Argentinien: Massenproteste und Repression in Jujuy nach Verfassungsänderung

Demonstrationsrecht in der Provinz Jujuy eingeschränkt. Indigenen Gemeinden ohne Landtitel droht Enteignung. Massive Polizeigewalt gegen Protestierende

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Die Proteste gegen Gouverneur Morales und die Verfassungsreform reißen nicht ab
Die Proteste gegen Gouverneur Morales und die Verfassungsreform reißen nicht ab

San Salvador de Jujuy. Trotz polizeilicher Repressionsmaßnahmen finden derzeit in der gesamten Provinz Jujuy, im Norden Argentiniens, Massenproteste statt. Getragen werden sie vor allem von indigenen Gemeinden und Personen in Lehrberufen. In verschiedenen Teilen der Provinz errichteten die Protestierenden Straßenblockaden, in der Hauptstadt San Salvador kommt es bereits seit zwei Wochen zu Massendemonstrationen. Mittlerweile haben sich weitere gesellschaftliche Sektoren wie Staatsangestellte, Vertreter:innen sozialer Bewegungen oder Arbeiter:innen der Zuckerfabriken angeschlossen. Beobachter:innen sprechen von der größten Protestwelle seit 2015, dem Jahr des Amtsantritts des umstrittenen Gouverneurs Gerardo Morales von der Radikalen Partei, Verbündeter des ehemaligen Staatspräsidenten Mauricio Macri und aktuell selbst Kandidat für die Präsidentschaftswahlen kommenden Oktober.

Auslöser waren Anfang des Monats Kampfmaßnahmen von Lehrer:innengewerkschaften gegen das Lohnangebot der Regierung für Personen in Lehrberufen, das als völlig unzureichend kritisiert wird. Es kam zu Großdemonstrationen vor allem in der Hauptstadt San Salvador. Als Reaktion darauf erließ Gouverneur Morales zunächst ein Dekret, das soziale Proteste mit schweren Geldbußen und anderen Sanktionen bedrohte, musste dieses jedoch nach Kritik und Druck von der Straße wieder zurücknehmen. Parallel dazu brachte er einen unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorangetriebenen Verfassungsänderungsprozess in Gang.

Am Abend des 16. Juni erließ die verfassungsgebende Versammlung der Provinz einstimmig mehrere Änderungen des Grundgesetzes. Einige stellen das Demonstrationsrecht in Frage, indem sie in vagen Formulierungen etwa Protestformen wie Straßenblockaden oder die Besetzung öffentlicher Gebäude kriminalisieren. Die Bundesarbeitsministerin Raquel "Kelly" Olmos erklärte dazu: "Das Recht auf Protest und Streik ist in unserer Bundesverfassung festgeschrieben. Wir werden daher die Streichung der betreffenden Artikel aus der Provinzverfassung wegen Grundrechtswidrigkeit beantragen."

Andere in der neuen Provinzverfassung vorgesehene Artikel dienten dazu, die Vertreibung indigener Gemeinden von ihren Territorien zu erleichtern, für die sie keinen offiziellen Landtitel besitzen. Der Vertreter der Kolla-Gemeinde Armando Quispe sagte dazu gegenüber der Tageszeitung Pagina12: "Es gibt mehr als 400 indigene Gemeinden in Jujuy. Kaum 12 Prozent von ihnen besitzen kommunitäre Landtitel. Die Verfassungsreform bedeutet den Raub an unseren Gemeinden."

Manuel Tufró vom Zentrum für Rechtliche und Soziale Studien (Cels) diagnostiziert steigendes Konfliktpotenzial in Provinzen wie Jujuy oder Salta, in denen es große Lithiumvorkommen gibt und der Extraktivismus immer wichtiger wird. Dies würde auch die Vermeidung einer öffentlichen Debatte um die Verfassungsreform erklären.

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"Weg mit der Reform in Jujuy - Die demokratischen Freiheiten existieren in Jujuy nicht"
"Weg mit der Reform in Jujuy - Die demokratischen Freiheiten existieren in Jujuy nicht"

Für die Änderungen stimmten neben den Vertreter:innen der Regierungspartei auch jene des Peronismus. Die in der Versammlung vertretenen linken Parteien hatten sich zuvor von der Abstimmung zurückgezogen. Aufgrund des Drucks der Straße musste Morales einen Tag vor der geplanten Veröffentlichung der neuen Verfassung jedoch nachgeben. Zwei Artikel, die indigenes Land betrafen, wurden wieder zurückgezogen und die neue Verfassung in dieser Form vergangenen Dienstag offiziell beschlossen.

Die Proteste gehen indes unvermindert weiter. Die soziale Anführerin Milagro Sala, die zu den schärfsten Kritikerinnen von Morales gehört und seit sieben Jahren unter zweifelhaften Umständen im Gefängnis sitzt, sagte dazu: "Diese Demonstrationen gibt es zwar schon lange, aber nun sind sie zusammengewachsen. Es sind sich alle einig geworden, dass sie genug haben von den Ungerechtigkeiten, mit denen man in Jujuy zu leben hat."

Durch die massiven Polizeirepressionen wurden Dutzende Protestierende verletzt, manche schwer. Zahlreiche Personen wurden von Gummigeschossen in Gesicht und Augen getroffen, was Erinnerungen an die Methoden der chilenischen Carabineros während der Massendemonstrationen 2019 und 2020 hervorruft. Darüber hinaus wurden auch Dutzende Verhaftungen registriert, viele auch mit unbekanntem Verschleppungsort.

Mittlerweile haben sich die Interamerikanische Menschenrechtskommission und zahlreiche weitere Menschenrechtsorganisationen eingeschaltet und ein Ende der Gewalt gefordert.

Landesweit finden derzeit Demonstrationen statt, die ein Ende der Repressionen fordern. Für den heutigen Donnerstag kündigten die Gewerkschaft der Staatsangestellten ATE und jene für Personen in Lehrberufen CTERA einen landesweiten Streik gegen die institutionelle Gewalt in Jujuy an.

Zahlreiche Vertreter:innen der peronistischen Bundesregierung verurteilen die gewalttätigen Polizeiaktionen. Staatspräsident Alberto Fernández antwortete auf einen Tweet des Gouverneur Morales: "Sie sind der einzige Verantwortliche dafür, dass sich unsere geliebte Provinz Jujuy in dieser Ausnahmesituation befindet, indem Sie eine Grundrechtsreform durchsetzen wollen, die der Bundesverfassung widerspricht."

Horacio Rodríguez Larreta und Patricia Bullrich von der rechten Oppositionspartei Juntos por el Cambio beschuldigen dagegen die Bundesregierung und das Kirchner-Lager, für die Gewalteskalation verantwortlich zu sein, und sehen eine internationale Verschwörung: Die Proteste in Jujuy würden von bolivianischen Agenten angeheizt, die Evo Morales nahestehen.