Die Brics-Gruppe, bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, geht weit über ein bloßes ökonomisches Konzept hinaus und stellt tatsächlich einen Block dar, der auf Proaktivität bei der Umgestaltung des geopolitischen Schachbretts abzielt, weil diese Länder der Ansicht sind, "dass das Kräfteverhältnis in der Welt nicht mehr den Machtregelungen und den am Ende des II. Weltkrieges geschmiedeten Institutionen entspricht".
Die Sphären der Zusammenarbeit sind äußerst verschiedenartig und Brasilien nimmt eine entscheidende Führungsrolle im Aufbauprozess und bei der Ausrichtung des Blocks ein, da es über bedeutsame technologische Inseln und eine große Ressourcenverfügbarkeit aufweist. Allerdings mangelt es ihm an einer Elite, die sich der "internationalen Einbeziehung des Landes in strategischen Termini" verpflichtet fühlt.
Um eine reale Alternative zu der von Washington ausgehenden Unipolarität zu sein, ist es erforderlich, dass die Brics-Staaten der Entwicklung und der Inklusion Vorrang auf der Tagesordnung einräumen und die Interventionsfähigkeit der Staaten stärken, indem sie ihre Autonomie und Souveränität ausbauen.
Das ist die Einschätzung von Diego Pautasso, Professor für Internationale Beziehungen der Universität von Vale do Rio dos Sinos (Unisinos) in Rio Grande do Sul. Zu einer Zeit, in der Goldman Sachs die Auflösung des Brics-Investitionsfonds ankündigt, Brasilien in eine Rezession eintritt, Russland sich mit großen Behinderungen infolge der Wirtschaftssanktionen konfrontiert sieht und Chinas Wachstum sich abschwächt, kommt diesem Interview eine noch größere Bedeutung zu, gerade wegen seiner Sichtweise, die frei ist von den Lastern der Kartell- und Auftragspresse.
Was sind die hauptsächlichsten Bestrebungen und Ziele der Brics-Gruppe? Welche Übereinstimmungen und Unterschiede gibt es zwischen diesen Ländern?
Diego Pautasso: Brics ist weitaus mehr als ein Buchstabenspiel bzw. Akronym, das 2001 von Goldman Sachs erfunden wurde. Natürlich gibt es die unmittelbaren Interessen, die Partnerschaften innerhalb des Blocks zu intensivieren, denn zwischen diesen Ländern großer wirtschaftlicher, territorialer und demographischer Dimensionen gab es in vielen Fällen bisher eine relativ geringe Zusammenarbeit, vor allem z.B. was die Beziehungen Brasiliens zu Indien und Russland anbelangt. Jedoch handelt es sich um mehr als eine Gruppierung, die auf kommerzielle und unmittelbare Interessen orientiert. Es handelt sich ganz im Gegenteil um eine Machtkoalition, die auf eine Einflussnahme auf die Neuordnung der gegenwärtigen Machtverhältnisse in der Welt orientiert. Letztendlich haben diese Länder verstanden, dass das Kräfteverhältnis in der Welt nicht mehr den Machtkonstellationen und den zum Ende des II. Weltkrieges geschaffenen Institutionen entspricht.
In diesem Sinne und angesichts des Entstehens einer neuen Geographie der Mächte in der Welt wird ein systematischer Versuch gestartet, die Brics-Staaten zu schmähen. Solche Kritiken an den Brics-Ländern wie die kürzlich von Chris Blackhurst in dem in der Zeitung "The Independent" veröffentlichten Artikel "Alles vorbei für die Brics-Länder" vorgebrachte Kritik sind symptomatisch gerade für die Befürchtungen und Reaktionen auf die sich vollziehenden Veränderungen. Das ist Teil des politischen Spiels der alten Großmächte und der Segmente der nationalen Elite, die der Paktgebundenheit mit solchen westlichen Ländern nachtrauern, wie ich in einem Interview mit "Sputnik Brasil" ausführte. Das immer wieder vorgebrachte Argument, dass auf der Tagesordnung der Brics-Mitgliedsländer unterschiedliche Akzente und Prioritäten gesetzt werden, ist letztendlich nicht überzeugend, denn Unterschiede und Asymmetrien wohnen jeglicher Gruppierung, jeglicher Koalition oder jeglichem Block inne.
Welche Gebiete und Projekte ragen hinsichtlich der Zusammenarbeit innerhalb des Blocks hervor? Gibt es bereits aktiv betriebene Projekte?
Pautasso: Obwohl den Gipfeltreffen der Staatschefs der Brics-Länder die größere Aufmerksamkeit gewidmet wird, gibt es aber zudem auf allen wichtigen Gebieten verschiedene Initiativen, die auf eine Intensivierung der Zusammenarbeit innerhalb des Blocks abzielen. Man muss darauf verweisen, dass sich die Brics-Wirtschaftsminister regelmäßig am Rande der G-20-Treffen und der halbjährlichen Sitzungen des IWF [Internationaler Währungsfond] und der Weltbank zusammenfinden, dazu kommen die Kontaktgruppe für Wirtschafts- und Handelsfragen, das Finanzforum, der Think-Tanks-Rat, das akademische Forum, das Treffen der für Wissenschaft und Technik zuständigen Minister, das Treffen von ranghohen Vertretern für Sicherheit, das Agrogeschäfts-Forum und das Brics-Rahmenabkommen über Zusammenarbeit bei strategischen Gesundheitsprojekten. Zusammengefasst, die Synergie hat sich vervielfacht und die ersten Auswirkungen machen sich bereits bemerkbar. Ich könnte auch die Abstimmung in multilateralen Foren anführen (CSNU, CDH, OPAQ, etc.).
Wie ordnet sich in diesem Kontext die Neue Entwicklungsbank ein, allgemein als die Brics-Bank bekannt? Wird ihre Geschäftstätigkeit genauso orthodox sein wie die des IWF und der Weltbank?
Pautasso: Die Neue Entwicklungsbank (NBD) wurde 2014 auf dem VI. Brics-Gipfel in Fortaleza im Bundesstaat Ceará ins Leben gerufen und nahm im Juli 2015, nach dem VII. Gipfeltreffen in Ufa, Russland, ihre Arbeit auf. Sie ist eine Förderbank zur Finanzierung von Entwicklungsprojekten ‑ insbesondere der Infrastruktur ‑ in den Mitgliedsländern und in Entwicklungsländern. Hier wird die ganze Kraft der Gruppe sichtbar. Erstens war das eine Antwort auf die Schwierigkeiten bei der Umgestaltung der Bretton-Woods-Institutionen, also der Weltbank und des IWF, deren Stimmenproportionen nicht mehr der gegenwärtigen Verteilung der finanziellen Kapazitäten entsprechen. Zweitens strahlen diese Länder durch das Angebot einer Alternative zur westlichen, auf diesen Institutionen beruhenden Vorherrschaft weltweit aus, da die Finanzierung eine Einflussnahme auf die Investitionsströme, den Handel und offensichtlich auch auf politische Entscheidungen impliziert. Drittens kann die NBD den großen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Brics-Ländern und der von den USA und ihren europäischen Verbündeten angeführten Ordnung aufzeigen, d.h. sie kann zu einer Förderbank werden, die keine liberale Agenda auferlegt, so wie es der IWF seit den 80er Jahren praktiziert hat.
Was sind die wirtschaftlichen und geopolitischen Auswirkungen des Aufstiegs dieses Blocks? Welche Veränderungen können wir hinsichtlich der globalen Machtaufteilung erwarten?
Pautasso: Um mehr als eine Gruppierung zu sein, die auf eine Intensivierung der Zusammenarbeit innerhalb des Blocks abzielt, was an sich schon sehr bedeutsam wäre, müssen die Brics-Staaten wirtschaftliche und politische Alternativen zur hegemonialen Ordnung der Vereinigten Staaten bieten. Anders gesagt, muss 1) die Agenda für Entwicklung und Inklusion der neoliberalen Politik gegenübergestellt werden; 2) müssen die Fähigkeiten des Staates gestärkt statt geschwächt werden; und 3) müssen die Autonomie und Souveränität der staatlichen Akteure gegenüber dem Unilateralismus und Militarismus erweitert werden, mit denen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten die internationale Politik betreiben. Letztendlich, wenn die Brics-Staaten zu Repräsentanten der fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz (Souveränität, Nichtangriff, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, gegenseitiger Vorteil und friedliche Koexistenz zwischen den Staaten) auf der Grundlage von Neutralität und Nichtpaktgebundenheit werden, werden sie zu einem Schlüsselelement in einer neuen, sich abzeichnenden Weltordnung werden.
Gibt es hinsichtlich der Brennpunkte kriegerischer Spannung, insbesondere Ukraine und Syrien, irgendeinen Einfluss des Blocks auf diese Konflikte?
Pautasso: Offensichtlich haben die Brics-Mitgliedsstaaten nicht das gleiche große Interesse und nicht die gleichen geopolitischen Kapazitäten bei diesen wichtigen Themen auf der internationalen Bühne wie die Konflikte in der Ukraine und in Syrien. In diesen beiden Fällen nimmt Russland eine Handlungsrolle ein, wie sie kein anderes Mitgliedsland anstrebt. Es muss jedoch unterstrichen werden, dass die Bedeutung der Brics-Länder in der globalen Ordnung von einem größeren Aktivismus ihrerseits bei einschneidenden Themen abhängen wird. In seiner Rede zur Annexion der Krim bedankte sich der russische Präsident Wladimir Putin bei China und Indien für deren Solidarität. Es ist augenfällig, dass das Schweigen Brasiliens bei einschneidenden Themen bzw. sogar die Nichtteilnahme an den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des russischen Sieges letztendlich eine Reziprozität bei anderen Themen, die von Interesse für uns sind, implizieren, z.B. eine Reform des UN-Sicherheitsrates. (Erst vor Kurzem unterstützte Brasilien den französischen Vorschlag für eine Beschränkung des Veto-Rechts, der von keinem anderen Ständigen Ratsmitglied unterstützt wurde, und das nachdem der russische Außenminister Lawrov einige Wochen zuvor bekräftigt hatte, dass Russland Brasilien als Kandidaten für ein Ständiges Ratsmitglied betrachtete).
Die gegenseitige Ergänzung der Militärtechnologie und der wirtschaftlichen Macht zwischen Russland und China ist wohlbekannt, auch das chinesische Interesse an einem fortwährenden Zugang zu den russischen Energiereserven. Was hätte Brasilien diesen Großmächten zu bieten? Was erwarten die Blockgefährten von Brasilien?
Pautasso: Für die übrigen Brics-Mitgliedsstaaten ist Brasilien von größter Bedeutung. Es ist die Hauptmacht in Südamerika und hat beim Integrationsprozess die Führung inne. Es verfügt über beneidenswert große Energiereserven, natürliche Ressourcen und Nahrungsmittel, Bereiche mit keinesfalls verachtenswerter Exzellenztechnologie wie im Gesundheitswesen, in der Landwirtschaft und der Luftfahrtindustrie. Es ist ein Land kontinentalen Ausmaßes mit einem riesigen Binnenmarkt. In verschiedenen Sektoren gibt es Nachfragebedarf, im Verteidigungsbereich nach elektronischen Bauelementen, die von den Partnern geliefert werden könnten.
Allerdings mangelt es Brasilien an einer Elite (politische, akademische und unternehmerische), die die Einbeziehung des Landes auf internationaler Ebene in strategischer Hinsicht zu schätzen wüsste. Üblicherweise versprechen die Wahlprogramme und die sich daraus ergebenden ideologischen Streitigkeiten zwischen den Parteien langfristige Zielsetzungen wie die Konsolidierung unseres regionalen Raums und der Integrationsmechanismen zum Wohle angeblicher pragmatischer Handelschancen (Pazifik-Allianz und Freihandelsabkommen).
Im letzten Jahr driftete die brasilianische Regierung in einigen Gebieten nach rechts, während im Kongress noch mehr Druck in diesem Sinne ausgeübt wird. Kann diese Situation Einfluss auf die Entwicklung des Blocks ausüben? Kann es möglicherweise eine Entleerung des Blocks von Seiten Brasiliens geben?
Pautasso: Zweifellos, die mangelnde Klarheit bezüglich der internationalen Eingliederung des Landes in Verbindung mit den politischen Auseinandersetzungen lassen Brasilien aus der Sicht der übrigen Brics-Mitgliedsländer zu einem weniger stabilen Partner werden. Und sicherlich würde ein Sieg der sich am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums befindlichen Kreise das internationale Auftreten Brasiliens verändern. Es genügt, die Parteiprogramme bzw. die Erklärungen ihrer Führer zu lesen, um zu sehen, dass die südamerikanische Integration an Bedeutung verlieren bzw. mehr einen merkantilistischen Charakter annehmen würde. Zugleich würde der Akzent wieder mehr auf den Nordatlantik und nicht mehr so auf die Süd-Süd-Achse und die Schwellenländer (Brics) gelegt werden.
Eine Studie von Stratfor, einem der wichtigsten geopolitischen think tanks der Vereinigten Staaten, unter dem Titel "Geopolitical Diary: ‘Blue Skying’ Brazil”, führt bereits 2008 Folgendes über die damalige Bric-Gruppe aus:
"Mit Brasilien als einem bedeutenden Erdölproduzenten würde das globale Interesse an Lateinamerika in demselben Maße zunehmen, und das nicht nur seitens der Vereinigten Staaten, sondern auch Chinas, Russland, Europas und anderer. Auch würde der Wettlauf um den Zugang zu diesen Ressourcen zunehmen – und damit potentiell die Kontrolle über sie -, bei der Sicherung der Schifffahrtsrouten und sogar bis hin zur Einflussnahme auf die brasilianische Regierung und ihre Energieunternehmen. Ein Brasilien als Ressourcengroßmacht in Verbindung mit der chinesischen Arbeitskraft, dem technologischen Wissen Indiens sowie den Energiereserven und Streitkräften Russlands würde dem Konzept der Bric-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien und China) Leben einhauchen und sie vielleicht zu einem lebensfähigen Machtblock werden lassen, was seinen Ausdruck in einem Gegengewicht zur globalen US-Hegemonie finden würde."
Angesichts dessen ergeben sich für uns zwei Fragestellungen. Wird Washington in der Zukunft möglicherweise seine feindselige Haltung gegenüber Brasilien verstärken? Warum nimmt die öffentliche Debatte im Lande dieses Thema praktisch nicht zur Kenntnis bzw. greift es nicht auf?
Pautasso: Erstens müssen wir anerkennen, dass die Interessen der Vereinigten Staaten in der politischen Struktur Brasiliens historisch verwurzelt sind, schon von vor 1964 bis in die Gegenwart. Es muss daran erinnert werden, dass der damalige ex-Präsidentschaftskandidat José Serra - laut einem von Wikileaks verbreiteten Dokument - Chevron gegenüber versprochen hatte, die Presal betreffenden Regelungen zugunsten des US-Unternehmens zu ändern. Jetzt als Senator hat er den Gesetzesentwurf 131/2015 eingebracht, mit dem sowohl die obligatorische staatliche Mindestbeteiligung bei Petrobras beim gemischten Ausbeutungsmodell widerrufen werden würde, sondern damit in Verbindung auch die Bedingung einer staatlichen Mindestbeteiligung von mindestens 30% bei jeder Ausschreibung.
Es muss daran erinnert werden, dass die Ausspähaktionen der NSA bis in höchste Regierungskreise hinein reichten, bis hin zum Präsidentenamt und Petrobras, und dass kurioserweise die unmittelbar darauf losgetretene Operation Lava Jato gerade diese beiden neuralgischen Zentren der Volkswirtschaft erfasste, vielleicht die letzten internationalisierten Bereiche in nationalem Besitz und mit nationaler Technologie: die Auftragnehmergesellschaften und den Erdölsektor.
Zweitens ist dieses Thema deshalb noch nicht gebührend aufgegriffen worden, weil es uns an einer Elite mit nationalem Denken mangelt, und die, die existiert, sieht sich durch die Einschränkung des öffentlichen Raums blockiert. Aus verschiedenen Grünen haben wir keine nationalistische, sondern eine das Land ausliefernde Rechte, und die Massenmedien sind direkt mit diesen Interessen verbunden und handeln in oligopolistischer Manier; der größte Teil der Akademie gibt sich mit der Befriedigung der institutionellen Voraussetzungen bei den Lehrplänen zufrieden und geht auf Distanz zu den großen Themen von öffentlichem Interesse. Und schließlich geben sich viele fortschrittliche Sektoren mit spezifischen "Anerkenntnis"-Themen zufrieden, die völlig vom politisch-wirtschaftlichem Zentrum der Konflikte abgekoppelt sind. Zudem ist es angebracht, den "Klassenkampf" von Domenico Losurdo zu lesen: Wenn schon etwas anerkannt wird, so hat das in Verbindung mit der Umverteilung zu stehen; die Klassenkämpfe haben verschiedene Formen und vielfältige Dimensionen. In diesem Sinne stellt die gegenwärtige Rolle der Brics-Gruppe auf der internationalen Bühne trotz der ihr innewohnenden Widersprüche eine fortschrittliche Bewegung angesichts der Unilateralität und der Hegemonie der USA und ihrer Verbündeten mit ihrer Liberalisierungsagenda und des Abbaus der sozialen Errungenschaften dar.