Kreditkarten-Betrüger, Krise und Klone

Ein Lesertest zur Lateinamerika-Berichterstattung in der Tageszeitung "Die Welt"

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Bildschirmkopie des Welt-Artikels inklusive Abo-Werbung für die "hohe journalistische Qualität"
Bildschirmkopie des Welt-Artikels inklusive Abo-Werbung für die "hohe journalistische Qualität"

Auch der Springer-Konzern muss Werbung machen. "Der nebenstehende Artikel stammt aus der Zeitung DIE WELT. Die hohe journalistische Qualität können Sie jetzt kostenlos testen", wird auf welt.de für Zeitungsabonnements geworben. Die Redaktion mit Sitz in Berlin kann mit einem breit gespannten Korrespondenten-Netz wuchern, selbstbewusst verweist der "Qualitätsjournalismus" des Springer-Verlags auf die Tatsache, sie liefere allein "professionell recherchierte Artikel".

Wir haben die "Welt" beim Wort genommen und den Lesertest gemacht.

Was schreibt das Blatt beispielsweise über Bolivien? Schnell wird ein Ergebnis angezeigt. "Schlangen vor den Banken", vermeldet das Blatt. Der Titel des Beitrags hat was von Kasernenhof und lässt das Neun-Millionen-Einwohner-Land "Antreten für die neue Geheimzahl". Im lockeren Stil berichtet Autor Tobias Käufer über Massen wartender Bankkunden in den zwei größten Städten Boliviens, Santa Cruz de la Sierra und La Paz. Vor den Banken des Landes würden sich lange Schlangen bilden, jeder Kunde habe nur noch eines im Sinn: seine neue Geheimnummer abholen. "Antreten" zum Appell, "lange Schlangen", umständliches "abholen" und "kapitulieren" vor den Anforderungen der Realität wird beklagt. Als sei der befürchtete Sozialismus ausgebrochen im linksregierten Andenland.

Was war wirklich geschehen?

Eine Bande von Geldkartenbetrügern hatte in den letzten Wochen massiv Kartenlesegeräte und Bankautomaten manipuliert, die Plastikkarten beim Abheben "geklont" und bei ahnungslosen Bankkunden Geld abgebucht. Um den Gangstern das Handwerk zu legen, empfahl der nationale Bankenverband darum allen Karteninhabern die "schnellstmögliche" Änderung ihres PIN-Codes. Innerhalb von drei Minuten lässt sich in Bolivien die Geheimzahl am Cash-Automat ändern. Ärgerlich, aber kein Grund zur Panik, beruhigte der Chef der nationalen Bankenvereinigung ASOBAN.

Ein Blick in die EU zeigt das neue Feld krimineller Betätigung. Hier ist der Schaden bei EC-Kartenbetrug auf jährlich 60 Millionen Euro gestiegen, jeden dritten Bankautomaten mussten die Banken laut jüngster Medienberichte wegen Manipulation zwecks Datenklau auswechseln. Die Bolivianer aber blieben gewohnt cool, durch Radiokampagnen und TV-Sendungen kennt nun auch der letzte Bauer im Altiplano diese neue Art der Abzocke. Selbst nationale Medien, die gern mal übertreiben, wenn es gegen die Morales-Regierung geht, brachten keine Panik-Berichte über extreme Wartezeiten oder Menschenaufläufe. Einzig die altehrwürdige BBC, die sich eine eigene Bolivien-Korrespondentin leistet, untertitelte ein Foto des Artikels "Bolivien ändert den PIN" mit der erläuternden Zeile, dass nun "viele Menschen an den Bankautomaten ihre PIN ändern". Von Haufen aufgeregter Bankkunden weder Bild noch Wort.

Die "Welt" aber berichtet nicht. Sie schlägt Alarm. Sie findet den Skandal, wo es keinen gibt. Geht es doch gegen ein Land, das den Neoliberalismus zum 1. Mai 2011 offiziell in die Geschichtsbücher verbannt hat, Öl und Gas verstaatlich, einen Sozialisten zum Präsidenten hat und seine Verfassung per Volksentscheid wählt. Verquirlt mit unterschwelligen Sozialismus-Klischees wird dem Leser ganz nebenbei die Story vom autoritären Andenland in der Krise aufgetischt: "Antreten für die neue Geheimzahl"! Was für ein Land der Unfähigen! Die Kreditkartenbande habe "Bolivien in die Knie" gezwungen, nichts gehe mehr. Die Banken koste der PIN-Wechsel "Millionen", so die These. Im Gegensatz zu den rechtschaffenden Banken in Europa, die sich bei Betrug immer "kulant" verhalten, werde geschädigten Bankkunden in Bolivien "die kalte Schulter" gezeigt, das gestohlene Geld nicht erstattet, weiß die "Welt" zu berichten. So gut das Vorurteil vom wilden Südamerika anarchischer Rechtlosigkeit in das "Welt"-Bild der Springermedien passt, so falsch ist diese "professionell recherchierte" Information. Richtig ist, dass bestohlene Kunden "zu 100 Prozent" entschädigt werden, wie ASOBAN-Chef Agustín Saavedra aus Santa Cruz im TV-Interview ankündigt. Bisher seien bei der Polizei 155 Anzeigen in Sachen Geldkarten-Datenklau registriert, bei der Höhe der Entschädigung gebe es "keine Obergrenze", berichteten am Tag darauf landesweite Zeitungen die good news.

Ein verzeihlicher Recherche-Fehler? Man könnte meinen, der Print-Journalist hatte bei Radio und Fernseher den Stecker gezogen. Getreu des Springer-Versprechens vom "Qualitätsjournalismus" berichtet der "Welt"-Autor scheinbar exklusiv und realitätsnah. Nähe zu den Menschen schafft Authentizität und Glaubwürdigkeit. "Als die resolute Bolivianerin die monatliche Abrechnung ihrer Kreditkarte bekam, war sie sprachlos", wird dem Leser ein unmittelbarer Blick ins überraschte Gesicht der "Staatsanwältin Isabelino Gómez" gewährt. Die "resolute Bolivianerin" habe "große Augen" gemacht, als die "Juristin aus Santa Cruz" zum prominentesten Opfer der Geldkarten-Betrüger wurde. Wir fühlen uns versetzt in die quirlige Stadt am Rande des Amazonas. Auch wenn die "Juristin" längst zur Polizei gegangen sein wird, der Artikel endet in böser Schadenfreude. Ohne Entschädigung bleibe in Bolivien "sogar eine Staatsanwältin auf ihrem Schaden sitzen", stellt die seltsame Häme fest. In der Tat braucht, wer den Schaden hat, für den Spott nicht zu sorgen. Was im Übrigen auch für Zeitungsmacher gilt: Die "Staatsanwältin Isabelino Gómez" heißt tatsächlich Roberto Isabelino Gómez Cevero und ist ein ganz und gar nicht weiblicher, fülliger Hauptstädter mit Doppelkinn und dicken Brillengläsern, der Anfang des Jahres aus dem kalten La Paz ins schwüle Santa Cruz versetzt wurde.

Der in die Fänge der Betrüger getappte Isabelino ist eben keine "resolute" Isabela.

Der dauerschwitzende Paceño ermittelt in der Oppositionshochburg gegen eine aufgeflogene Söldner-Bande, die von der konservativen Tiefland-Elite angeheuert worden war, um den unbequemen Präsidenten Evo Morales aus dem Weg zu räumen und einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Weder über den gescheiterten Umsturzversuch noch den Mordkomplott am linken Präsidenten war in der Springer-Presse etwas Substantielles zu erfahren. Ganz zu schweigen von den offenbar persönlichen Kontakten der CDU-nahen Adenauer-Stiftung zu mutmaßlichen Auftraggebern und Finanziers der Mörderbande. Dieser blinde Fleck wundert nicht, geht doch die Chefin des Medienkonzerns, Friede Springer, bei CDU-Kanzlerin Angela Merkel ein und aus.

Statt profunder Berichterstattung bekommt der Leser mutmaßlich einen "geklonten" BBC-Artikel ohne Quellenangabe serviert. Dass offenbar auch noch falsch abgekupfert wird, ist schnell erkannt. In der internationalen Presse hatte alleine die BBC über das Abzock-Opfer "Isabelino Gómez" berichtet, nur hier findet sich eine Bildunterschrift, die in der Welt zu "langen Warteschlangen" mutiert. Auch Aussagen über die Entschädigungen sind aus dem BBC-Beitrag entnommen, aber unvollständig.

Ob die Welt in "professionell recherchierten Artikeln" nicht Mann von Frau unterscheiden kann oder ob an anderer Stelle willentliche Manipulation und Fehlinformation stattfindet, können wir nicht beurteilen. Doch was für eine journalistische Qualität kann der "Welt"-Leser bei weitaus anspruchsvolleren Gemengelagen als Geschlechtsbestimmung und Kreditkartenbetrug erwarten? Auf welcher journalistischen Grundlage kommen Analysen zu Politik und Wirtschaft in Lateinamerika zu Stande? Die Antwort kennt jeder, der das Blatt regelmäßig liest.

Das Vertrauen des getäuschten Lesers ist weg, der Schaden ist angerichtet. Entschädigung ist außer einer Abo-Kündigung nicht zu erwarten, mit geklonten Artikeln treibt die "Welt" weiter ihr Unwesen, auch wenn sie diesmal auf frischer Tat ertappt wurde. Und so bleibt dem Testleser am Ende nichts anderes übrig, als dem Blatt diesmal die echte kalte Schulter zu zeigen. Das Urteil lautet: Antreten für die Springer-Märchenstunde!