Chile / Politik

Zwei Jahre Regierung Boric: Chile schwenkt nach rechts

Alle Umfragen zeigen für die nächsten Präsidentschaftswahlen zwei Kandidaten der Rechten als Favoriten

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Gelähmt durch das Parlament: Boric bei der Kabinettssitzung am 5. April
Gelähmt durch das Parlament: Boric bei der Kabinettssitzung am 5. April

Am 11. März jährte sich der Tag der Amtsübernahme von Gabriel Boric als Präsident der Republik Chile zum zweiten Mal. Ein saurer zweiter Jahrestag zu einem Zeitpunkt, da das Andenland unaufhaltsam nach rechts zu driften scheint.

Obwohl die Zustimmungsraten des Präsidenten sich bei um die 30 Prozent stabilisiert haben – das Niveau an Unterstützung, das er bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen hatte – zeigen alle Umfragen zwei Kandidaten der Rechten als Favoriten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen.

Wenn sich die Voraussagen der Meinungsforschungsinstitute bewahrheiten, würden sich in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen die Bürgermeisterin des Stadtteils Providencia in Santiago von der rechtskonservariven Unión Democrática Independiente, Evelyn Matthei, und der Kandidat der radikalen Rechten, Antonio Kast, der sich erneut zur Wahl stellen würde, gegenüberstehen. Eine Situation, die den deutlichen Rechtsruck widerspiegelt, den das Land in den letzten Jahren vollzogen hat.

Es sind viele Faktoren, die diesen Richtungswechsel beeinflusst haben. Aber unter all diesen gibt es zwei grundlegende für das Verständnis des Wandels, der in den letzten zwei Jahren stattgefunden hat: Die Unfähigkeit der Regierung Boric, ihre Agenda voranzubringen und die schwere Sicherheitskrise, in der das Land steckt.

Die Lähmung durch das Parlament ist der zentrale Punkt der Probleme der Regierung Boric in diesen ersten zwei Jahren der Legislaturperiode gewesen. Ohne eigene Mehrheit im Kongress muss der Präsident nicht nur die verschiedenen Kräfte innerhalb seiner Regierung in Übereinstimmung bringen, sondern danach auch noch den Widerstand des Kongresses überwinden, wo die Rechte und die Ultrarechte 68 der 155 Abgeordneten stellen. Diese komplizierte Ausgangslage hat verhindert, dass die Regierung die wichtigsten Reformen ihres Programms voranbringen konnte, die das Rückgrat ihres Mandats sein sollten: die Reformen des Bildungssystems, des Rentensystems und als Eckpfeiler zur Finanzierung all dessen die Steuerreform.

Obwohl wichtige Maßnahmen vorangetrieben wurden wie die Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden, die Erhöhung des Mindestlohns oder die Beseitigung der Selbstbeteiligung im öffentlichen Gesundheitswesen, war es bei solchen Kernthemen wie dem Steuersystem oder dem Rentensystem nicht möglich, eine Übereinkunft zu erzielen.

Die Regierung sieht sich ständigen Nullsummenspielen unterworfen. Wenn sie am Inhalt ihrer Vorschläge festhält, scheitert sie an einigen Institutionen, in denen sie keine Mehrheit hat. Aber wenn sie ihre Vorschläge zu sehr herunterschraubt, läuft sie Gefahr, die Unterstützung der fortschrittlichsten Kräfte in ihrer eigenen Koalition zu verlieren. Das Ergebnis ist ein unstetes, sprunghaftes Regierungshandeln, wo man – obwohl einige Fortschritte erreicht worden sind – die strukturellen Probleme des Landes wie die Ungleichheiten im Bereich Renten, Gesundheits- und Bildungswesens oder ein stark degressiv gestaltetes Steuersystem nicht an der Wurzel gepackt hat.

Diese Lähmung führt – außer dass sie die Lösung der Probleme, denen das Land gegenübersteht verhindert – auch zu Frustration, Enttäuschung und Misstrauen. Drei Gefühle, die wie Treibstoff für die Rechte und die Ultrarechte sind.

Die Unfähigkeit zur Umsetzung eines Gutteils ihres politischen Programms hat in Chile das Gefühl erzeugt, dass es sich bei der Regierung, die angetreten war, um alles zu verändern, eben auch nur um eine weitere Regierung handelt: unfähig, die strukturellen Fehler des Systems zu beheben und fernab von den wirklichen Problemen der Menschen. Und aus dieser Unzufriedenheit nähren sich politische Optionen, die heute in Chile wahrscheinlich zu einer konservativen Wende führen könnten.

Der andere Faktor, der diesen Rechtsschwenk in Chile beeinflusst hat, ist die Sicherheitskrise. Seit mehreren Jahren ist die Zahl der Tötungsdelikte angestiegen und es hat sich eine Kriminalität mit höherer Gewalttätigkeit entwickelt, die die Chilenen nicht gewohnt waren. Dieser Paradigmenwechsel hat dazu geführt, dass das Gefühl der Unsicherheit bei der chilenischen Bürgerschaft erheblich zugenommen hat und die Kriminalität zu ihrem Hauptproblem geworden ist.

Zahlreiche Experten stimmen darin überein, dass diese Sorge nicht das Ergebnis von Panikmache ist und dass die Situation sich in den letzten Jahren merklich verschlechtert hat. Die Zunahme der Präsenz von kriminellen ausländischen Banden, insbesondere in Santiago, hat zur Herausbildung einer Art von Kriminalität geführt, bei der laut Generalstaatsanwalt Ángel Valencia "die Gewalt nicht nur angewandt wird, um das Ergebnis der Straftat zu sichern, sondern um Angst in der Gemeinschaft zu verbreiten."

Dieser Kontext ist keineswegs förderlich für die Regierung, deren Antwort darauf von allen Seiten kritisiert wurde. Einerseits beschuldigt man sie des fehlenden Durchsetzungsvermögens, andererseits wirft man ihr die Anwendung der gleichen Repressionsmethoden wie frühere Regierungen vor – wie etwa die Verhängung des Ausnahmezustandes oder die Verstärkung der Militärpräsenz auf den Straßen.

Die Sache ist die, dass – und so passiert es fast überall auf der Welt – wenn die Sicherheit der Bürger die politische Agenda beherrscht, üblicherweise die Rechte davon profitiert.

So geschah es auch bei der Wahl der Räte für die Verfassungsgebende Versammlung im Mai 2023, als die Republikanische Partei von Kast nach einer Kampagne, die sich auf Sicherheit und Verbrechen konzentrierte, stärkste Kraft wurde. Und fast ein Jahr danach ist die Situation immer noch sehr ähnlich. Der Unterschied ist, dass nach dem Scheitern von Kast im zweiten Verfassungsreferendum es jetzt die konservative Bürgermeisterin Mattei ist, die aus dieser Unzufriedenheit der Bürger Kapital zu schlagen scheint.

Die Lähmung einer Regierung, die mit großen Versprechen umfassender Veränderungen gestartet ist, zu einem politischen Zeitpunkt, wo die Themen, die die Bürger am meisten beschäftigen, die Rechte begünstigen, hat eine Situation geschaffen, wo die konservativen Optionen scheinbar Rückenwind haben.

Noch ist Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode und es wäre sowohl ein Fehler, Boric und die chilenische Linke für tot zu erklären, als auch, es als gegeben anzusehen, dass die aktuellen Favoriten Matthei und Kast diejenigen sein werden, die letztlich in die Moneda kommen.

Zwei Jahre vor den vergangenen Präsidentschaftswahlen war von Boric nicht einmal als Kandidat die Rede, und der ultrarechte Kast, der in der zweiten Runde gegen den jetzigen Präsidenten antrat und verlor, wurde nicht einmal von den Rechten selbst ernst genommen.

Die Dinge können sich also auch noch sehr ändern.

Dennoch sind zu diesem Zeitpunkt der laufenden Legislatur die Tendenzen offensichtlich. Und während zur Halbzeit des Mandats von Sebastian Piñera (2018-2022) die Gesellschaft nach links schwenkte und eine Verfassungsgebende Versammlung mit einer klaren progressiven Ausrichtung wählte, kommt heute die Regierung in Chile noch immer nicht in die Gänge, während die Rechte Kapital aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung schlägt.

Die Regierung Boric muss so schnell wie möglich wieder auf Kurs kommen, wenn sie 2025 eine vernichtende Niederlage verhindern will. Dafür wird sie nicht nur versuchen müssen, eine Antwort auf die Frage der Sicherheit für die Bürger zu geben, sondern sie muss auch die legislative Agenda wieder beleben, die es ihr ermöglicht, Veränderungen in Gebieten wie Bildungswesen oder Rentensystem umzusetzen. Der einzige Weg zu verhindern, dass dieser konservative Schwenk den Regierungspalast La Moneda erreicht, besteht darin, dass die Regierung des Wandels es schafft, ein Vermächtnis zu hinterlassen, für das man sich ihrer erinnern wird.

Nach dem Scheitern des Verfassungsprozesses wird dieses Vermächtnis keine neue Verfassung sein. Deshalb muss die Regierung Boric nun den Anstoß geben, die Privatisierung des Gesundheits-, Renten- und Bildungssystems zu beenden. Wenn sie das nicht schafft, wird der Rechtsruck in Chile praktisch unumkehrbar sein.