Generalstaatsanwaltschaft in Bolivien fordert 30 Jahre Haft gegen Putschpräsidentin Áñez

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Jeanine Áñez bei ihrer Festnahme am 13. März 2021
Jeanine Áñez bei ihrer Festnahme am 13. März 2021

La Paz. Der Generalstaatsanwalt von Bolivien, Juan Lanchipa, hat die Anklageschrift gegen die ehemalige De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez, Funktionäre ihrer Regierung sowie hochrangige Polizei- und Militärangehörige vorgelegt. Ihnen wird vorgeworfen, an den Massakern von Sacaba und Senkata im Jahr 2019 beteiligt gewesen zu sein.

Während seiner Rede, die live im staatlichen Fernsehsender Bolivia TV übertragen wurde, sagte der Behördenchef, dass die Entscheidung nach Abschluss der ersten Phase der Ermittlungen zu diesen Verbrechen getroffen wurde. Die Generalstaatsanwaltsanwaltschaft fordert eine Haftstrafe von 30 Jahren.

Die Anklage basiere auf 450 Dokumenten, 25 Sachverständigengutachten, elf technischen Untersuchungsberichten und 126 Interviews mit Angehörigen der Streitkräfte, 30 mit Polizeibeamten, 50 mit Opfern und acht mit Beamten des staatlichen Öl- und Gasunternehmens Yacimientos Petrolíferos Fiscales de Bolivia, so Lanchipa.

Am 15. November, drei Tage nach der Proklamation von Áñez zur "Übergangspräsidentin" und fünf Tage nach dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Evo Morales, hatten dem Bericht der Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten zu Menschenrechtsverletzungen beim Putsch 2019 zufolge Soldaten und Polizisten den Befehl, auf der Huayllani-Brücke in Sacaba, Cochabamba, einen Marsch von Kokabauern in die Stadt gewaltsam verhindern. Diese forderten die Absetzung der in ihren Augen illegitimen "Übergangsregierung". Dabei wurden zehn Menschen getötet, vier von ihnen wurden Opfer von Schussverletzungen am Kopf, die übrigen wurden im Bauch- und Brustkorbbereich tödlich getroffen. Bei dem Einsatz gegen Demonstranten in Senkata am 19. November starben sechs der zehn getöteten Demonstranten durch Kopfschüsse.

Die Interamerikanische Menschenrechtskommission stufte die beiden Vorfälle nach einer Untersuchung vor Ort als Massaker an der Zivilbevölkerung ein und forderte Aufklärung.

Für diese Taten wird Áñez nun wegen Genozids, Mordes und schwerer sowie leichter Körperverletzung angeklagt, wie in den Artikeln 138, 251 und 271 des bolivianischen Strafgesetzbuches vorgesehen und sanktioniert, mit einer Höchststrafe von 30 Jahren.

Strittig zwischen Justizbehörden und den Verteidigern von Áñez war bislang die Zuständigkeit für den Prozess. Die Staatsanwaltschaft plädierte dafür, den Fall vor Strafgerichten zu verhandeln, während die Verteidigung beantragte, dass aufgrund des Status' von Áñez als damalige De-facto-Präsidentin ein Verfahren zur Rechenschaftslegung eingeleitet wird, das von einer Zweidrittelmehrheit im Parlament gebilligt werden muss.

Die Vorsitzenden der Parteien Comunidad Ciudadana und Creemos hätten den Prozess gegen Áñez im Parlament jedoch blockiert, wie Justizminister Iván Lima erklärte. Aufgrund dessen musste ein Richter in El Alto angerufen werden, um die Zukunft des Verfahrens zu klären.

Dieser entschied, dass gegen Áñez ein ordentliches Strafverfahren eingeleitet werden sollte, bei dem lediglich eine Anklage der Staatsanwaltschaft erforderlich ist, um vor einem Strafgericht verhandelt zu werden.

Die Staatsanwaltschaft erweiterte unterdessen die Anklage gegen Áñez wegen der Unterzeichnung des Präsidialdekrets 4078, das Soldaten und Polizisten von der strafrechtlichen Verantwortung für die Gewaltanwendung gegen diejenigen befreit, die die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung nach dem Staatsstreich von 2019 forderten. Áñez hatte das Dekret zwei Tage nach ihrer Selbstausrufung zur Präsidentin erlassen.

Im Juni 2022 waren Áñez sowie sechs ehemalige Militär- und Polizeikommandierende in einem ersten Prozess wegen verfassungswidriger Übernahme der Senatspräsidentschaft und Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit dem Putsch im Jahr 2019 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden.

Unterdessen haben zwei hochrangige bolivianische Offiziere ‒ die ehemaligen Befehlshaber der Luftwaffe und des Heeres ‒ gegen die in dem als "Staatsstreich I" bekannten Gerichtsverfahren ermittelt wird, ihre Schuld eingestanden und sich mit der Staatsanwaltschaft geeinigt, um ein abgekürztes Verfahren und eine geringere Strafe zu erhalten. Mit ihnen sind es nun vier Ex-Militärchefs, die für den Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung im November 2019 die Verantwortung übernommen haben.