Welche Entwicklungsperspektiven hat Nicaragua?

Das Kanalprojekt ist ein Versuch, auf das Problem der Armut eine Antwort zu finden. Regierung und Bevölkerung sind sich bewusst, dass dieser Ansatz Vorteile und deutliche Risiken birgt

An vielen Stellen können wir lesen, Nicaragua ist in Lateinamerika hinter Haiti das zweitärmste Land. Es ist ein Land, das vor allem Arbeitskräfte exportiert. Etwa eine Million Menschen aus Nicaragua leben und arbeiten im Ausland, um so für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen und eventuell auch noch die Familie zu Hause zu unterstützen. Sie arbeiten in den USA – oft auch als Illegale – oder in Costa Rica, zum Teil auch in Guatemala, vielfach als Erntearbeiter in der Landwirtschaft. Von den 6,8 Millionen Einwohnern des Landes sind nur 700.000 vollzeitbeschäftigt und sozialversichert, viel zu wenige für eine einigermaßen sichere Zukunft der Familien.

Den Begriff der Armut verbinden wir zumeist mit dem Auseinanderfallen der Gesellschaft, mit der Zerstörung der sozialen Strukturen, mit wachsender Kriminalität etc. Dabei gibt es in Nicaragua einige Besonderheiten. Während in den umliegenden "reicheren" Ländern in Mittelamerika der Zahl der absolut armen Menschen relativ hoch geblieben ist, ist die Zahl in Nicaragua trotz schlechterer Voraussetzungen gesunken. Und aus den Nachbarländern, aus El Salvador, Honduras, Mexiko und Guatemala, flüchten immer mehr Kinder und Jugendliche wegen Armut, Kriminalität und Chancenlosigkeit in Richtung USA. Aus dem ärmeren Nicaragua gibt es diese Fluchtbewegung nicht.

In den vergangenen Jahren erreichte Nicaragua eine der höchsten Wirtschaftswachstums-Raten in Lateinamerika. Das jährliche Wachstum von vier bis fünf Prozent pro Jahr entstand vor allem durch die Strategie der sandinistischen Regierung, sich in wichtigen Punkten mit den unternehmerischen Eliten im Land abzustimmen. Gleichzeitig gelang es ihr, die extreme Armut zu senken, von 14 Prozent im Jahre 2009 auf acht Prozent im Jahre 2013. Aber trotz der positiv klingenden Entwicklung ist eine qualitative Verbesserung der Situation im Land laut Jacinto Suarez, dem Verantwortlichen der Sandinisten für internationale Beziehungen, kaum erreichbar: "Die meisten Ökonomen sagen, Nicaragua muss ein Wachstum von neun Prozent pro Jahr über zehn Jahre erreichen, um der Armut zu entkommen" (wie es in Südkorea, Japan, Taiwan und China der Fall war), erklärte er gegenüber einer Delegation des Nicaragua Network. Eine solche Entwicklung ist für das kleine Nicaragua aus eigener Kraft nicht möglich. Das Kanal-Projekt könnte die Chance dafür bieten.

Der geplante Kanal

Insgesamt ist der geplante Kanal ein gewaltiges Projekt: Von anfänglich sechs zu prüfenden Routen wurde nach Voruntersuchungen die Route 4 als die geeignetste Variante für das 50 Milliarden Euro teure Projekt ausgewählt. Sie beginnt an der Mündung des Flusses Brito, südlich der Stadt Rivas, führt durch den Nicaraguasee und endet an der Mündung des Rio Punta Gorda in der autonomen südkaribischen Region. Die Route ist 278 Kilometer lang, 105 Kilometer davon führen durch den Nicaraguasee. Zwei Hafenanlagen mit Tiefseehäfen sollen gebaut werden, eine am Fluss Brito und eine Nahe der Mündung des Punta Gorda Flusses. Begleitend zum Kanalbau sollen an mehreren Stellen Weltmarktfabriken und Tourismus-Projekte errichtet werden. Beim Bau des Kanals soll parallel dazu gleichzeitig auch eine Pipeline mit vergraben werden. Und zusätzlich soll ein weiterer internationaler Flughafen im Kanalgebiet bei Rivas (Westküste) errichtet werden.

Laut ersten Konkretisierungen sollen durch den Kanal direkt etwa 50.000 Arbeitsplätze geschaffen werden - 12.500 für chinesische Staatsbürger, 12.500 für andere internationale Arbeitskräfte und 25.000 für Nicaraguaner. Laut Domingo Perez, dem Generalsekretär der Gewerkschaft für den Öffentlichen Dienst in Nicaragua (UNE), der sich zusammen mit anderen Gewerkschaftsvertretern mit dem chinesischen Unternehmen HKND getroffen hatte, hat die Kanalbaugesellschaft zugesagt, die nicaraguanischen Arbeitskräfte für die notwendigen Tätigkeiten auszubilden. "Wir sind nicht sicher, welche Tätigkeiten dies in dem öffentlichen und privaten Sektor sein werden, welche Möglichkeiten für uns entstehen. Wir müssen an der Erhebung der Daten arbeiten, um zu sehen, welches Rekrutierungs-Potential wir haben".

Auch wenn bisher die Arbeitsfelder der zukünftig Beschäftigten noch nicht geklärt sind, beginnen doch die ersten Vorbereitungen: Im Oktober 2014 kündigte Telémaco Talavera die Absicht an, einen besseren akademischen Rahmen für die Berufsausbildung zu schaffen. Laut den ersten Schätzungen sollen 98 Kurse für die Weiterbildung eingerichtet werden; 70 Studiengänge für Diplome; sieben für technische Leitung; 14 für Bachelor-Studien; 55 Spezialisierungen, 62 Meister-Ausbildungen und neun Promotionen.

Kein ökologisches Himmelreich

Paul Oquist, der Sekretär des Präsidenten, argumentiert, dass Nicaragua kein ökologisches Paradies sei. Jährlich würden etwa 70.000 Hektar abgeholzt und nur 15.000 Hektar wieder aufgeforstet. Die Steuereinnahmen aus dem Kanal könnten in Zukunft auch dafür verwendet werden, die Abholzung und die Auswirkungen des Klimawandels zu verringern. So könnte der Kanal eine bedeutende Rolle bei der Wiederaufforstung Nicaraguas spielen. Camilo Lara (vom Recycling Forum Nicaraguas) warnte davor, dass sich ohne den Kanal die Situation der Umwelt dramatisch verschlechtern werde, da die Bevölkerungszahl weiter steige. Ein wichtiges Argument für den positiven Effekt ist, dass die Funktionsfähigkeit des Kanals stark von einer aktiven Verbesserung der Umweltsituation und der Naturschutzpolitik abhängt. Der stetige Wasserzufluss für den geplanten Stausee, durch den die Versorgung des Kanals mit ausreichend Wasser garantiert und eine effiziente Nutzung sichergestellt werden soll, hängen u.a. von einer aktiven Aufforstung in diesem Gebiet ab.

In der Geschichte Nicaraguas taucht immer wieder der Traum von einem Kanal auf. Während des Goldrauschs im Westen der USA und dem damals günstigen Personen-Transport durch Nicaragua, zu Zeiten von Napoleon III. vor mehr als 150 Jahren, vor dem Bau des Panama-Kanals und vor vielen Wahlen in Nicaragua, immer wieder wurde die Hoffnung auf einen Kanal genährt. Aus eigener Kraft wäre ein solches Projekt für das Land aber nicht möglich. Wie eng die wirtschaftlichen Möglichkeiten des mittelamerikanischen Landes sind, zeigt sich alleine an der fehlenden Straßenverbindung zwischen der Pazifikregion und der Karibikküste. So müssen z.B. viele Container-Transporte nach Europa über Honduras oder Costa Rica verschifft werden, weil es an Nicaraguas Ostküste keinen Tiefseehafen gibt und weil es gar nicht möglich ist, Container entsprechend durch das Land zu transportieren. Es fehlt schlicht die geeignete Straße und das notwendige Geld für den Bau.

Kein Wunder also, dass die sandinistische Regierung auch für Machbarkeitsstudien, Umweltgutachten etc. ungewöhnliche Wege gehen musste. Nur dadurch, dass der Investor diese Ausgaben mit übernahm, war es erst möglich, entsprechende Gutachten in Auftrag zu geben.

Unsicherheit von Anwohnern

Natürlich führt ein solches Mega-Projekt zu Unruhe in den Gemeinden, die an der geplanten Kanalstrecke liegen. Wer ist betroffen, welche Auswirkungen wird der Kanalbau haben, gibt es wertentsprechende Entschädigungen? Viele offene Fragen konnte die Regierung während der Untersuchung der verschiedenen Varianten nicht angemessen schnell beantworten, es mangelte an der notwendigen Kommunikation. Und deshalb war es kein Wunder, dass sich oppositionelle Kräfte diese Widersprüche zu Nutze machten, darauf hofften, zumindest regional die hohe Zustimmung zur Regierungspolitik der Sandinisten umkehren zu können.

Während der Proteste zum Jahreswechsel 2014/15 war vielfach von Landraub der Chinesen und von bevorstehenden bewaffneten Konflikten die Rede. Beim Aufenthalt vor Ort gewinnt man aber derzeit eher den Eindruck, dass der Kanal auch nur ein weiteres Mittel ist, mit dem politische Gegner der Sandinisten versuchen, Leute für sich zu gewinnen. Die in Presseberichten vielfach beschriebenen Protestaktionen sind zumindest teilweise organisiert vom Nationalen Komitee für die Verteidigung von Land, See und Souveränität. Die nicaraguanische NichtregierungsorganisationCinco spricht von etwa 80.000 Menschen, die umgesiedelt werden sollen, die Kanalbaugesellschaft von 29.000. Der Sprecher der Kanal-Kommission, Telemaco Talavera, erklärte im Januar 2015, dass die Fläche, die für den Kanal benötigt werde, von 675 Quadratmeilen auf 323 Quadratmeilen reduziert werden konnte.

Unklar war lange Zeit, wie sich indigene Gemeinschaften an der Atlantikküste zum Kanalbau und der notwendigen Nutzung ihres Landes verhalten werden. Nach zwei Jahren Verhandlungen konnte die Kanalkommission mit der Rama-Kriol Territorialregierung (GTRK) ein Abkommen über die Pacht von 263 km2 Land unterzeichnen, das für den Bau des geplanten interozeanischen Schiffskanals benötigt wird. Der Kanal wurde dabei als Chance betrachtet, um den Lebensstandard in den Gemeinden zu verbessern. Der Schutz der Kultur, von Traditionen der Vorfahren, der Erhalt archäologischer und heiliger Stätten wurde in der Vereinbarung zugesagt. Andere Mitglieder der Rama- und Kriol-Gemeinschaften protestierten jedoch gegen das Abkommen und erklärten, es sei kein Konsens erreicht worden. Sie wollen sich zur Unterstützung ihrer Position an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte wenden.

Zustimmung und Erwartung

Obwohl die Kommunikation der Regierung zum Kanalprojekt immer noch verbessert werden könnte, befürwortet eine deutliche Mehrheit den Bau. Nur etwas weniger als 25 Prozent der befragten Bevölkerung erwarten keine Vorteile aus dem Kanalprojekt für das Land. Auch in den direkt betroffenen Gebieten gibt es keine einhellige Ablehnung des Kanals, den meisten Menschen sind hier die direkten Maßnahmen, Fragen nach der angemessenen Entschädigung, nach möglichen neuen Siedlungsgebieten und besseren Lebensbedingungen besonders wichtig.

Die Kanalbaugesellschaft HKND hat bisher versprochen, dass sie mit dem internationalen Projekt offen und transparent umgehen werde. Ob dieser Anspruch realisiert werden kann, ist heute noch nicht absehbar. Die Aktivitäten von nicaraguanischen Umweltorganisationen bestehen bisher vor allem darin, von Regierung und HKND immer schon konkrete Antworten einzufordern, bevor die Ergebnisse von Gutachten, Untersuchungen und Planungen überhaupt vorliegen. Als Folgen der von Environmental Resources Management (ERM) erstellten Grundstudie zum Kanal werden aktuell weitere Gutachten zu Auswirkungen des Kanals auf Gesellschaft und Umwelt, eine geologische Studie etc. erarbeitet. Diese könnten auch die Basis für eine differenziertere öffentliche Auseinandersetzung mit konkreten Fragestellungen entlang des Streckenverlaufs darstellen.

Entwicklungsziele

Das Kanalprojekt ist ein ernsthafter Versuch, auf die Problemstellung der Armut und der fehlenden sozialen Sicherheit vieler Menschen eine Antwort zu finden. Natürlich ist sich die Regierung und sind sich die Menschen im Land dabei bewusst, dass dieser Ansatz mögliche Vorteile und deutliche Risiken birgt. Für die Chance auf einen Arbeitsplatz im eigenen Land sind sie auch bereit, gewisse Gefahren einzugehen. Auf der anderen Seite verwundert es auch nicht, dass die international wahrnehmbaren Stimmen gegen den Kanal eher aus der gut vernetzten und abgesicherten Mittel- und Oberschicht Nicaraguas kommen, die sich auch sonst als Gegner der Regierung sehen. Es zeichnet sich inzwischen zwar ab, dass die Meinungsbildung zum Kanal im Land etwas differenzierter wird, aber bisher ist nicht erkennbar, dass die Mehrheit den Kanal ernsthaft in Frage stellen will.

Für die meisten Menschen sind es eher die Alltagsrealitäten, die Wünsche und Ziele vorgeben. Alleine zwischen 2015 und 2020 werden aufgrund der hohen Zahl an Jugendlichen im Land voraussichtlich 353.200 Nicaraguaner zusätzlich auf den Arbeitsmarkt drängen. Arturo Cruz, der frühere Botschafter Nicaraguas in den USA und Professor an der INCAE Wirtschafthochschule meinte, "wenn man bedenkt, dass die Armut die Menschen immer weiter dazu treibt, ihre landwirtschaftlichen Flächen in Nicaraguas Regenwald hinein auszudehnen, dann meine ich, dass die Armut des Landes ein größeres Problem darstellt als die Sorgen wegen der Umweltproblematik. Wenn wir es im Land in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht schaffen, mit oder ohne Kanal ein wohlhabenderes Land zu bekommen, dann werden wir vor schwerwiegenden Umweltschäden stehen."

Rudi Kurz, Nicaragua-Forum Heidelberg

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