Es ist Samstag und der Eingang einer Polizeiwache gegenüber dem belebten Markt im Salomon-Viertel der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince verwandelt sich in einen improvisierten medizinischen Vorposten. In wenigen Minuten füllt sich die Warteschlange mit Menschen, in Erwartung, von der kubanischen Gesundheitsbrigade versorgt zu werden.
Der Beamte behauptet, ihm sei es nicht gestattet, mit Journalisten zu sprechen. Dennoch ist die Zusammenarbeit mit der Polizei offensichtlich. Stühle und Tische des Reviers werden schleunigst entlang des Haupteingangs zusammengestellt, um die Arbeit des Personals vom Krankenhaus La Renaissance zu erleichtern, das jede Woche einige Arbeitstage für präventivmedizinische Maßnahmen aufwendet.
"Wir befinden uns in einer mobilen Klinik", erklärt Damarys Ávila, Direktorin des Krankenhauses La Renaissance, die für die Leitung der medizinischen Mission Kubas in Haiti verantwortlich ist. "Wir untersuchen die Patienten auf Bluthochdruck, grauen Star, grünen Star und Pterygium", schildert sie dem Inter Press Service (IPS) und fügt hinzu: "Personen, die von einem dieser Leiden betroffen sind, überweisen wir zur Behandlung ins Krankenhaus."
Die Mehrheit der Wartenden in der Schlange sind Frauen. "Bei Ihnen stellen wir viele Fälle von Bluthochdruck fest. Dies ist darauf zurückzuführen, dass vor allem sie die Hauptlast der Arbeit tragen. Hinzu kommen die schlechten Ernährungsgewohnheiten, darunter zu scharfes, mehliges und salziges Essen. Viele Menschen lassen sich hier das erste Mal im Leben den Blutdruck messen", führt Ávila aus.
Auf einer Strecke zum Krankenhaus La Renaissance oder bei den ungewöhnlichen medizinischen Untersuchungen auf der Straße, wo sich an einem Morgen 167 arme Männer und Frauen behandeln lassen, hört man ausschließlich Worte der Dankbarkeit.
"Wir suchen die Kubaner auf, weil sie einen gut betreuen und kein Geld verlangen. Wir sind arm und können nicht zahlen", sagt eine Anwohnerin aus Port-au-Prince, bevor sie sich ihre schwere Last erneut auf den Kopf setzt.
Die erste kubanische Gesundheitsbrigade hatte Haiti am vierten Dezember 1998 erreicht, um die Folgen des Hurrikans Georges einzudämmen. Seit damals läuft die Zusammenarbeit ununterbrochen fort und hilft diesem verarmten Land. Die Hilfe ist für Haiti maßgeblich, weil das Land erst 2010 von einem schweren Erdbeben verwüstet wurde, das nach Regierungsangaben 316.000 Menschenleben forderte, und später einer Choleraepidemie zum Opfer fiel, die erneut Tausenden das Leben kostete.
Das kubanische Personal betreute mehr als 18 Millionen medizinische Gesuche, führte mehr als 300.000 chirurgische Eingriffe durch, rettete 300.00 Leben und gab etwa 53.000 Menschen das Sehvermögen zurück. Offiziellen Zahlen zufolge befinden sich 640 kubanische Gesundheitsexperten in Haiti, darunter 357 Frauen.
Diese Hilfe sticht nicht nur durch ihre Reichweit über das gesamte haitianische Staatsgebiet und ihren humanitären Charakter hervor, sondern auch durch den präventiven Charakter: Sie trägt zur Schaffung eines öffentlichen Gesundheitssystems bei, einschließlich des Wiederaufbaus von Krankenhäusern.
Abgesehen von Kuba steuern diesem Vorhaben auch Deutschland, Australien, Namibia, Norwegen, Südafrika, Venezuela und im geringerem Maßstab noch weitere Länder finanzielle Hilfen zu.
Das Programm umfasst die Umgestaltung und Errichtung von 30 gemeinschaftlichen Referenzkliniken, von denen bereits mehr als die Hälfte fertig gestellt wurden. Hinzu kommt der Umbau von 39 Vertretungen des haitianischen Gesundheitsministeriums zu medizinische Zentren, mit oder ohne Betten, und der Aufbau von 30 Rehabilitationszentren.
Außerdem gibt es zwei augenheilkundliche Zentren im Rahmen des Programms Operación Milagro ("Operation Wunder"). Eines dieser Zentren befindet sich in Port-au-Prince, das andere ist mobil und bietet seine Dienste im ganzen Land an. Ein Labor für Prothesen und orthopädische Instrumente, drei elektromedizinische Werkstätte und ein Netzwerk zur Überwachung von Epidemien und Umweltkontrolle sind ebenfalls vorhanden.
Die 2004 initiierte "Operation Wunder" ist ein Programm, in dessen Rahmen bis 2011 – aus diesem Jahr stammen die letzten verfügbaren Daten – das Sehvermögen von mehr als zwei Millionen Menschen aus 34 Ländern Lateinamerikas, der Karibik und Afrikas wiederhergestellt oder verbessert werden konnte.
John M. Kirk, Professor an der kanadischen Dalhousie University, meint, dass den in Kuba ausgebildeten, haitianischen Ärzten eine Schlüsselrolle in einem stabilen Gesundheitssystem zukomme. Seinen Angaben zufolge sind bereits 430 der 625 Haitianerinnen und Haitianer, die Anfang 2011 an der Lateinamerikanischen Schule für Medizin in Kuba graduierten, in ihrem Heimatland beschäftigt. Im selben Jahr schlossen weitere 115 Personen ihr Studium an der Universität von Santiago de Cuba ab.
Die Lateinamerikanischen Schule für Medizin war im Jahr 1999 gegründet und dem IX. Iberoamerikanischen Gipfel in Havanna als ein Projekt zur Ausbildung medizinischen Personals aus den 19 lateinamerikanischen Ländern, Andorra, Spanien und Portugal vorgestellt worden.
Obwohl die Initiative allgemein begrüßt wurde, griffen die damals anwesenden Staatsvertreter sie nicht auf. Kuba führte das Programm daraufhin selbst weiter fort. Heute erstreckt es sich auf 122 Länder, in denen nach Angaben des Internetportals „überwiegend Jugendliche aus den ärmsten Schichten der Gesellschaft“ ausgebildet werden. Es gebe unter ihnen Unterschiede in Ethnie, Kultur und Bildung“.
In einer Untersuchung über das Thema gibt Kirk an, dass Kuba seit den siebziger Jahren bei der Gründung von medizinischen Hochschulen in Ländern wie etwa Jemen (1976), Guyana (1984), Äthiopien (1984), Uganda (1986), Ghana (1991), Gambia (2000), Äquatorialguinea (2000), Guinea-Bissau (2004) und Osttimor (2005) Hilfe geleistet hat.
Einem Bericht zufolge, der IPS vom kubanischen Gesundheitsministerium überreicht wurde, nehmen derzeit 39.310 Spezialisten, darunter 25.521 Frauen, an medizinischen Hilfsprogrammen in 60 Ländern teil. Davon entfallen 34.794 auf den amerikanischen Kontinent, 3.919 auf Afrika, 554 sind in Asien und Ozeanien und 43 in Europa ansässig.
Im Zuge der 2010 eingeleiteten Wirtschaftsreformen in Kuba wird auch diese Zusammenarbeit, wenn möglich, kostenpflichtig. Allerdings bleibt die "absolute Unentgeltlichkeit" für die Demokratische Arabische Republik Sahara und die Operación Milagro unter anderem in Haiti, Honduras, Paraguay und Ecuador bestehen.
Währenddessen wird versucht, das Amt der Comercializadora de Servicios Médicos Cubanos auszuweiten. Diese staatliche Stelle bietet medizinische Versorgung in Kuba und im Ausland gegen Gebühr an. Dieser Service soll als neue Einnahmequelle von Devisen dienen, um das kostenlose öffentliche Gesundheitssystem, auf das die gesamte Bevölkerung Kubas zurückgreifen kann, finanzieren zu können.
Im Rahmen dieses Projekts hat Brasilien unlängst 4.000 kubanische Ärzte unter Vertrag genommen, die in den ärmlichen Regionen im Norden des südamerikanischen Landes eingesetzt werden.