Endspurt der Mobilisierung in Chile gegen rechte Verfassung

Abstimmung über neue Verfassung am Sonntag. Entwurf gilt als erzkonservativ und neoliberal. Befürworter:innen betonen mehr Sicherheit und Abstrafung der Regierung Boric

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Letzte Personen umstimmen. Ein Genosse von Juan Pablo Rojas spricht mit einer Passantin
Letzte Personen umstimmen. Ein Genosse von Juan Pablo Rojas spricht mit einer Passantin

Santiago. Am Sonntag entscheidet die wahlberechtigte Bevölkerung Chiles zum zweiten Mal innerhalb von eineinhalb Jahren über eine neue Verfassung. Der Verfassungsentwurf wurde von einer Parlamentskommission geschrieben und anschließend von einem gewählten Verfassungsrat modifiziert. Rechte und rechtsextreme Parteien dominierten den im Mai 2023 gewählten Rat. Parteien ab der politischen Mitte nach links nahmen lediglich 17 von 50 Sitzen ein und verfehlten sogar eine Sperrminorität.

Der erste Entwurf galt als feministisch, ökologisch, sozialstaatlich und war mit tiefgreifenden neuen demokratischen Rechten ergänzt. Er sollte das Resultat der sozialen Revolte von 2019 sein, bei denen Millionen von Menschen gegen die Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftsregimes auf die Straße gingen, das aus der Pinochet-Diktatur entstanden war. Doch im September 2022 stimmte eine deutliche Mehrheit von 62 Prozent gegen den Entwurf.

"Der Text wirft uns in Bezug auf soziale Rechte und insbesondere in Bezug auf die Rechte von Frauen um 50 Jahre zurück", meint Juan Pablo Rojas zum neuen Entwurf. Der Aktivist steht mit einer Fahne am Eingang zur Metro der Santiagoer Vorstadt Maipú und verteilt Flyer. Er will die letzten Tage vor der Abstimmung nutzen, um möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, gegen die neue Verfassung zu stimmen.

"Sofern die Option 'Dafür' gewinnt, wäre das wirklich unheilvoll für das ganze Land", meint Rojas, der Mitglied in der Regierungspartei Revolución Democrática ist. Der zur Abstimmung stehende Entwurf ist stark von der rechtsextremen Partido Republicano und deren ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast geprägt.

In dem Text wird das Leben eines Fötus unter Schutz gestellt und somit Abtreibung verboten. Staatliche Aufgaben werden weiter reduziert: So dürfte der Staat nicht mehr in die Bildungspläne privater Schulen eingreifen, selbst wenn er diese subventioniert. Die Familie wird als einzige Verantwortliche für das Wohl des Kindes anerkannt und Mechanismen der Solidarität bei Renten- und Krankenversicherungen quasi per Verfassung verboten.

"Der aktuelle Verfassungsentwurf ist hochideologisch aufgeladen", sagt der Politologe Javier Couso gegenüber amerika21. Er ist sich sicher: Während der erste Entwurf stark nach links zeigte und wenig Kompromiss mit den rechten Sektoren suchte, ist der aktuelle das genaue Gegenteil.

Couso steht der Christdemokratischen Partei nahe und sprach sich für den ersten Verfassungsentwurf aus, den aktuellen hingegen lehnt er ab. Er verfestige die neoliberale Struktur des Landes und sei gleichzeitig Ausdruck einer erzkonservativen Ideologie, die im schlimmsten Fall den Rechtsstaat beeinträchtigen könnte. Ein Sieg der neuen Verfassung würde zumindest dazu führen, dass kleinere progressive Reformen, wie die Einführung eines allgemeinen und verbindlichen Sexualkundeunterrichts im Jahr 2019 oder das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe aus dem Jahr 2021, in den nächsten Jahren unwahrscheinlich sind.

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Er bleibt optimistisch. Juan Pablo Rojas meint, dass am Sonntag die Gegner:innen der neuen Verfassung gewinnen.
Er bleibt optimistisch. Juan Pablo Rojas meint, dass am Sonntag die Gegner:innen der neuen Verfassung gewinnen.

Umfragen sagen derweil einen Sieg des Lagers der Gegner:innen voraus. Couso mindert jedoch die Euphorie: "Aufgrund der obligatorischen Wahlteilnahme weiß niemand, wie sich jene Verhalten werden, die eigentlich keine klare politische Meinung haben". Er vertraue keiner Umfrage.

Die Befürworter:innen konzentrieren derweil ihre Kampagne auf zwei Argumente. In einer Wahlwerbung heißt es "Boric wählt dagegen, wähle du dafür" und ruft damit die Wähler:innen auf, mit einer Stimme für die neue Verfassung die aktuelle Regierung abzustrafen. Inhaltlich beziehen sich die Befürworter:innen vor allem auf mehr Sicherheit, die durch die neue Verfassung geschaffen werde.

In einem Wahlwerbespot zeigt die Partido Republicano einen Kopf, der vom Rest der Körpers getrennt und in eine Mülltonne geworfen wurde. "Chile erlebt einen Horrorfilm", heißt es im Video, "stimme für mehr Sicherheit, stimme für Chile, stimme für die neue Verfassung". Das Video wurde mittlerweile von Youtube entfernt.

Die ehemalige Präsidentin des Verfassungsrates, Beatriz Hevia, unterstreicht in sozialen Medien, dass die durch den Verfassungsentwurf erneuerte Staatsanwaltschaft die organisierte Kriminalität verfolgen und irreguläre Migration verhindert werde. Rechte wie sie machen für die steigende Kriminalitätsrate vor allem Eingewanderte verantwortlich. Ein Argument, dass statistisch nicht belegbar ist.

Ein Sieg der Rechten bei der Abstimmung könnte weitere Auswirkungen haben. Im kommenden Jahr sind Kommunalwahlen in Chile, gefolgt von den nationalen Wahlen im Jahr 2025. Mit Blick auf Argentinien und die Popularität der Ultrarechten in Chile herrscht in linken Kreisen große Sorge, dass die Partido Republicano die Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte.

Rojas, der weiterhin seine Fahne in der Luft schwenkt und mit weiteren Genoss:innen Flyer verteilt, sieht derweil positiv auf den Abstimmungssonntag. "Ich denke wir werden gewinnen", sagt er mit einem Lächeln. Und wenn nicht "dann werden wir weiter kämpfen müssen, es ist schließlich nicht das erste Mal, dass wir verlieren", meint Rojas, der schon während der Militärdiktatur für die Demokratie kämpfte.