Nicht mal Epidemien werden in Brasilien gleich verteilt. Das Zika-Virus hat ein Gesicht, das es besser repräsentiert, als das von dem gestreiften Insekt mit den langen Beinen. Es ist das Gesicht der Frauen aus armen Regionen, die wegen der möglichen Mikrozephalie ihrer Kinder leiden. "Die Verteilung des Zikas hängt von Gender, Klasse und Rasse ab", sagte die brasilianische Anthropologin Debora Diniz.
Debora Diniz ist Professorin an der Universität Brasília und Forscherin und Aktivistin in der Nichtregierungsorganisation Anis – Instituto Bioética. Gemeinsam mit einer Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten der Anis, führte Diniz Forschungen und Aktionen durch um die Grundrechte der Frauen, die von der Epidemie betroffen werden, zu gewährleisten. Im Jahr 2012 hat die Gruppe dem Bundesverfassungsgericht Brasiliens (STF) einen Antrag für die Legalisierung der Abtreibung im Fall von Anenzephalie gestellt. Damals waren die Aktivistinnen erfolgreich. Jetzt wollen sie auch Erfolg mit einem neuen Antrag für Mikrozephaliefälle haben. Aber dieses Mal geht es nicht nur um das Recht zum Schwangerschaftsabbruch. "Es handelt sich nicht nur um Abtreibung, sondern auch um Zugang zu richtigen und hilfreichen Informationen und zum nötigen Gesundheitsservice, besonders für Frauen aus den unteren Schichten", erklärte Diniz.
Um das Thema der Öffentlichkeit näher zu bringen, haben die Aktivistinnen den kurzen Dokumentarfilm "Zika" produziert , der die Geschichte der Epidemie aus der Perspektive der Frauen erzählt. Der Film versucht die realen Opfer des Virus dem Publikum vorzustellen, das mehr an Moskitos als an die betroffenen Frauen denkt.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums vom 18. Mai 2016 wurden 1.384 Fälle von Mikrozephalie bestätigt. Die Mehrheit der Fälle wurden im Nordosten Brasiliens registriert. Dort sind bereits 1.233 Babys mit dem Syndrom auf die Welt gekommen. Frauen aus diesen Regionen sind die Hauptopfer des Zika-Virus. Sie werden vom Staat verlassen, der sie einfach darum bittet nicht schwanger zu werden; von der Kirche, die Abtreibung und Verhütungsmittel verdammt; und von der Justiz, die Abtreibung kriminalisiert. Außerdem werden sie auch oft von ihren Partnern verlassen, wenn die Mikrozephalie ihrer Babys bestätigt wird. Ohne die Entscheidung über ihren Körper haben zu können und ohne die richtigen Bedingungen, um ein Kind mit Mikrozephalie zu erziehen, befinden sich diese Frauen in einer sehr aussichtslosen Situation.
Debora Diniz ist eine der Aktivistinnen, die jetzt in Brasilien dafür kämpfen, die Lage dieser Frauen und ihrer Familien zu verbessern.
Aus welche Grundsätzen besteht der Antrag, den Sie dem Bundesverfassungsgericht stellen wollen und was sind die Unterschiede zu dem von 2012?
Debora Diniz: In diesem Antrag geht es nicht nur um den Schwangerschaftsabbruch im Fall von Mikrozephalie des Fötus, sondern um den Schutz der Grundrechte der Frauen, besonders der armen Frauen. Ein Großteil der Kinder mit dem Zika-Syndrom sind in vier brasilianischen Bundesländern, alle vier im Nordosten1, geboren worden. Wir sind mit einer ernsten Epidemie konfrontiert, die Folgen für hilflose arme Frauen und Frauen aus ländlichen Gegenden hat. Diese Frauen haben kaum Zugang zu öffentlichen Gemeinschaftspraxen2 und Verkehrsmitteln.
Der Antrag umfasst fünf wichtige Punkte, die gemeinsam mit dem Nationalen Verband der amtlichen Pflichtverteidiger (Associação Nacional dos Defensores Públicos, Anadep) entwickelt wurden. Zuerst wollen wir breiteren und uneingeschränkten Zugang zu Informationen schaffen. Frauen, die im fortpflanzungsfähigen Alter sind, müssen über die Epidemie und ihre Risiken informiert werden. Zweitens müssen diese Frauen breiteren Zugang zu Informationen über Familienplanung und umkehrbare Langzeitverhütungsmethoden bekommen. Außerdem zu Methoden wie zum Beispiel Insektenspray, das das einzige Schutzmittel für Frauen ist, die schwanger werden wollen. Die dritte Forderung ist die nach legalem und sicherem Schwangerschaftsabbruch, wenn die Frau dies wünscht. Wenn sie sich nach der Diagnose der Mikrozephalie unsicher und ängstlich fühlt, soll sie die Möglichkeit haben, eine sichere Abtreibung zu haben.
Es geht nicht nur um das Recht zur Abtreibung im Fall von Mikrozephalie des Fötus, sondern um schwangere Frauen, die sich mit Zika angesteckt haben und wegen eines starken emotionalen Leidens die Schwangerschaft nicht fortsetzen wollen. Viertens wollen wir, dass mit Zika diagnostizierte Schwangere Zugang zum Gesundheitsservice in ihren Nähe haben. Dieser sollte maximal 50 km entfernt von ihren Wohnungen sein. Und schließlich sollen alle Frauen, die sich entschieden haben, das Baby mit einem Zika-Syndrom zu haben, eine Sozialhilfe in Form einer finanzielle Unterstützung bekommen, ohne Einkommensbegrenzung. Diese Sozialhilfe existiert schon, aber nur für ganz arme Familien. Wir wollen es für alle Familien schaffen, egal wie hoch ihr Einkommen ist.
Das wäre dann nicht nur eine Aktion für die Legalisierung der Abtreibung, sondern auch um die Rechte auf mentale Gesundheit und den Wohlstand der Frauen zu gewährleisten...
Genau! Und das ist sehr wichtig zu verstehen. Unsere Aktion ist mehr für das Recht zur Familienplanung und zum Mutterschutz und Kinderschutz als für das Recht auf Abtreibung. Wenn wir über Familienplanung sprechen, müssen wir auch über Verhütungsmethoden, Abtreibung und Erziehung sprechen.
Verbreitung von Informationen - vor allem richtiger - ist extrem wichtig im Fall einer Epidemie wie Zika. Die wenigen, die im Moment über das Virus entdeckt wurden, werden selten an die Bevölkerung weitergeleitet. Wie kann man den Zugang zu Informationen über das Virus und die Dialoge mit den betroffenen Frauen verbessern?
Zuerst müssen wir wieder über die Epidemie sprechen. Heutzutage wird wegen der politischen Situation in Brasilien nicht mehr oft über die Epidemie gesprochen. Wir müssen anfangen, über ein Syndrom zu sprechen, und nicht nur über Mikrozephalie.
Es ist ein neurologisches Syndrom und Mikrozephalie ist nur eines der Anzeichen. Zweitens müssen wir die Diskussion um Zika bewerten. Natürlich ist es wichtig die Moskitos zu beseitigen, aber wir müssen auch über die Pflege der Hauptopfer der Epidemie reden. Die Genderverteilung von Zika bringt viele Themen in die Diskussion, die tabu sind. Wir leben in einem Land, in dem es keinen Aufklärungsunterricht in der Schulen gibt und auch nicht über Gender gesprochen wird! Wir müssen uns mit Themen wie Familienplanung, Abtreibung und Erziehung der Kinder mit dem Syndrom auseinandersetzen. Wir reden noch zu viel über Moskitos und weniger über betroffene Frauen. Frauen und Mädchen im fortpflanzungsfähigen Alter müssen im Zentrum der Debatten über Zika stehen.
Wie reproduziert das Vorkommen des Zika-Virus die Regional- und Klassendiskriminierung in Brasilien und anderen Länder Lateinamerikas, die auch von dem Virus betroffen sind?
Wenn das Virus in einer Region auftaucht, muss es einen Wirt finden, der in dem Fall der Moskito ist. Die Konzentration von Moskitos in bestimmten Regionen hat historische und soziale Hintergründe der sozialen Ungleichheit, wie zum Beispiel, Sanierung, Urbanisierung, Übervölkerung. Wir können sagen, dass eine Epidemie jeden anstecken kann: dich, mich oder Amanda, eine der Frauen in unserem Dokumentarfilm "Zika", aber das stimmt nicht, weil wir nicht in der gleichen Risiko-Zone sind.
Einmal angesteckt sind die Risiken für mein Leben, deines und von Amanda wegen des Zuganges zu Informationen, Gesundheitsservice und sogar zu einer sicheren Abtreibung, auch wenn illegal3 , unterschiedlich. Alles wegen der Klassen-Merkmale. Das sieht man auch in El Salvador und Honduras, andere Länder, in denen Zika sich schnell verbreitet. El Salvador ist das zweite Land in der Anzahl von Zika-Diagnosen und ist auch das Land, in dem hunderte Frauen im Gefängnis wegen Fehlgeburten sind. Die Zika-Epidemie ist mit einem anhaltenden Prozess der Ungleichheit und Unterdrückung von Frauen verbunden. Die soziale und Gender-Ungleichheit gibt es schon länger als die Krankheit, wie zum Beispiel die Kriminalisierung der Abtreibung. Wir können dann sagen, dass die Epidemie die Sozial-, Rassen-, Regional- und Einkommensungleichheit in diesen Ländern widerspiegelt.
Glauben Sie, dass soziale und rassische Faktoren auch eine Rolle in der medialen Thematisierung des Zika-Virus spielen?
Da bin ich mir sicher. Das Gesicht, das uns bewegt ist immer das Gesicht, das man als das unsere erkennt. Das Gesicht der Epidemie ist ein Gesicht, dessen Leid in der Geschichte Brasiliens nie anerkannt wurde. Unsere Sensibilität ist nicht spontan, sondern entspringt der Ungleichheit. Nicht jeder Schmerz wird uns bewegen. Es muss ein naher Schmerz sein. Deswegen war es uns wichtig, unsere Aktion mit einem Film anzufangen. Der Film wirkt auf einer emotionalen Ebene und er erzählt Geschichten, die wir selten hören oder sehen wollen.
Auf der Seite der Gegner der Legalisierung der Abtreibung im Fall von Mikrozephalie wird oft das eugenische Argument benutzt. Wie ist Ihre Meinung über diese Art von Argument?
Die Diskussion um Abtreibung ist eine Diskussion, die unsere Affekte provoziert und uns deswegen verwirren kann. Wir leben in einem Land, in dem Folsäure Teil unserer alltäglichen Ernährung ist 4, sie hilft in der Vorbeugung von Neuralrohrdefekten. Ein schwieriges Wort, das einfach neurale Fehlbildungen des Fötus bedeutet. Es ist eine präventive Methode, die Teil unserer Alltagsernährung ist. Wir raten den Frauen, sie sollen Folsäure essen und nicht rauchen, um Krankheiten des Fötus zu vermeiden. Aber wir sagen nicht, dass es eugenisch ist, richtig? Wir nennen es präventive Maßnahmen. Eugenik ist ein Wort mit einer langen und grausamen Geschichte, die nichts mit dem Kampf der nordöstlichen brasilianischen Frauen für Gleichberechtigung zu tun hat! Eugenik war die Politik eines Vernichtungsstaates! Wir reden hier über Rechte in einer Situation von Epidemie und über einen Staat, der nachlässig zu armen Frauen ist. Wir sprechen über Frauen, die von Zika angesteckt wurden und wegen der Unsicherheit der Epidemie emotional leiden. Außerdem muss man nicht die Themen Frauenrechte und Inklusion von Kindern mit Behinderung trennen. Wir brauchen nicht egoistisch in unseren Kämpfe für Gleichberechtigung zu sein. Unsere Forderungen müssen vielschichtiger werden.
In El Salvador, Kolumbien und Ecuador, wo der Zika-Virus auch eine hohe Zahl von Menschen angesteckt hat, wurde Frauen empfohlen, in den nächsten Jahren nicht schwanger zu werden. Die Regierung von El Salvador hat Frauen offiziell darum gebeten, dass sie bis zum Jahr 2018 versuchen sollten, nicht schwanger zu werden. Wie können eine solche Politik und Mentalität die Debatte um Fortpflanzungsrechte und Freiheit der Frauen in Lateinamerika beeinträchtigen?
Diese Art von Politik und Mentalität sind mit dem eingeschränkten Zugriff auf Informationen und Methoden der Familienplanung verbunden. Außerdem haben wir in Lateinamerika eine Situation, in der das Strafrecht die Fortpflanzung und Familienplanung regeln. Dazu gibt es noch Probleme in der ganzen lateinamerikanischen Region, Frauenrechte und Fortpflanzungsrechte zu thematisieren. Ich glaube, dass es zwei Gründe dafür gibt: Erstens ist es eine sehr patriarchalische Region, in der die Gesellschaft auf Familien, Mutterschaft und Kinder zentriert wird. Zweitens haben christliche Kirchen, wie katholische und evangelische Kirchen, großen Einfluss in der Politik und in der Gesellschaft. Der brasilianische Staat wird immer mehr eine Überlappung von Religion und Politik. Das ist sehr tendenziös für die Frauen und wieder werden die Frauen die Hauptopfer.
Das Interview erschien zuerst am 7. Juni 2016 in der brasilianischen feministischen Online-Zeitschrift Ovelha Mag
- 1. Die vier Bundesländer mit der größten Zahl von Mikrozephalie Diagnosen sind Pernambuco (354), Paraíba (125), Maranhão (117) und Rio Grande do Norte (106). Die Angaben hat das Gesundheitsministerium Brasiliens am 18.05.2016 unter folgendem Link veröffentlicht: http://portalsaude.saude.gov.br/index.php/cidadao/principal/agencia-saude/23753-microcefalia-ministerio-da-saude-confirma-1-384-casos-no-pais
- 2. Öffentliche Gemeinschaftspraxen sind medizinische Versorgungszentren, die sich in bestimmten Bezirken oder Vierteln befinden, in denen manchmal kein Krankenhaus in der Nähe ist. In diesen Praxen muss die medizinische Versorgung kostenlos zur Verfügung stehen
- 3. In Brasilien dürfen Frauen nur in drei Fällen abtreiben: wenn das Baby die Diagnose Anenzephalie hat; wenn die Frau von einer Vergewaltigung schwanger wurde; und wenn die Schwangerschaft ein Risiko für das Leben der Mutter darstellt. In allen anderen Fällen kann eine Frau, die eine illegale Abtreibung vorgenommen hat, bis zu drei Jahre ins Gefängnis kommen. Trotzdem brechen circa 2.000 Frauen jeden Tag ihre Schwangerschaft ab. Wer Geld hat, kann für eine sichere Abtreibung bei illegalen Kliniken oder Artzpraxen bezahlen. Andere Frauen müssen nach fragwürdigeren und gefährlicheren Methoden suchen
- 4. Schwarze Bohnen sind zum Beispiel ein Alltagsgericht der Brasilianer und eine wichtige Folsäure-Quelle