Venezuela

Bolivarische Revolution am Wendepunkt

Ursachenfindung in Caracas: Warum wurde das Verfassungsreferendum verloren? Analyse aus heutiger Sicht, einen Monat nach der Abstimmung

Mit der überraschenden Niederlage beim Referendum zur Verfassungsreform im vergangenen Dezember (bei einer minimalen Stimmendifferenz von 1,3%) hat Venezuelas Bolivarische Revolution einen Wendepunkt erreicht. Der Putschversuch im April 2002, die Lahmlegung der Ölindustrie im Dezember 2002 und das Referendum zur Abwahl im August 2004 führten zu bedeutenden Niederlagen für die Opposition und bewirkten eine Radikalisierung des bolivarischen Prozesses. Die gescheiterte Reform dagegen war etwas gänzlich anderes: nämlich der erste Rückschlag für die Bolivarische Bewegung im zwölften nationalen Wahlgang seit der Wahl von Hugo Chávez zum Staatspräsidenten 1998 [1]. Somit war es das erste Mal, dass er und seine Bewegung dazu gezwungen wurden zu untersuchen, welchen Weg der Prozess einschlagen muss, um weiter voran zu kommen.

Kurz nach seiner Wiederwahl im Dezember 2006 hatte Chávez argumentiert, dass die neue venezolanische Verfassung von 1999 für einen Übergang zum "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" reformiert werden müsse. Aber als er dann im August seinen Vorschlag zur Reform von 33 Verfassungsartikeln vorlegte, rief dies, nach zahlreichen Verzögerungen und Diskussionen mit seinen Spitzenberatern hinter verschlossenen Türen, sogar bei den meisten prochavistisch eingestellten Sektoren der Gesellschaft Verwirrung und Skepsis hervor. Die Skepsis nahm zu als die Nationalversammlung (die den präsidialen Vorschlag zur Verfassungsreform abändern kann und ihn verabschieden muss) dem weitere 36 Artikel hinzufügte.

Die 69 Artikel (von insgesamt 350), die zur Änderung anstanden, waren vier Kategorien zuzuordnen: Stärkung der partizipativen Demokratie, Ausweiterung der sozialen Inklusion und Gleichberechtigung, Förderung einer nicht neoliberalen Wirtschaftsentwicklung und Stärkung der Zentralregierung. [2] Die ersten beiden Themen waren verhältnismäßig wenig kontrovers. Dazu gehörten eine gesichertere Finanzausstattung und mehr Macht für die neu gebildeten Kommunalräte, die Herabsetzung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre, das Verbot von Diskriminierung auf Grund von sexueller Orientierung und Gesundheitszustand, Geschlechterparität bei der Nominierung von Kandidaten für öffentliche Ämter, die Einführung eines Sozialversicherungsfonds für Selbstständige und für Leute, die auf dem informellen Arbeitsmarkt tätig sind, sowie die Gewährleistung einer kostenfreien Universitätsausbildung und die Anerkennung der Venezolaner afrikanischer Herkunft.

Die Reformen jedoch, die die Wirtschaft und die Macht des Präsidenten betreffen sollten, erwiesen sich auf Grund ihres wirklichen oder auch von der Opposition hineininterpretierten Inhalts als weit kontroverser. Zu den wirtschaftlichen Reformen gehörte die Beseitigung der Autonomie der Zentralbank, das Verbot der Privatisierung der Ölindustrie, die Verstärkung der Landreform, die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 44 auf 36 Stunden und die Einführung sozialer und kollektiver Eigentumsrechte. Die Reform enthielt den Vorschlag die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Amtsperioden abzuschaffen, die präsidiale Wahlperiode von sechs auf sieben Jahre zu verlängern, den Präsidenten zur Schaffung von Sonderzonen für die wirtschaftliche Entwicklung und zur Reorganisierung der Gemeindegrenzen zu ermächtigen, bürgerinitiierte Referenden durch Erhöhung der dafür notwendigen Unterschriftenzahlen zu erschweren, dem Präsidenten die Befugnis zur Beförderung aller Armeeoffiziere einzuräumen, sowie die Maßnahmen im Falle eines Ausnahmezustandes durch Aussetzung des Rechts auf Information bei Ausrufung des Notstands zu verschärfen.

Was ist schief gegangen?

Seit der Niederlage vom 3. Dezember haben Chávez und seine Anhänger versucht herauszufinden, was schief gelaufen ist. Für die Opposition hingegen war der Grund für ihren Sieg einfach: die Venezolaner hätten den Versuch des Präsidenten zurückgewiesen, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts einzuführen, den sie als "Castro-Kommunismus" verstehen. Dagegen ist die Antwort für die Anhänger von Chávez, die immer bestritten haben, dass ihr Projekt etwas mit kubanischem Staatssozialismus zu tun habe, nicht so einfach - der kubanische Staatssozialismus stand gar nicht zur Wahl.

Wahrscheinlich gab es von den Wählern, die sich im Jahr 2006 für Chávez ausgesprochen hatten, kaum welche, die nun ein Jahr später gegen ihn gestimmt hätten. Die Opposition war dagegen eher in der Lage, ihre Unterstützer gegen die Reform zu mobilisieren, während die Chávez-Anhänger in wesentlich höherem Maße der Stimmabgabe fernblieben als dies die Gefolgsleute der Opposition taten. [3]

Für das Scheitern der Reforminitiative kristallisieren sich vier Hauptgründe heraus: die Art und Weise wie die "Sí"-Kampagne geführt wurde, die Abkehr langzeitiger Unterstützer, die Stimmungslage im Lande und der organisatorische Ablauf des Reformvorhabens. Zunächst wurde der Entwurf vollständig innerhalb eines geschlossenen Zirkels von Chávez-Beratern ausgearbeitet. Als die Nationalversammlung dann den Vorschlag debattierte, hielten die Gesetzgeber öffentliche Versammlungen ab, um Hinweise von außen zu erhalten, wobei das Ganze aber in überstürzter Form stattfand, indem 69 Artikel in zweieinhalb Monaten abgehandelt wurden, sodass die Diskussion nur oberflächlich sein konnte.

Für die am 2. November - einen Monat vor dem Referendum - gestartete Pro-Reformkampagne blieb nicht viel Zeit die Menschen darüber zu informieren, worum es bei der Reform eigentlich ging: es standen einfach zu viele Artikel zur Diskussion, während die Opposition eine erbarmungslose Kampagne führte. Die Gegner behaupteten, dass die Reform das Recht auf Privatbesitz schwäche und unterstellten, dass dann jedweder Privatbesitz willkürlich vom Staat enteignet werden könnte. In Wirklichkeit aber war gewöhnlicher Privatbesitz überhaupt nicht betroffen. Die Reform hätte lediglich die Möglichkeiten des Staates zur Enteignung von Lebensmittelproduzenten im Fall von Nahrungsengpässen oder zur Umverteilung von Großgrundbesitz im Rahmen der Landreform gestärkt.

Die Opposition konzentrierte sich auch auf den Vorschlag, dass der Präsident das Recht erhalten sollte, regionale Vizepräsidenten zu ernennen. Dabei wurde die Behauptung erhoben, dass ihm dies erlauben würde unter Umgehung der gewählten Mandatsträger überall direkt zu regieren. Auch dies hatte nichts mit dem wirklichen Vorschlag zu tun, der diesen Vizepräsidenten keinerlei zusätzliche Befugnisse zuerkannte. Oppositionelle Schriften und Sprecher stellten noch weit hanebüchenere Behauptungen auf: der Staat habe vor, Eltern ihre Kinder wegzunehmen und der Sozialismus würde zum einzig zulässigen politischen Credo erklärt. Diese Taktik diente dazu Ängste zu verbreiten und erwies sich als durchaus effektiv. Auch wenn die Leute nicht alles glaubten, so wurden sie doch soweit eingeschüchtert, dass sie der Abstimmung fern blieben.

Als die anfängliche 60% Führung in den Umfragen dramatisch zusammenschrumpfte, begann Chávez die Kampagne neu zu fokussieren und versuchte aktiv, die Reform zu einem Referendum über seine Präsidentschaft umzudeuten, indem er sagte: "Jede Ja-Stimme ist eine Stimme für mich." Die Reform war zu komplex, um sie im Detail zu erklären und es machte Sinn für Chávez, seine persönliche Popularität zu Gunsten der Kampagne einzusetzen. Aber er schätzte die öffentliche Stimmung falsch ein und schließlich wandten sich auch einstige Verbündete wie der ehemalige Verteidigungsminister Raúl Baduel, Chávez Ex-Frau Marisabel Rodríguez und die sozialdemokratische Partei Podemos gegen die Reform.

Die Stimmung entwickelte sich weiter zu Ungunsten der Administration, da die öffentliche Verwaltung sich zunehmend als ineffizient erwies. Viele Anhänger des Präsidenten sahen in einer Wahlenthaltung die Möglichkeit, eine kritische Botschaft zu übermitteln. Wie die Menschenrechtsgruppe Provea berichtet, hatten die Sozialprogramme im vergangenen Jahr sämtlich an Qualität verloren. [4] Das betrifft die Gesundheitsversorgung ebenso, wie das Alphabetisierungstraining, das Nachholen von Oberschulabschlüssen, der öffentliche Wohnungsbau, die Subventionierung von Nahrungsmitteln, die Landreform und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Förderung von Kooperativen.

Während die pro Chávez eingestellten armen Venezolaner die Zunahme sozialer Programme und Ausgaben im Verlauf der letzten vier Jahre zu schätzen wussten, [5] sind sie nun enttäuscht und frustriert über die Ineffizienz, mit der diese Programme heute durchgeführt werden. [6] Da war es nicht gerade hilfreich, dass es im Oktober und November einen schwerwiegenden Engpass bei Milch gab, der es fast unmöglich machte, Frischmilch zu bekommen und es sogar schwer war Milchpulver aufzutreiben.

Es gilt die Vermutung, dass ohne diese Gründe so gut wie alle Chávez-Anhänger für die Reform gestimmt hätten. Unter den härtesten Chávez-Befürwortern herrscht die feste Überzeugung, dass der Reformprozess dazu beigetragen hätte, dem Hauptanliegen der bolivarischen Bewegung eine bessere Basis zu geben: die Schaffung einer Gesellschaft mit größerer sozialer Gerechtigkeit. Ob jedoch dazu die Reform notwendig war, ist nicht klar zu sagen, da ein Großteil dieses Vorhabens auch im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung hätte durchgeführt werden können.

Viele Chávez-Anhänger sind auf die Verdrehungen der Opposition hereingefallen; und viele, bei denen dies nicht der Fall war, waren nicht mit der Argumentation von Chávez einverstanden, dass seine Macht gestärkt werden müsse, um den revolutionären Prozess besser verteidigen und den Übergang zum Sozialismus vorantreiben zu können.

Konsequenzen aus der Niederlage

Chávez und seine Anhänger sind davon überzeugt, dass das Scheitern einen Rückschlag bedeutet. Es gibt jedoch Stimmen, die argumentieren, dass dies gleichzeitig eine Chance sein kann. Wenn die Reform gesiegt hätte, besonders mit nur geringem Vorsprung, dann hätte die Opposition das Ergebnis nicht akzeptiert und versucht, das Land mit gewalttätigen Protesten und Betrugsbehauptungen zu destabilisieren. Sogar jetzt noch gibt es viele in der Opposition, die versuchen zu reklamieren, dass ihr Sieg weit höher gewesen sei als es das offizielle Resultat besagt. Eine ernsthafte Destabilisierungskampagne hätte die Chávez-Regierung möglicherweise daran gehindert, die Vorgaben der Reform umzusetzen.

Außerdem hat der Fehlschlag innerhalb der Bolivarischen Bewegung zu tiefgehenden Analysen und Selbstkritik geführt. Schon länger war interne Kritik nicht im Blickfeld des Präsidenten, da die Bewegung auf ihn fokussiert ist. Die Infragestellung seiner Politik schien die Einheit der Bewegung zu gefährden. Diese Einheit ist aber unbedingt notwendig, um gegen die Bemühungen der Opposition bestehen zu können, Chávez zu stürzen (mit finanzieller Unterstützung der Vereinigten Staaten).

Wenn Chávez eine ernsthafte Analyse vornimmt, dann wird diese die Schwachstellen in dem von oben nach unten gerichteten und überstürzten Transformationsprozesses finden. Im Blickpunkt stehen dabei im Wesentlichen die auf den Präsidenten zentrierten Aspekte der Verfassungsreform-Vorschläge und die Ineffizienz der Regierungsprogramme. Nur mit einer ernsthaften Analyse könnte ein neuer Versuch gelingen, in Venezuela einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufzubauen.


Gregory Wilpert ist Redakteur des englischsprachigen Internetportals Venezuelanalysis.com. Eine nahezu identische Version dieses Artikels ist im Januar 2008 in der englischen Ausgabe der Zeitschrift "Le Monde Diplomatique" erschienen.

[1] Diese 12 nationalen Wahlauseinandersezungen umfassen: (1) Die Wahl von Chávez zum Präsidenten im Dezember 1998; (2) das Referendum zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung im April 1999; (3) die Wahlen zu dieser verfassungsgebenden Versammlung im Juli 1999; (4) die Zustimmung zur neuen Verfassung im Dezember 1999; (5) die "Superwahl" auf allen Ebenen (außer der lokalen), einschließlich der des Präsidenten, im Juli 2000; (6) das nationale Referendum über Bundes- und Lokalwahlen im Dezember 2000; (7) das Referendum über die Abwahl des Präsidenten im August 2004; (8) die Regionalwahlen im Oktober 2004; (9) die Lokalwahlen im August 2005; (10) die Wahlen zur Nationalversammlung im Dezember 2005; (11) die Präsidentenwahlen im Dezember 2006; (12) das Referendum zur Verfassungsreform im Dezember 2007.
[2] Zur detaillierten Analyse der Reformvorschläge, siehe: Making Sense of Venezuela's Constitutional Reform (Welche Bedeutung hat die venezolanische Verfassungsreform), Venezuelanalysis.com (1.12.2007), von Gregory Wilpert
[3] Zum Beispiel ging die Wahlbeteiligung im hauptsächlich von Armen bevölkerten, pro-Chávez eingestellten Viertel 23 de enero (in dem 2006 75.6% für Chávez gestimmt hatten) im Vergleich von Präsidentschaftswahl und Referendum zur Verfassungsreform um 23 % zurück, während die Beteiligung im eher von der Mittelklasse bewohnten Viertel von El Recreo (in dem sich 2006 70.3 % für den wichtigsten Oppositionskandidaten Rosales ausgesprochen hatten) nur um 14 % zurückging. (Quelle: CNE)
[4] www.derechos.org.ve
[5] Die Sozialausgaben nahmen von 8.2 % des BSP im Jahr 1998 auf 13.2 % des BSP im Jahr 2005 zu (Quelle: Venezolanisches Ministerium für Planung und Entwicklung)
[6] Eine Zusammenstellung typischer Beschwerden findet sich in: The wind goes out of the revolution (Der Revolution geht die Luft aus), The Economist (6.12.2007)