Ökonomische Krise und "Wirtschaftskrieg" in Venezuela

Manuel Sutherland aus Venezuela beschreibt die Hintergründe der Niederlage bei den Parlamentswahlen und düstere Aussichten für das Land

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Trotz PSUV-Aufklärungskampagne gab es 697.947 ungültige Stimmen (4,77 Prozent) - eine Verdreifachung im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen
Trotz PSUV-Aufklärungskampagne gab es 697.947 ungültige Stimmen (4,77 Prozent) - eine Verdreifachung im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen

Ohne Zweifel ist die schwere Niederlage, die die Bolivarische Regierung bei den Parlamentswahlen am 6. Dezember erlitten hat, ein einschneidendes politisches Ereignis. Sie verlangt eine tiefgreifende Analyse. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird dieser Artikel folgende Punkte umfassen: Die konkreten (materiellen) Ursachen der Wahlschlappe; ein Schema der ökonomischen Krise; einige Zahlen aus dem Wahlprozess und eine Annäherung, welche unmittelbare Zukunft dem venezolanischen Progressivismus1 bevorstehen könnte.

Die bedeutendste Wirtschaftskrise dieses Jahrhunderts wird einfach ... negiert

Venezuela wird im dritten Jahr in Folge die höchste Inflation der Welt haben. 2014 betrug sie (sehr unterschätzt) 68,5 Prozent. Die Inflation von 2015 wurde direkt durch die staatlichen Institutionen verschleiert, unter nachdrücklichem Verbot ihrer Veröffentlichung. Voraussichtlich wird sie dreistellig sein und die stärkste Inflation unserer Geschichte werden. Wir sprechen von einem zweistelligen Haushaltsdefizit, dem Einbruch des Erdölpreises um 70 Prozent, dem größten Risiko für internationale Investitionen (nach JPMorgan Emerging Market Bond Index 2400 Punkte, 2015), dem krachenden Fall des Bruttoinlandsproduktes um etwa vier Prozent letztes Jahr, den niedrigsten Devisenreserven des Jahrzehnts und einem furchtbaren Mangel an allen möglichen Gütern und Dienstleistungen. Zu all dem kommt noch die Kapitalflucht, die – im Bezug zum BIP gesetzt – die höchste des Planeten ist.

Vor diesem glanzlosen Panorama erhebt sich die Gewissheit, dass die Situation noch schlimmer werden wird. Angesichts all dieser Evidenzen ist das Konzept der Regierung, die Existenz der Krise einfach mittels Verschwörungsideen zu negieren. Die Theorien können, auch wenn sie noch so viele Ausschmückungen haben, jedoch nicht die starke Kaufkraftverringerung der arbeitenden Bevölkerung verdecken.

Die schlimste Wahlniederlage einer progressiven Regierung

Trotz einer solchen Krise hat die Regierung eine Kampagne abgehalten, die auf die Macht ihres Partei- und Wahlapparates vertraute (die Vereinigte Sozialistische Partei, PSUV, zählt circa sieben Millionen Mitglieder und hat Zugriff auf Ressourcen des Staates), sowie auf das konstante Bedrohungsszenario, dass ein Oppositionssieg den ganzen Apparat an staatlichen und paternalistischen Subventionen und Geschenken abschaffen würde. Die Regierung hat weder eine bessere Zukunft in Aussicht gestellt, noch Versprechungen zur Verbesserung der Lage gemacht oder wenigstens schwerwiegende Fehler anerkannt. Im Gegenteil, in der Kampagne wurden ihre Erfolge gelobt, die Regierung als die Beste des Planeten dargestellt und der wirtschaftliche Niedergang stillschweigend übergangen.

Die Opposition hat sich ausschließlich auf das ökonomische Thema verlassen und ihre traditionellen antikommunistischen Idiotien zurückgestellt (vormals: "Die Regierung nimmt dir deine Kinder weg; zwingt dich deine Frau zu teilen; wird dir vorschreiben, wie du dich anzuziehen hast..."). Das affektierte Geschrei nach "Freiheit" ist auf einen zweiten Platz gerückt und alles konzentrierte sich darauf, die Lüge zu verkaufen, dass ihr Sieg die schweren ökonomischen Probleme lösen würde. Als Teil dieser Phantasterei haben beispielsweise Kandidaten wie Tomás Guanipa (Primero Justicia), das Versprechen gemacht, die "Löhne zu dollarisieren" und andere versprachen, den Mindestlohn auf den fünffachen Wert der Reproduktionskosten (canasta alimentaria) anzuheben. Zwischen jedem nichtssagendem Diskurs wurde ein betrügerischer Universalplatz beigefügt, so inhaltslos wie seine Vertreter: "Wir wollen den Wechsel" (Queremos cambio).

Am 6. Dezember wurden Wahlen über die 167 Abgeordnete des Parlaments abgehalten, die die Gesetzgebung bis zum 5. Januar 2021 bestimmen werden. Mit einer sehr hohen Wahlbeteiligung (75 Prozent), hatte die Regierung noch ein "titanisches" Vertrauen in die Wahlergebnisse. Am frühen Morgen des 7. Dezember wurden die ersten Hochrechnungen bekannt gegeben und zeigten einen souveränen und unerwarteten Vorsprung der Opposition gegenüber der Regierung. Im Laufe der nächsten Tage wurden die ausführlichen Zahlen bekannt, die auf die schlimmste Niederlage (bis jetzt) einer progressiven Regierung der Region hindeuten.

In der Zusammenfassung:

A. Bei den letzten Parlamentswahlen (2010) hat die Regierung 98 gegenüber 65 Sitzen der oppositionellen MUD erhalten.

B. Die Präsidentschaftswahlen 2013 hat Nicolás Maduro mit 7.586.251 Stimmen gewonnen, gerade mal 224.000 Stimmen mehr als sein Herausforderer. Der Chavismus hat schon hier mehr als 700.000 Stimmen innerhalb von sechs Monaten verloren (im Vergleich zur Präsidentschaftswahl von Hugo Chávez im Oktober 2012)2.

C. Bei den jetzigen Wahlen erhielt der Chavismus nur 5.615.300 Stimmen, fast zwei Millionen weniger als im Jahr 20133. Die Opposition gewann bloß fünf Prozent an Stimmen dazu. Das scheint darauf hinzudeuten, dass der größte Teil der chavistischen Stimmen nicht zur Opposition überwechselte.

D. Demnach erhielt die Opposition 112 gegenüber 55 Sitzen der Regierung, wobei letztere 43 Abgeordnete im Vergleich zur Wahl 2010 verlor.

E. Die Opposition bekam 57 Prozent der Stimmen, aber durch die vorwiegend auf Wahlkreisebene bezogene Form der Wahl erhielt sie 68 Prozent der Sitze. Der Chavismus, mit nicht vernachlässigbaren 42 Prozent der Stimmen, bekam so gerade mal 33 Prozent der Sitze4.

F. Die Wahlstruktur bevorzugt Mehrheiten, missachtet das Grundprinzip der proportionalen Stimmenvergabe und festigt eine nachteilige Zweiparteienherrschaft, die es alternativen Kräften verunmöglicht, einzudringen.

G. Die Regierung hat gerade mal in sechs Bundesstaaten gewonnen, mit einem Vorsprung von insgesamt 100.000 Stimmen.

H. Im Bundesstaat Carabobo, der von einem bolivarischen Gouverneur regiert wird, hatte Maduro 2013 einen Stimmenvorsprung von 15.000. Die jetzige Niederlage hatte einen Abstand von 205.000 Stimmen.

I. Im Bundesstaat Zulia lag die Differenz zwischen Opposition und Chavisten bei fünf zu eins. Im Hauptstadtdistrikt sogar bei sieben zu eins für die Opposition5

J. In Bundesstaaten wie Bolívar und Barinas, die von Chavisten regiert werden, hatte die Opposition eine Steigerungsrate von 400 Prozent6.

K. Die Zahl ungültiger Stimmen war so hoch wie nie und zwar nicht, weil einige Anarchisten und Trotzkisten sich das wünschen, sondern weil viele Leute technische Probleme damit hatten, so abzustimmen wie sie wollten.

I. Das venezolanische Wahlsystem sieht nicht die Möglichkeit vor, dass die Wähler ihren Unmut durch eine Stimmenthaltung ausdrücken können; so werden solche Stimmen vom CNE als ungültige Stimmen und Fehlverhalten des Wählers aufgefasst und nicht als eine freie Entscheidung7 .

M. Im Landesmaßstab gab es 697.947 ungültige Stimmen (4,77 Prozent8. Eine Verdreifachung im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen. Es gab viele Beschwerden in den einkommenschwachen Schichten über die Unmöglichkeit für jemand bestimmtes zu stimmen9.

N. Im Wahlkreis 3 im Bundesstaat Aragua hat das Regierungslager mit gerade mal 82 Stimmen verloren, bei 158.000 abgegebenen Stimmen. Die ungültigen Stimmen betrugen 16.000. Es ist wahrscheinlich, dass viele, die sich dem Regierungslager zugehörig fühlen, die "Äuglein" von Chávez auf dem PSUV-Wahllogo angeklickt haben, aber nicht auf das dafür vorgesehene Feld auf den Bildschirmen der digitalen Wahlmaschinen10.

O. Im Wahlkreis 4 im Bundesstaat Aragua verlor auch der Spitzenkanditat Elvis Amoroso mit 7.000 Stimmen Differenz, wobei auch hier die ungültigen Stimmen 30.000 ausmachten.

P. Bei der Wahl für die Abgeordnetenplätze der Indigenen (Östliche Region) betrugen die ungültigen Stimmen sogar 20 Prozent. Es ist offensichtlich, dass bei einer solchen Größenordnung untersucht werden müsste, ob die Bevölkerung hier versucht hat, eine Wahl zu treffen und die Stimme als ungültig erschien11.

Der Hauptverantwortliche für die Niederlage ist ... der "Wirtschaftskrieg"

Präsident Nicolás Maduro: "Der Wirtschaftskrieg hat triumphiert (…) das Verstecken von Produkten, sie zu verteuern (…) es wurden gerechte Preise für ein Produkt etabliert und sie haben alles versteckt; den Preis eines Hemdes haben sie festgesetzt wie es ihnen passte: 100.000 Bolívares, ein Paar Schuhe 60.000 Bolívares – der Mindestlohn beträgt 16.000 Bolívares."12

Kaum, dass die Wahlbehörde CNE die Ergebnisse bekannt gegeben hatte, erkannte sie der Präsident Nicolás Maduro in einer Ansprache an. Im Anschluss ging er dazu über, den "Wirtschaftskrieg" für die krachende Niederlage verantwortlich zu machen, weil dieser die chavistische Basis entmutigt hätte. Sie sei unter dem Druck eingeknickt und so sei verhindert worden, dass sie für den Prozess stimmt.

Schon bei anderen Gelegenheiten habe ich die Theorie des "Wirtschaftskrieges" kritisiert. Unter anderem vor ein paar Monaten in einem dreiteiligen Artikel13. Zusammengefasst möchte ich folgendes dazu sagen:

a.) Den Schmuggel betreiben nicht Personen, die Maduro stürzen wollen und die von der CIA bezahlt werden. Diese Aktivitäten sind stark angewachsen aufgrund der enormen Preisunterschiede von subventionierten Gütern durch den Staat und die Preise, zu denen man diese in Kolumbien, Brasilien oder Panama verkaufen kann.

b.) Bei einer Inflationsspirale und bei festgelegten Preisen (Unternehmern wird ein maximaler Gewinn von 30 Prozent zugestanden), ist zu erwarten, dass die Preise (auf dem Schwarzmarkt) steigen werden. Daher ist es normal, dass Unternehmer es vorziehen, Waren zurück zu halten und nicht zu verkaufen und auf steigende Preise zu warten. Das nennt die Regierung dann „Hortung von Waren“

c.) Anstatt die Waren zu regulierten Preisen an die Bevölkerung zu verkaufen, ziehen die Unternehmer es vor, sie an Restaurants, Kliniken usw. zu verkaufen, mit denen sie einen Preis aushandeln, der über dem Regulierten liegt und sie somit mehr Gewinn einfahren können.

d.) Straßen- oder Kleinsthändler jeder Art können mit Handelsketten und Fabriken verhandeln, um diesen ihre Ware zu einem höheren Preis als dem Regulierten abzukaufen. Der Weiterverkauf erfolgt dann zu einem stabilen Preis ohne Begrenzung oder staatliche Kontrolle. Auf der anderen Seite ist es von Vorteil, die Waren an die Straßenhändler zu verkaufen, da zusätzlich zu den hohen Gewinnen keine Steuern gezahlt werden müssen.

e.) Die "Spekulation" ist nicht der Grund für den allgemeinen Preisanstieg, sondern im Gegenteil seine Konsequenz. Alle Ökonomien der Welt haben ähnliche Arten von Inflationen durchlaufen, wie sie in Venezuela zu erleben ist. So führte die Hyperinflation in Deutschland (in den 1920er Jahren) dazu, dass ein Bier vier Milliarden Mark kostete. Selbstverständlich gab es keinen "Wirtschaftskrieg" in Deutschland. In Argentinien, Bolivien und Brasilien ist auch das gleiche geschehen, ohne dass irgendein Präsident dieser Länder Feind der USA war.

g.) Man muss die strukturellen Gründe untersuchen, die unsere Ökonomie zu einem wiederkehrendem Opfer der Inflation machen. Es sei daran erinnert, dass in den 1990er Jahren die Inflationsraten bei mehr als 100 Prozent lagen. Der Anstieg von Preisen war begleitet von einer akuten Güterknappheit. Niemand würde es einfallen zu argumentieren, dass die Inflation durch einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung von Rafael Caldera oder Carlos Andrés Pérez geschaffen worden wäre.

h.) Auch wenn es widersprüchlich erscheint, behaupten die "Wirtschaftskrieger", dass die Inflation nicht existiert, sondern künstlich erzeugt wurde. Um die Sache noch unnötig zu verkomplizieren, sagen sie, dass die venezolanischen Unternehmer (Restaurants und chinesische Supermärkte inklusive) ihre Befehle durch das FBI aus der Putschzentrale in Miami erhalten. Von dort würden die Unternehmer gezwungen, die Preise der Waren hoch zu treiben; eine Sache die darüber hinaus den Unternehmern aber nützen soll, weil – so sagt es die Regierung – je höher die Inflation, um so höher der Gewinn (!).

Zusammengefasst:

1. Die "Theorie" des Wirtschaftskrieges ist Unsinn. Man sollte die Wahlniederlage nicht etwas zuschreiben, was nicht existiert.

2. Die Inflation nützt den Unternehmern nichts, um so mehr die Preise steigen, um so weniger kann verkauft werden, um so geringer die Einnahmen – es führt zum Konkurs von vielen Unternehmern, die ihre Kosten nicht decken und die keine Waren mehr nachkaufen können. Zu glauben, dass hohe Preise hohe Gewinne bedeuten ist prähistorisch; es ist eine Geld-Illusion.

Wenn der Wirtschaftskrieg stimmen würde, dann müsste es doch chavistische Händler geben, die nicht zu den ganz hohen Preisen verkaufen, sondern billiger und in größeren Mengen. Leider sind es gerade die staatlichen Unternehmen, die die größte Knappheit vorweisen. Es ist schmerzhaft, aber muss man sagen, dass vor allem hohe Staatsfunktionäre in Schmuggel und Bachaqueo verwickelt sind14, denen es eher gefallen würde, wenn die Regierung so bestehen bliebe und sich verewigte. Sie machen es folglich auch nicht, um sich selbst zu stürzen, sondern sie nutzen einfach eine super Geschäftsmöglichkeit.

Wenn der Wirtschaftskrieg stimmen würde und alle Unternehmer die Ökonomie absichtlich zu Grunde richten, wäre die einzig gangbare Lösung, die radikale Verstaatlichung aller Firmen. Jedoch schlagen dies die Ideologen des Wirtschaftskrieges nie vor, sondern begnügen sich damit, höhere Besteuerungen zu verlangen. Absurderweise führt das zur "Regulierung" des Wirtschaftskrieges. Während die Regierung sich im "Krieg" befindet, verkauft sie den Kapitalisten Dollars zu Vorzugspreisen, gibt ihnen Kredite mit negativen Realzinsen15, bietet ihnen Schuldenerlasse an, senkt die Steuern und druckt schließlich eine Menge nicht gedecktes Geld, was sie dann dann zu lächerlichen Konditionen an die Bourgeoisie verleiht, womit diese wiederum Dollar auf dem Schwarzmarkt kaufen kann. Wirklich ein eigenartiger "Krieg".

Schlimmer noch. Die Regierung sagt, dass die schreckliche Wirtschaftslage auf diesen "Krieg" zurück zu führen sei, wodurch viele Wähler denken könnten, die Probleme ließen sich mit der Abwahl der Regierung lösen. Dann würden die Unternehmer aufhören "Krieg zu führen" und die Ökonomie könnte sich ohne Krise frei entfalten.

Wenn der Wirtschaftskrieg für alle Übel verantwortlich ist, sollte die Regierung den Kapitalisten nachgeben und ihren Willen geschehen lassen. So würden die Probleme des Mangels, der Inflation und der Armut sofort verschwinden. Wenn die Regierung Jahre damit zubringt, den Kampf zu führen und jeden Tag wird es schlimmer, ist die Lösung die vollständige Versöhnung der Klassen einen Pakt machen und den Forderungen der Kapitalisten gehorchen. Die Ideologie des "Wirtschaftskrieges" ist eine Kapitulation, feige und verlogen.

Düstere Aussichten

Solange die Regierung auf der einfältigen These des Wirtschaftskriegs beharrt, wird sie keine effektive Politik gegen die strukturellen und konjunkturellen Ursachen der Wirtschaftskrise entwerfen können. Diese Krise war die Mutter der politischen Niederlage der Regierung.

Wenn sich die Regierung weigert eine weitgehende Selbstkritik zu leisten, wird sich die Wirtschaftslage verschlechtern. Denn ohne diese können nicht die dramatischen Fehler anerkannt werden, durch die der natürliche Abschwung dieser zyklischen Krise katastrophal verschlimmert wurde.

Solange darauf beharrt wird, absurde und ineffiziente "Lösungen" vorzustellen, wie Märkte unter offenem Himmel zu organisieren, um die Versorgungsknappheit abzuschwächen, werden die Probleme sich verschlimmern. Nicht nötig zu erwähnen, dass bei dieser Art Märkte die Kontrollen umgangen werden, mafiöse Strukturen in Aktion treten und die Korruption sich multipliziert. Zehn Stunden für ein Stück Schweinefleisch Schlange zu stehen, wird von der Bevölkerung als eine extreme Plage wahrgenommen, die daran gewöhnt war, durch unsere großzügige Erdölrente und die dauerhafte Überbewertung der Währung in Kaufhallen und städtischen Märkten mit großen Sortiment einkaufen zu können. Diejenigen, die keine zehn Stunden anstehen, kaufen das Schweinefleisch bis zu acht mal teurer. Beide, die Leute, die anstehen und die, die mehr für das Schwein zahlen, empfinden eine große Bitterkeit.

Auch wenn die Regierung vor der Krise die Augen verschließt, wird diese weiter gehen. Auch wenn sie nicht beim Namen genannt wird oder sogar versucht wird, sie mittels Dekreten zu verbieten, wird sie sich ausweiten und droht so, die winzige Kaufkraft der Arbeiterklasse zu zerstören.

Die Regierung, die Strukturanpassung und das Drängen der Krise

Die Dringlichkeit, die dramatischste makroökonomische Anpassung der venezolanischen Geschichte vorzunehmen, wird immer gewaltiger. Jeden weiteren Tag werden Schulden nicht bedient, das Defizit vergrößert sich und die Einnahmen schrumpfen aufgrund des zyklischen Abschwungs des Erdölpreises. Als der Erdölpreis um das neunfache stieg wurde nicht gespart. Vielmehr wurde das Ausgabentempo noch beschleunigt, das Land hat sich noch mehr verschuldet und die Notenbankgeldmenge vergrößerte sich um 17.000 Prozent (1999 bis 2015)16. Der von allen außer den Funktionären des venezolanischen Staates erwartete Fall des Erdölpreises hat die völlige Improvisation im Umgang mit den nationalen Haushalten und die größte Verantwortungslosigkeit gezeigt.

Die Ausgangsentwicklung zu dieser Situation lässt sich als Neuauflage des "Saudischen Venezuelas" von 1975 bis 1981 lesen, als es auch zu einem Anstieg der Erdölpreise kam und der Staat entschied, so schnell wie möglich alles auszugeben was da rein kam. Das Ergebnis war der sogenannte "Schwarze Freitag", der 1983 die saudische Illusion zerbrach und erahnen ließ, welche Armut das Land nun heimsuchen würde.

Das Jahr 2016 könnte nun die stärkste makroökonomische Anpassung gegen die Arbeiterklasse in der Geschichte Venezuelas mit sich bringen. Die Wirtschaftslage 1989, im Jahr des schicksalhaften 27. Februar (Caracazo)17, war weniger schlecht als die aktuelle. Die Entwertungen und Verteuerungen des Wechselkurses, die damals vorgenommen wurden, streiften die 100-Prozent-Marke und ein wenig mehr. Ohne Zweifel ernste und armutserzeugende Maßnahmen. Momentan sind die Verzerrungen sehr viel größer. Um die Dimension zu veranschaulichen: Die Preissteigerungen nach Aufhebung des Wechselkurses könnten bei 4.000 Prozent für Devisen und bei 20.000 Prozent für Benzin liegen. Wenn der Wechselkurs für den Import von Medikamenten und Grundnahrungsmitteln um 4.000 Prozent erhöht wird, entspräche das noch immer nur 25 Prozent des Preises auf dem Schwarzmarkt. Einen Tank mit 44 Litern Benzin zu füllen kostet momentan gerade mal 4,5 Bolívares. Eine Preissteigerung von 20.000 Prozent würde die Tankfüllung 900 Bolívares kosten lassen; was noch immer weniger ist, als für einen Dollar an der Kolumbianisch-Venezolanischen Grenze bezahlt wird.

Beide Anhebungen, um nur diese zu erwähnen, hätten sofortige Auswirkungen auf die anderen Waren, die ebenfalls entsprechende dreistellige Verteuerungsraten erleiden würden. Würde man die regulierten Preise aufheben, kämen die Produkte wieder zum Vorschein, wären aber so teuer, dass der venezolanische Mindestlohn (2008) von 500 Dollar auf 50 Dollar schrumpfen würde, gemessen am offiziellen Wechselkurs.

Es ist wirklich beeindruckend, wie tief diese Krise geht und wie sehr sich eine kapitalfreundliche Anpassung ankündigt, wenn man die entschiedene Weigerung der Regierung betrachtet, eine echte sozialistische Revolution anzuführen, bei der der Ausbeuterklasse wirklich die politische und ökonomische Macht entzogen wird. Wenn diese Tür geschlossen bleibt, kündigt sich eine Strukturanpassung als schlimmster Alptraum unser jungen Republik an. Die Linke, verloren in ihrem populistisch-klientelistischem Labyrinth, zeigt sich als eine unkritische Statistin des "Progressivismus". Sie ist heute so am Boden und handlungsunfähig wie nie. Ohne stabile Organisationen und mit den schwachsinnigsten Verwörungsideologien bewaffnet, ist es schwierig geworden, nicht eine wirkliche und strukturelle Niederlage der Arbeiterbewegung kommen zu sehen.


Manuel Sutherland aus Venezuela ist Mitarbeiter des Zentrum für Forschung und Arbeiterbildung (CIFO) und der lateinamerikanischen Vereinigung für marxistische Ökonomie (Alem)

  • 1. Unter diesem Begriff werden in Lateinamerika verschiedene Politikkonzepte verstanden, die Ideen der Ökologiebewegung, des Anti-Imperialismus, Nationalismus und des Marxismus umfassen können. M. Sutherland benutzt den Begriff im Sinne einer sozialdemokratischen Umverteilungspolitik
  • 2. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl 2012 können hier eingesehen werden
  • 3. Parlaments- und Präsidentschaftswahl sind nicht ganz vergleichbar. Unter Bedingungen extremer Polarisierung kann ein Abgleich jedoch bestimmte punktuelle Verhaltensweisen widerspiegeln
  • 4. Daten aus der Tabelle, die Javier Biardeau in seinem Artikel 6-D: Fin del "Pote Humo". No es momento para felicitadores ni jalabolas vom 8. Dezember 2015 veröffentlichte
  • 5. Beides im Vergleich zu den Wahlen 2013
  • 6. Dito
  • 7. Martínez, Eugenio Resultados del 6D arrojaron aumento de votos nulos, 8. Dezember 2015, hier zu lesen
  • 8. Ebenda
  • 9. Pérez, Irving, Votos nulos pudieron cambiar los resultados electorales en algunos circuitos,13. Dezember 2015. Hier zu lesen
  • 10. Abgeordnete des Bundesstaates Aragua für die Nationalversammlung. Hier zu lesen
  • 11. Abgeordnete oder Abgeordneter der indigenen Vertretung der Östlichen Region für die Nationalversammlung. Offizielle Webseite des Wahlrates CNE
  • 12. Ansprache von Präsident Nicolás Maduro in der Nacht vom 7. Dezember 2015 . Videoaufzeichnung hier zu sehen
  • 13. Über diesen Link zum Internetportal Contrapunto sind drei kritische Artikel zur Ideologie des Wirtschaftskrieges zu finden
  • 14. Bachaqueo ist eine eine venezolanische Wortschöpfung und bezeichnet den Handel mit staatlich subventionierten Gütern des täglichen Bedarfs auf dem Schwarzmarkt zu überhöhten Preisen
  • 15. Marktzins liegt unterhalb der Inflationsrate
  • 16. Banco Central de Venezuela. Base Monetaria. Bis 2015 hier zu sehen
  • 17. Volksaufstand vom 27. und 28. Februar 1989 gegen neoliberale Maßnahmen der Regierung Carlos Andrés Pérez, die von Armee und Polizei blutig unterdrückt worden war, mit dem Saldo von mehreren tausend Toten und Verschwundenen