisches Engagement, die wesentlichen Stützen der brasilianischen Demokratiebewegung der 1980er und 90er Jahre, dem jahrelangen Krieg zwischen rivalisierenden Drogenbanden und korrupten, gewaltbereiten Polizisten zum Opfer gefallen.

Doch es gibt Hoffnung. Und die heißt Vila Autódromo, eine Favela am Rande von Barra da Tijuca, dem Stadtteil, in dem in knapp drei Monaten die Konferenz Rio+20 ihre Türen öffnen wird. "Eine friedliche und ordentliche Siedlung seit 1967", so begrüßt Vila Autódromo seine Besucher. 46 Jahre Geschichte, die nun ausgelöscht werden sollen für vier Wochen Olympia. Rios Stadtverwaltung hat die Zwangsräumung angeordnet, weil die Favela angeblich eine "illegale Invasion öffentlichen Raumes" darstellt. Ende letzten Jahres wurde jedoch der wahre Grund bekannt: Der Bürgermeister muss ein "Wahlversprechen der anderen Art" einlösen. Drei Bauunternehmer, die ihm 2008 seine Wahlkampagne finanziert hatten, haben ihre olhos grandes, ihre großen, geldgierigen Augen, auf Vila Autódromo gerichtet.

Für die knapp 4.000 Einwohner von Vila Autódromo ist der Räumungsbescheid nichts Neues. Bereits zweimal zuvor haben regierende Bürgermeister versucht, ihnen das lukrative Land zu entreißen, und sie werden auch ein drittes Mal dagegen halten. Mit handfesten Argumenten: 1994 hatte der damalige Bürgermeister Marcello Alencar ein 99-jähriges Pachtrecht an die Bewohner von Vila Autódromo vergeben.

Was gerade in Rio passiert, ist keine Ausnahme, sondern die Regel in der Geschichte der Mega-Sportveranstaltungen. Abgesehen von Barcelona, das seine Bewerbung für Olympia 1992 in einen nachhaltigen und im Vorhinein begonnenen urbanen Revitalisierungsplan integriert hatte, haben sich die erhofften sozioökonomischen Entwicklungen nie erfüllt. Um zu verhindern, dass Rios olympisches Erbe zwischen einer millionenschweren Elite und ausländischen Investoren aufgeteilt wird, müssen mehr Cariocas dem Beispiel Vila Autódromos folgen. Dann hat Rio vielleicht eine Chance, dem offiziellen Motto für Olympia 2016 einen Schritt näher zu kommen: "Rio transformieren. Die Stadt integrieren und die größte soziale und urbane Veränderung der letzten 100 Jahre schaffen".


Anja Eickelberg lebt seit mehreren Jahren als Forscherin und Aktivistin in Rio de Janeiro. Sie promoviert dort derzeit zum Thema: Pazifikation gleich Partizipation? Rio de Janeiros Sicherheits- und Sozialpolitik als innovatives Regierungsmodell für Megastädte".


lateinamerika anders

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Weitere Beiträge der aktuellen Ausgabe beschäftigen sich mit dem Besuch Evo Morales in Wien, dem Malvinen-Konflikt, den Wahlen in El Salvador, Bergbau und sozialen Konflikte in Peru, Regime und Kirche in Kuba, Policá comunitaria in Mexiko, Verfassungen und ihre Umsetzung in Bolivien und Ecuador ...


Das Nachrichtenportal amerika21.de wird in Zusammenarbeit mit dem Pressedienst Poonal aktuell über den Rio-20-Gipfel und den alternativen Gipfel der Völker berichten.

  • 1. Zweig, Stefan (1941): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Stockholm: Bermann-Fischer
  • 2. Neri, Marcelo (2012): A Nova Classe Média – o Lado Brilhante da Pirâmide. Rio de Janeiro: Editora Saraiva