Venezuela / Medien

Mythen über Medien

Anders als die Berichterstattung über Venezuela vermittelt, ist das Medienangebot im Land selbst in den vergangenen Jahren stark angewachsen. Davon profitieren auch die privaten Medien

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Titelblatt von Ùltimas Noticias: Die Missionen belustigen das Bündnis der Opposition (MUD)
Titelblatt von Ùltimas Noticias: Die Missionen belustigen das Bündnis der Opposition (MUD)

Der Beitrag stammt aus dem Dossier Nr. 7 der Lateinamerikanachrichten "Medien und Macht in Lateinamerika" von März 2013. "Dieses Medien-Dossier der LN will über die Hintergründe der lateinamerikanischen Berichterstattung informieren und gleichzeitig alternative Medien bekannter machen", schreibt die Redaktion in ihrem Vorwort. Die Ausgabe widmet sich Mediensystemen und alternativen Medien in sechs Ländern: Mexiko, Honduras, Jamaica, Venezuela, Brasilien und Chile.


Anders als die Berichterstattung über Venezuela vermittelt, ist das Medienangebot im Land selbst in den vergangenen Jahren stark angewachsen. Davon profitieren auch die privaten Medien, die überwiegend kommerzielle Inhalte anbieten. Durch die Schaffung eines "Rechts auf Kommunikation" entstanden zudem viele Alternativmedien von unten.

Zu den Allgemeinplätzen über Venezuela gehört, dass es in dem südamerikanischen Land um die Meinungsfreiheit schlecht bestellt ist. Die Berichterstattung erwähnt Venezuela zumeist in Verbindung mit seinem Präsidenten, Hugo Chávez, von der Springer-Presse gerne als "Tropen-Caudillo" betitelt. Bereits als politisch interessierter Besucher des Landes drängt sich eine gewisse Dissonanz zu diesen Einschätzungen auf: Bis in die abgelegensten Orte sind die Zeitungskioske mit unterschiedlichsten Zeitungen gefüllt, wer das Radio oder den Fernseher einschaltet, findet die Frequenzbänder dicht belegt mit venezolanischen, aber auch internationalen Kanälen.

Auch die Inhalte scheinen sich auf den ersten Blick nicht besonders von denen anderer lateinamerikanischer Länder zu unterscheiden: viele Telenovelas, viel Werbung. Die Darsteller sind gegenüber dem Landesdurchschnitt auffällig hellhäutig und extrem schlank. Einzige Ausnahme sind die Nachrichtensendungen: Sie bestehen zum großen Teil aus Berichten über Kriminalität und hier finden auch gewöhnliche Menschen ihren Platz: Als mutmaßliche Verbrecher oder deren Opfer.

Exklusion entlang ökonomischer Faktoren

Die Kommunikationswissenschaftlerin Annette Massmann brachte dieses Phänomen auf die komplizierte Formel: "Prozesse von Exklusion im Medienbereich entlang ökonomischer Faktoren sind in besonderem Maße konstitutiv für die Strukturierung der lateinamerikanischen Mediensysteme." Das heißt, die Teile der Bevölkerung mit geringerem Einkommen haben nicht nur schlechteren Zugang zu Medienangeboten, sie selber, ihre Kultur und Lebenswelt, kommen in den etablierten Medien einfach nicht vor. Ist Venezuela also ein ganz normaler Vertreter der lateinamerikanischen Medienkultur?

In wissenschaftlichen Beiträgen wird Venezuela eher als ein positives Beispiel für Medien- und Meinungsvielfalt diskutiert. So kommen Jairo Lugo-Ocando und Andrés Cañizales, letzterer ein nachdrücklicher Kritiker der aktuellen wie auch vorheriger Regierungen, zu der Einschätzung: "Verglichen mit anderen Ländern der Region nutzen prozentual mehr Menschen Radio- und Fernsehangebote. Medienkonsum ist in Venezuela hoch differenziert und Medienkompetenz in der Bevölkerung weit verbreitet."

Ein Blick auf die Zahlen bestätigt, dass das Land eine moderne und vielfältige Medienlandschaft besitzt. Täglich erscheinen etwa einhundert Zeitungen, von denen immerhin acht landesweite Ausgaben veröffentlichen. Mehr als ein Drittel der Haushalte nutzen Kabel- oder Satellitenempfang, aber auch die Infrastruktur für offenes Fernsehen und Radio kann für Lateinamerika als luxeriös gelten: Im Jahr 2008 verfügte das Land über 108 Sendestationen für Fernsehen, 794 Radiosender im UKW-Bereich und weitere 210 Sender auf Mittelwelle.

Private Medien dominieren weiterhin

Bei dem Thema Frequenzvergabe fallen öffentliche Beschreibung und tatsächliche Entwicklung besonders drastisch auseinander. Dass die Regierung im Jahr 2007 einem der größten Fernsehsender, RCTV, die Sendelizenz nicht verlängerte, führte international zu heftigen Polemiken: Von taz bis FAZ hieß es, das Land befinde sich vor dem journalistischen Blackout.

Eine Überprüfung der vergebenen Lizenzen – alle Zahlen sind umstandslos online zu recherchieren (PDF) – zeigt, dass die privaten Fernsehsender die Anzahl ihrer Frequenzen seit dem Amtsantritt der Regierung Chávez tatsächlich mehr als verdoppelt haben, nämlich von 29 Stationen im Jahr 1998 auf 65 im Jahr 2008. Im selben Zeitraum wurden 181 neue Lizenzen an private Radiobetreiber vergeben. In beiden Bereichen nutzen private Unternehmen 60 Prozent der vergebenen Ressourcen – die von der venezolanischen Opposition beschworene "Diktatur" sieht anders aus.

Tatsächlich wird das venezolanische Mediensystem bis heute von kommerziellen Unternehmen geprägt. Typisch ist die Dominanz einzelner transnational agierender Medienkonzerne. In Venezuela sind das vor allem die Gruppe Cisneros, die mit Venevisión den Fernsehmarkt sowie mit FM Center den Radiomarkt bestimmt, aber auch das Unternehmen 1BC mit Fernseh- und Filmproduktionen, oder der spanische Medienkonzern Prisa mit seinen zahlreichen Radiosendern (Unión Radio). Daneben halten sich mehrere starke Einzelnunternehmen, wie etwa Cadena Capriles mit Últimas Noticias als der größten Tageszeitung des Landes.

Einen Eindruck von der politischen Linie der Medien bietet bereits der Umstand, dass drei der wichtigsten Unternehmen – die Cisneros-Gruppe, Cadena Capriles und der Verlag Bloque de Armas – nach 1958 von Exil-Kubanern gegründet wurden. So überraschte es nicht, dass am 11. April 2002, beim Putsch gegen Hugo Chávez, ausgerechnet Miguel Ángel Capriles das totalitäre Dekret des Putschpräsidenten Pedro Carmona mit unterzeichnete. Bereits in der Vorbereitung nahmen die privaten Medien eine sehr aktive Rolle ein. "Die mächtigste Kraft bei der Durchführung des Putsches waren die Medien", gestand später Eleazar Díaz Rangel, Leiter von Últimas Noticias.

Tradition parteiischer Berichterstattung

Auch zehn Jahre nach diesen Ereignissen hat sich an der aktiven politischen Einflussnahme der Medienunternehmen grundsätzlich nichts geändert. Miguel Ángel Capriles ist etwa der Onkel von Henrique Capriles, dem Präsidentschaftskandidaten der venezolanischen Opposition im Oktober 2012, der nun auch für die Neuwahlen am 14. April aufgestellt ist. Seine Tageszeitung Últimas Noticias, die vergleichsweise ausgewogen berichtet, erhielt während des Wahlkampfes eine Rüge vom Wahlrat, weil sie ihrem Kandidaten unverhältnismäßig viele Nachrichten und Werbeplätze einräumte.

Dieses Capriles-Phänomen geht zurück auf die Zeit der Vierten Republik, von 1958 bis 1998. Praktisch alle privaten Medienunternehmen des Landes weisen enge persönliche Verbindungen zur alten politischen Klasse und jetzigen Opposition auf. Diese Symbiose zwischen alten wirtschaftlichen und politischen Eliten und den Medienunternehmen, der so genannte politische Parallelismus, ist ein in Lateinamerika weit verbreitetes Phänomen und tritt gemeinsam mit einer äußerst parteiischen Journalismuskultur auf.

In dem politisch polarisierten Land führte die Konfrontation der etablierten Medien mit der gewählten Regierung dazu, dass zahlreiche Journalisten die privaten Medien verließen. "Damals wurden nur parteiische Nachrichten gesendet, die Medien kamen ihrer Informationspflicht nicht nach", sagt etwa Silvia Cabreras zu ihrer Entscheidung, den Sender Venevisión zu verlassen. Zudem erreichte die Glaubwürdigkeitskrise, unter der das etablierte Parteiensystem in den 1990er Jahren zerbröselt war, auch die Medien: Die Auflagen der führenden Tageszeitungen halbierten sich in diesem Zeitraum.

Präsident Hugo Chávez nutzte seinerseits die bereits vorhandenen staatlichen Medien, den Fernsehkanal VTV und den Radiosender RNV, für eine direkte Kommunikation mit der Bevölkerung. Zum einen begann er eine eigene Fernsehsendung, Aló Presidente. Außerdem verwendete er die Nationale Kettenschaltung, die Cadena Nacional, um seine Politik auch über private Medien zu verbreiten. Beide Formate wirken in Europa befremdlich, sind aber in Lateinamerika nichts Besonderes: Viele Präsidenten betreiben eigene Sendungen, auch die Cadena Nacional ist fast in allen lateinamerikanischen Mediensystemen vorhanden. 

Das Recht auf Kommunikation

Beide Formate spielten eine zentrale Rolle im verfassunggebenden Prozess im Jahr 1999, in den eine zentrale Änderung der Medienpolitik einfloss. Der Paragraph 57 der neuen Verfassung enthält das Recht "von jedwedem Medium Gebrauch zu machen, um das Recht auf freie Meinungsäußerung auszuüben". Damit erklärte die venezolanische Verfassung das "Recht auf Kommunikation" als Anspruch auf Zugang zu medialen Verbreitungskanälen.

Im Jahr 2000 wurde dieses "Recht auf Kommunikation" mit der verbindlichen Regelung der Gründung von Bürger- bzw. Nachbarschaftsmedien konkretisiert. Die Folge war ein historisch einmaliger Boom an neuen Alternativmedien. Bis heute entstanden landesweit etwa 500 neue Radio- und Fernsehsender. Alleine in Caracas senden gegenwärtig über 20 Radios und drei alternative Fernsehsender. Oft haben die Projekte eine lokale Reichweite und werden von der unmittelbaren Nachbarschaft genutzt. Einige Projekte wie Al son del 23 94.7 FM sind in der gesamten Stadt zu empfangen, er gilt als einer der populärsten Sender in Caracas.

Zusätzlich zu diesem Boom an selbstverwalteten Medien entstanden ab 2003 mehrere öffentliche Medien. Sie sind anders als der Staatssender VTV unabhängiger gegenüber der Regierung. So können die Mitarbeiter bei dem Kulturkanal ViveTv teilweise eine journalistische Selbstverwaltung ausüben. Der internationale Nachrichtenkanal TeleSur und der Unterhaltungssender Tves werden durch einen Beirat beziehungsweise eine Stiftung verwaltet, wo neben Vertretern des Ministeriums auch andere gesellschaftliche Gruppen beteiligt sind.

Diese verschiedenen Initiativen für öffentliche Medien führten dazu, dass sich die Venezolaner heute aus unterschiedlichen Quellen informieren können. Die Dominanz der privaten Medien wurde schwächer – nicht etwa durch Verbote und Einschränkungen, sondern indem zusätzliche Frequenzen vergeben wurden. Kritiker monieren, teilweise zu Recht, dass sich an der Journalismuskultur des Landes kaum etwas geändert habe, auch die neuen öffentlichen Medien würden parteiisch berichten. Doch private, staatliche und alternative Medien stellen immerhin unterschiedliche Perspektiven dar, auch wenn diese jeweils überwiegend einheitlich berichten.

Die wesentlichste Errungenschaft der letzten Jahre ist allerdings, dass über alternative Medien erstmals Bevölkerungsgruppen ihr Recht auf Kommunikation wahrnehmen können, die früher Opfer der von Annette Massmann festgestellten "Exklusion entlang ökonomischer Merkmale" waren. Auch haben sich bei den privaten Medien gegenüber früheren Jahren inzwischen gewisse journalistische Qualitätsstandards durchgesetzt, auch wenn sie weiterhin im Sinne der Opposition berichten.