Brasilien / Politik

Brasilien nach dem Putsch

Hypothesen zu den Ursachen des Putsches, zu möglichen Entwicklungen im Land und den Aufgaben der linken Kräfte

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Demonstration gegen die Regierung Temer in São Paulo am 7.September
Demonstration gegen die Regierung Temer in São Paulo am 7.September

Jede große Niederlage sorgt für Bestürzung. Aber bestimmte Aspekte haben in den langen Monaten, die sich der Putsch in Brasilien hingezogen hat, das Gefühl der Ohnmacht verstärkt. Wie konnten ein degradiertes Parlament, rückständige Medien und dekadente Unternehmen siegen? Wohin ist das lange Bemühen des Mahnens und wohin ist das Bewusstsein von den Miseren der Diktatur nach 1964 verschwunden? Warum hat eine Gesellschaft, die sich in so vielen Prozessen der Selbstveränderung befindet, vor Abgeordneten und Senatoren kapituliert, deren moralische und intellektuelle Schwäche wiederholt deutlich wurde?

Und was kommt jetzt? Eine dunkle Phase des Rückschritts und des Terrors, wie die, die 1964 einsetzte? Die sofortige Zerstörung der Errungenschaften, die seit der Verfassung von 1988 mühsam erreicht wurden? Die Verhaftung von Lula? Die Aussetzung der Wahlen 2018 und die Konsolidierung des Putschs? Der radikale Zerfall der Träume, die 2013 von vielen geschmiedet wurden – und das frühzeitige Aus der Pläne für eine auf die Gemeinschaft ausgerichtete Gesellschaft?

Die folgenden Annahmen sind zugegebenermaßen heikel: Sie wurden im Tumult und der Erschütterung der letzten Tage aufgestellt, als sich das anbahnte, was einige nicht zu Unrecht als die letzten Atemzüge der Neuen Republik betrachten. Unsere Annahmen möchten den Putsch jedoch von einer seiner größten Stärken entzaubern, nämlich der Aura einer mysteriösen Macht, die dank der Unsicherheit in unseren öffentlichen Debatten errichtet wurde – sowohl in den alten Medien sowie bei jenen, die sich weigern, die Grenzen und Widersprüche der heute gewaltsam niedergeschlagenen Pläne von Lula zu sehen.

Der Putsch war nicht nur ein Komplott hinter den Kulissen. Ein besonderes Aufeinandertreffen von Faktoren hat ermöglicht, dass die Gesellschaft in ihrem Henker Hoffnung sah. Die Regierung Temer wird sich immer mehr abwirtschaften, aber es wird nicht möglich sein, sie mit "Raus"-Rufen niederzuschlagen! Die Unterdrücker und die Mitläufer moralisch zu beschuldigen, mag für den Einzelnen mobilisierend sein, ist aber vergeblich. Die Demontage des Putsches und darüber hinaus die Neuformulierung der Pläne für soziale Kritik und soziale Veränderung werden eine große Anstrengung erfordern, um die Schwächen, die zur Niederlage geführt haben, zu verstehen und Wege zu finden, sie umzukehren. Hoffentlich leisten folgende Annahmen einen Beitrag dazu.

I. Das Ende der Neuen Republik kann der Neuanfang der großen Debatten sein

Vielleicht ist es zu früh zu behaupten, wie es als Vorreiter die Politikwissenschaftler Leonardo Avritzer und Marcos Nobre getan haben, dass die Amtsenthebung von Dilma Rousseff das "Ende der Neuen Republik" markiert. Turbulente Zeiten sind durch Umbrüche gekennzeichnet; die brasilianische Konjunktur wird in den nächsten Jahren eine Tendenz zu großer Instabilität haben; und ein vorheriger Versuch, den Pakt, der durch den ausgehandelten Fall der Diktatur unterzeichnet wurde, zu brechen (mit Collor de Mello 1, wurde gleich zu Beginn aufgehoben. Dennoch entspricht die Definition von Avritzer Nobre präzise der Bewegung, die zum Putsch geführt hat.

Die konservativen Klassen haben die durch die Wahl von Tancredo-Sarney2 eingefädelte Versöhnung gebrochen. Sie hatten den Weg für zivilisatorische Fortschritte und die Anerkennung sozialer Rechte eröffnet, wie sie in den Kämpfen gegen die Pläne der Militärs gefordert wurden und dann in der verfassungsgebenden Versammlung von 1988 verankert wurden. Gleichzeitig behielt sie im Wesentlichen die Privilegien, die Ungleichheit und die strukturelle Rückständigkeit Brasiliens bei: die koloniale Konzentration von Vermögen, Land und Einkommen; die Segregation in den Städten; die exportorientierte Ausrichtung, verstärkt durch die Ausbeutung der Natur; die politische Macht, die die direkten Wahlen nur formell anerkennt, zumal eine ständig von den Eliten kontrollierte Legislative als große Privilegienhüterin agiert.

Die konservativen Klassen haben den Pakt vor allem aus zwei Gründen gebrochen. Ihre steinzeitlichen Vorurteile erlauben ihnen nicht zu verstehen, dass das von der Politik Lulas vorgeschlagene Abkommen eine seltene Möglichkeit bot, langfristig einen Status quo aufrecht zu erhalten, der für sie äußerst günstig ist. Darin erwiesen sie sich als weitaus rückständiger nicht nur als die europäische Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch als die südafrikanischen Weißen in der Zeit nach Mandela.

Aber die Analyse der Gründe, die zum Putsch geführt haben, wäre falsch, wenn sie nicht auch das widrige internationale Szenarium einbeziehen würde. Seit 2008 findet auf politischer und geopolitischer Ebene der Versuch einer konservativen Erneuerung statt. Es gibt Bestrebungen, neoliberale Gedanken durchzusetzen (die noch im ersten Jahrzehnt bekämpft wurden) und die Hegemonie der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union wiederherzustellen (die durch den Aufstieg Chinas, die Neupositionierung Russlands und, bis vor kurzem, durch das teilweise Aufbegehren Südamerikas zerfressen wurde).

Dieser äußerst aggressive Versuch einer Erneuerung erkennt die früher durch die Demokratie, durch die Menschenrechte und selbst die durch die humanitären Werte gesetzten Grenzen nicht an. Sie hatte in Südamerika die hinreichend belegte nordamerikanische Unterstützung der Staatsstreiche in Honduras und Paraguay zur Folge. Sie schließt eine allgemeine Überwachung über das Internet, Aufhebung seines Widerstandspotenzials, unerbittliche Verfolgung derer, die dieses Potenzial vermehren wollten (wie Julian Assange, Aron Schwarz, Edward Snowden oder Chelsea Manning), ein. Sie beinhaltet die Unterstützung Washingtons von Regierungen mit einer aktiven Präsenz von offen nationalsozialistischen Parteien (wie in der Ukraine), sofern sie bereit sind, vermeintlichen "Feinden" wie Russland entgegenzutreten. Sie umfasst die Zerstörung von Nationalstaaten und die Schaffung von chaotischen Szenarien in Ländern wie dem Irak, Pakistan, Libyen, dem Jemen und Syrien.

Jeder Versuch, den brasilianischen Putsch zu verstehen, ohne diesen externen Faktor zu berücksichtigen, wäre vergeblich und kontraproduktiv. Ohne diesen ist es auch nicht möglich nachzuvollziehen, dass die New York Times und Le Monde rhetorisch die Absetzung Dilmas verurteilen, aber die Finanzmärkte, die "internationalen Investoren" und die Agenturen für Risikobewertung sie feiern.

Noch wichtiger ist: Es würde uns eine riesengroße Chance entgehen, wenn wir die internationalen Ursachen, die den Putsch vorangetrieben haben, nicht sehen würden. Die globale konservative Offensive ist extrem verletzlich. Sie hat die alten demokratischen Institutionen zu einer Marionette gemacht. Sie hat in der ganzen Welt den Wunsch geweckt, das Konzept der Repräsentanz graduell zu überwinden und die Demokratie neu zu erfinden. Also bedeutet den Putsch zu überwinden nicht, Dilma wieder einzusetzen, sondern mit dem Finger auf den Kongress zu zeigen und für einen umfassenden Plan politischer Reformen zu kämpfen. Sind wir dazu bereit?

II. Ungeachtet seiner historischen Bedeutung scheint sich das System Lula überlebt zu haben

Auf den ersten Blick mag es unangebracht, wenn nicht gar grausam wirken, sich mit den Schwächen des Systems Lula, des sogenannten Lulismus zu befassen, noch während dieser von einer elitären Verschwörerbande aus der Regierung vertrieben wird und Luiz Inácio Lula da Silva mit juristischen Winkelzügen ins Gefängnis gebracht werden soll. Der Eindruck trügt. Zum einen ist Kritik die höchste Form der Anerkennung, die man einem Transformationsprozess zollen kann, dem man intellektuell oder emotional verbunden ist. Wer Fehler aufzeigt und zu überwinden sucht trägt dazu bei, dass Prozesse sich nicht einfach verlaufen und verloren gehen. Der Staffelstab wird weitergegeben; im notwendigen Neufang, der einst selbst Gegenstand der Kritik werden wird, entsteht der Prozess von Neuem. Zum anderen muss eine dialektische Betrachtung des Putsches über eine bloße Elitenschelte hinausgehen. Schließlich versuchen Eliten immer wieder, Regierungen zu stürzen, die ihre Vorherrschaft bedrohen. Es gilt demnach zu erkunden, warum ihnen das im konkreten Fall gelungen ist, welche Schwächen sie dabei ausgenutzt haben, was zu tun ist, um so etwas in Zukunft zu verhindern.

Da eine Bilanz des Lulismus den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, sollen hier nur zwei seiner Wesenszüge aufgezeigt werden. Zum einen hat der Lulismus sich strukturellen Reformen verweigert und sich bemüht, die unteren Einkommensschichten in die bestehenden Verhältnisse zu integrieren, um auch sie vom Status Quo profitieren zu lassen. Zum anderen hat das System Lula – ungeachtet neuer und effizienter Formen der Mobilisierung an der Basis – auf politische Absprachen gesetzt und das politische Geschäft nach alter Manier von oben herab betrieben.

Beide Themen wurden mit Bedacht ausgewählt: Eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen erlaubt direkte Rückschlüsse auf die Verletzlichkeit unseres Landes und zeigt auf, wie man den mit dem Putsch einhergehenden Bedrohungen widerstehen kann. Auf mittlere und lange Sicht zeichnet sich in dieser Kritik ab, wie ein neues Projekt zur Überwindung des Kapitalismus aussehen könnte.

Das Ausbleiben struktureller Reformen ist nicht auf den Lulismus beschränkt. Vielmehr handelt es sich um einen Wesenszug der neoliberalen Ordnung: Regierungen haben sich ihrem Programm bedingungslos zu unterwerfen. Bemäntelt wird dieser totalitäre Zug mit dem scheinbaren Wechsel von Regierungen. Der Abbau sozialer Rechte wurde in Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien und Portugal von "sozialistischen" Parteien vollzogen. Anderenorts oblag es Konservativen wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher, die Reformen einzuleiten, die dann von scheinbar linken Regierungen unter Bill Clinton und Tony Blair unbekümmert fortgeführt wurden. Auf geopolitischer Ebene ist die Verwischung der Gegensätze noch beeindruckender: Um die Jahrtausendwende war Blair der engste Verbündete von Georg W. Bush bei dem Versuch, eine imperiale Weltordnung zu errichten, die selbst die Vereinten Nationen missachtete. Mit seinen Plänen, ganze Nationalstaaten im Namen des Kriegs gegen den Terror zu zerstören, übertrifft François Hollande, der "sozialistische" Staatspräsident Frankreich, heute nicht selten Barack Obama.

Angesichts dieses Verwüstungsszenarios, das in Brasilien nur selten bewusst zur Kenntnis genommen wird, kommt man nicht umhin, dem Lulismus eine gewisse Kühnheit zu bescheinigen: Die zugegebenermaßen zaghafte Umverteilung von Einkommen durch das Familiengeld, die Ausweitung der Altersvorsorge und der reale Anstieg des Mindestlohns setzten ein Zeichen gegen die weltweit zunehmende soziale Spaltung. In der Außenpolitik wandte sich Brasilien Südamerika und den Schwellenländern zu, brach mit der reflexhaften Unterwürfigkeit gegenüber den USA und förderte die Einheit der Gruppe der Brics-Staaten, der wahrscheinlich bedeutendsten geopolitischen Neuentwicklung der letzten Jahrzehnte.

Bei aller Entschlossenheit, die der Unrast und Schaffenskraft der Person Lulas entspricht, blieben die Reformen aus, die unerlässlich sind, wenn Veränderungen von Dauer sein sollen. Die Macht der Eliten blieb unangetastet: die Kontrolle der Banken über die öffentlichen Gelder, das strukturell korrupte und völlig überholte politische System, die Herrschaft einer archaischen Oligarchie über die Massenmedien, die Haushalte von Bund, Bundesstaaten und Kommunen als Selbstbedienungsläden der Bauwirtschaft, die Bequemlichkeit und Trägheit einer dekadenten Unternehmerschaft, das Ausbleiben einer zielgerichteten Re-Industrialisierung, das industrielle Landwirtschaftsmodell mit seinen verheerenden Folgen für Gesellschaft und Umwelt – die Untätigkeit in all diesen Bereichen brachte den Lulismus in Bedrängnis und verurteilte ihn zum Scheitern.

Im Jahr 2013, als der alte Konsens aufgekündigt wurde, ein Teil der Öffentlichkeit aufbegehrte und eine Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen forderte, war der Lulismus weder fähig noch willens, in die soziale und urbane Infrastruktur zu investieren. Als sich die internationale Krise 2014 verschärfte, war der Lulismus längst zur Geisel einer Wirtschaftselite geworden, die ohne jede Gegenleistung Steuerbefreiungen einstrich. Als die Lage 2015 immer aussichtsloser wurde und das Amtsenthebungsverfahren vom Zaun gebrochen wurde, war der Lulismus zur Tatenlosigkeit verdammt: auf der einen Seite die Medien, die alles daran setzten, ihn zur Strecke zu bringen, auf der anderen die traditionelle Anhängerschaft, die sich wegen der Sparmaßnahmen von der Regierung Rousseff verraten und verkauft fühlte

Diese Schwäche, dieses Versagen gilt es zu verstehen. Damit sollte man nicht warten, bis sich die Kraft der Putschisten erschöpft hat und die Linke wieder an die Regierung kommt. Ab sofort gilt es zu tun, was in Vergessenheit geraten ist: Wir müssen wieder nachdenken über die Strukturen unseres Landes und darüber, wie wir sie verändern können. Eine neue Kultur der Linken muss sich erneut der aufregenden Aufgabe stellen, eine gemeinsame Zukunft zu entwerfen. Denn das ist während der vergangenen 13 Jahre – bei all dem Pragmatismus, den Rechenexempeln in Wahlkampfzeiten und den Absprachen hinter verschlossenen Türen – eindeutig zu kurz gekommen.

Es ist an der Zeit, wieder ungewöhnliche Fragen zu stellen. Wie schafft man ein hochwertiges, postindustrielles Bildungssystem, mit dem die brasilianische Bevölkerung auf die Produktion immaterieller Güter vorbereitet wird? Wie kann man die soziale Spaltung in den Städten überwinden und sicherstellen, dass auch Wohngebiete am Stadtrand erschlossen, an die Kanalisation und das Verkehrsnetz angebunden werden? Wie können wir das öffentliche Gesundheitssystem reformieren, dabei die flächendeckende Gesundheitsversorgung und die großen Fortschritte im Bereich Prävention beibehalten und die Versorgung in Krankenhäusern verbessern, statt weiterhin private Zusatzversicherungen zu subventionieren? Wie schaffen wir es, unsere Energiewirtschaft umzubauen, den enormen Rückstand bei den sauberen Energieträgern aufzuholen und die dezentrale Erzeugung zu fördern? Wie schützen wir das Amazonasgebiet und seine 30 Millionen Einwohner, die dort im Einklang mit der Natur leben? Wie kann unser Steuersystem zur Umverteilung von Einkommen beitragen, Privilegien abbauen und ein Land für Alle erschaffen?

Fragen über Fragen, unbequem und faszinierend zugleich. Der Verlust der Fähigkeit, solche Fragen zu stellen, ist ein tragischer Rückschritt, der mit der Institutionalisierung der Linken einhergeht. In den 25 Jahren zwischen 1977, als die Demonstrationen gegen die Diktatur wieder aufgenommen wurden, und 2002, als Lula zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, war das noch anders. Die eingehende Analyse des Projekts des Militärs, der sich die alternative Presse, manche Wissenschaftler und Institute selbst in den finstersten Jahren der Repression gewidmet hatten, nutzten soziale Bewegungen als Nährboden zur Entwicklung ihrer alternativen Modelle.

Paradigmatisch ist das international bekannte öffentliche Gesundheitssystem SUS. Seine Ursprünge liegen in der Zeit des Militärregimes. Doch schon auf dem ersten Seminar zur nationalen Gesundheit, das 1979 von der Regierung unter General Figueiredo einberufen wurde, setzte sich die Reformposition der Bewegung für öffentliche Gesundheit durch. Die Prinzipien des SUS wurden auf der 8. Nationalen Gesundheitskonferenz definiert, die 1986 unter der Regierung Sarney stattfand. Auf massiven Druck der sozialen Bewegungen regelte die Verfassung von 1988 die Bereitstellung der erforderlichen Mittel. Und ausgerechnet unter Staatspräsident Collor de Mello wurde 1990 das ausführende Bundesgesetz verabschiedet. Das Beispiel zeigt, dass soziale Errungenschaften nicht notwendigerweise eine linke Regierung voraussetzen. Das Bewusstsein und die Mobilisierung der Bevölkerung vorausgesetzt sind sie auch unter konservativen Regierungen möglich.

1989 gab die Kandidatur Lulas für das Staatspräsidentenamt der Entwicklung eines neuen Projekts für Brasilien einen neuen Impuls. Der Kandidat und die sozialen Bewegungen gingen eine Symbiose ein. Lula fand uneingeschränkte Unterstützung und stellte im Gegenzug sein 13-Punkte-Programm vor, das sich wie eine Sammlung der alternativen Modelle der sozialen Bewegungen liest. Damals, zu Beginn des Neoliberalismus, der nach der Wahl Collor de Mellos Einzug hielt, hätte das 13-Punkte-Programm Brasilien zu einer echten Alternative werden lassen können. Und über Jahre galt das Programm als wegweisend für ein alternatives Projekt.

Ein Jahrzehnt später, mitten in der neoliberalen Periode, beginnt, wenngleich weniger öffentlichkeitswirksam, erneut die Suche nach einem linken Weg: 1997 trafen sich etwa 300 Vertreter sozialer Bewegungen zu einer "Beratung des Volkes", um über das Handeln der Regierungen Collor, Franco und Cardoso und ein alternatives Projekt für Brasilien zu beratschlagen. 1998 flossen die Ergebnisse in den Sammelband "Die brasilianische Option" ein, der in Teilen bis heute aktuell ist.

Als Lula im Jahr 2002 an die Macht kam, hätte diese programmatische Arbeit verstärkt werden müssen. Paradoxerweise kam sie zum Erliegen. Die erste Schwäche – der mangelnde Einsatz für strukturelle Reformen – wird durch eine zweite noch verstärkt: Die Arbeiterpartei PT und der Lulismus machten es sich im Staatsapparat bequem und wurden von diesem verschlungen. Schnell waren sie vergessen: die eigene rebellische Herkunft und die enge Anbindung an die sozialen Bewegungen, die originellen und einzigartigen Modelle, die in den Jahren zuvor unter linken Regierungen in Kommunen und Bundesstaaten entstanden waren. Selbst der sogenannte "Bürgerhaushalt" wurde ab 2003 zu Grabe getragen.

Beide Schwächen verstärkten sich gegenseitig: Warum sollte man Strukturen reformieren, wenn dazu die Struktur der Macht, die man endlich errungen hatte, zerstört werden müsste? Wie soll man die Hürden eines ultrakonservativen politischen Systems überwinden, wenn man darauf verzichtet, die archaischen Grundfeste eines Landes zu erschüttern, denen Parlament und Gerichte verpflichtet sind?

Auf die zweite Schwäche wird im folgenden Teil näher eingegangen. Festzuhalten bleibt vorerst der quälende Widerspruch: Je pragmatischer sich der Lulismus in Brasilien gebärdete, umso weniger kam er als Alternative in Frage. Fast scheint es, als habe die Elite dem Lulismus vorgetäuscht, ihn anzunehmen, ihm dann die Krallen gezogen, nur um ihn dann wehr- und schutzlos zur Schlachtbank zu tragen. In manchen Ländern der Welt, denken wir nur an die USA und Großbritannien, sind traditionelle Mitte-Links-Parteien von Politikern wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn mit dem Aufruf, entschlossen gegen soziales Unrecht vorzugehen, zu neuem Leben erweckt worden.

Wurde die althergebrachte Logik der Mäßigung und der Angleichung politischen Handelns dadurch verändert? Und was könnte eine solche Veränderung in Brasilien auslösen?

III. Die Lage schlägt um. Demonstrationen gegen den Putsch und für den Abtritt von Michel Temer in ganz Brasilien

Die aktuellen Ereignisse wirken geradezu surreal. Doch wenn die alte Politik in der Krise versinkt, wird bis dato Unvorstellbares nicht selten real – nicht zuletzt in einem Land wie Brasilien. Nur eine Woche nach dem Staatsstreich hat sich die Lage in São Paulo gedreht. Nur wenige Häuserblocks von der Stelle entfernt, an der sich im März der Hass der Massen auf die Demokratie entladen hatte, kamen am 4. September ganz andere Stimmen zu Gehör. Ein einfacher Post in den sozialen Medien reichte aus, 20.000 Menschen auf dem Platz vor der Kathedrale zu versammeln. Der Demonstrationszug macht Halt vor dem Büro der Bundesregierung.

Seit jenem Sonntag, dem 4. September, braut sich ein Sturm zusammen: Mehr als 100.000 Menschen missachteten das Demonstrationsverbot der Polizei und und gingen gegen die Putschisten auf die Straße. Am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, erreichte der Protest alle 26 Bundesstaaten und die Hauptstadt Brasília. Auch bei seinen rein repräsentativen Auftritten beim Unabhängigkeitsumzug in Brasília und der Eröffnung der Paralympischen Spiele im Maracanã-Stadion wurde der unrechtmäßige Staatspräsident am 7. September ausgepfiffen. Damit ist eine Richtung vorgegeben: In den kommenden Tagen und Wochen kann die Regierung durch neue Demonstrationen weiter unter Druck geraten.

Die Demonstrationen gegen den unbeliebten Präsidenten beginnen, das Lager seiner Unterstützer zu spalten und erschweren die Umsetzung der angekündigten Gegenreformen. Die angekündigte "Rentenreform" wackelt bereits: Hunderte von Abgeordneten auf Bundesebene, die bei den anstehenden Kommunalwahlen antreten wollen, drängen die Regierung, das Gesetz zur Erhöhung des Renteneintrittsalters erst nach den Wahlen einzubringen. Anderenfalls fürchten sie, vom Wahlvolk abgestraft zu werden.

Der mangelnde Rückhalt der Regierung – bis vor kurzem noch reine Spekulation – wird zu einer realen Bedrohung. Selbst Ex-Präsident Cardoso, eine Art Vordenker des konservativen Lagers, wurde aufgeboten, um einen Warnschuss abzugeben. In einem Interview äußerte er sich äußerst abschätzig über die schwache Regierung Temer. Eine Brückenregierung für den Übergang sei das nicht. Eher ein morscher Steg. Dennoch rief Cardoso die Eliten dazu auf, die Regierung zu stützen, schließlich wolle man ja nicht ins Wasser fallen. Der Steg sei nun mal die einzige Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen.

Auf einmal ist alles wieder offen. Werden die bürgerlichen Freiheiten faschistoiden Angriffen ausgesetzt? Wird Temer zurücktreten müssen? Werden Neuwahlen ausgerufen? Diese und viele andere Entwicklungen sind heute wieder denkbar. Die unmittelbare Zukunft ist wieder offen: Was man tut und wie man handelt ist nicht mehr egal. In solchen Momenten sind unbequeme Thesen wichtiger denn je. Zur entscheidenden Frage der Demokratie seien folgende Behauptungen erlaubt:

1. Als die institutionelle Linke in Brasilien die Regierung übernahm, arrangierte sie sich mit der Macht und erblindete schlagartig. Zu einer Zeit, in der die repräsentative Demokratie weltweit in die Krise geraten war, in der Versuche unternommen wurden, die Demokratie neu zu erfinden, ließ sich die institutionelle Linke in Brasilien in das immer enger werdende Korsett des brasilianischen Parlamentarismus zwängen.

2. Der Sturz des Lulismus ist auch Folge dieses Verfalls. Die Eliten hatten nichts unversucht gelassen, sich des Lulismus zu entledigen. Den Garaus machten sie ihm aber erst, als sich Präsidentin Rousseff in ihrer zweiten Amtszeit dem dreisten System unterwarf und die über dreißig Jahrzehnte gewachsene Unterstützung durch breite Bevölkerungsschichten über Bord warf.

3. Nach dem Putsch ist die Lage undurchschaubar und voller Gefahren. Zugleich birgt sie eine seltene Chance: Ob es gelingen kann, den Lulismus zu überwinden und zu übertreffen, sein Vermächtnis und seine Errungenschaften zu achten, mit ihm im Gespräch zu bleiben und doch eine neue post-kapitalistische Linke zu schaffen?

Die ersten beiden Thesen genauer auszuführen mangelt es an Zeit. Zur ersten These nur so viel: Um die Jahrtausendwende erfuhr die Arbeiterpartei PT international Beachtung, weil sie als Regierungspartei in Kommunen und Bundesstaaten innovative, gegen die institutionelle Verkrustung gerichtete Modelle anwendete. Der Bürgerhaushalt, die Beteiligung der Bürger an der Erstellung der öffentlichen Haushalte, war wenngleich nicht das einzige, so doch das bemerkenswerteste Modell dieser Art. Es spricht Bände, dass der Bürgerhaushalt auf Bundesebene keine Beachtung fand. Noch schwerer wiegt, dass er in den Bundesstaaten und Kommunen, allen voran in seinem Ursprungsort Porto Alegre, zu Grabe getragen wurde.

Die 2. These führt uns zu den Demonstrationen des Jahres 2013. Trotz der weitgehenden Zugeständnisse an das herrschende System und des Verzichts auf strukturelle Reformen wäre es 2013 noch möglich gewesen, das Ruder herumzureißen. Angesichts der Massen, die für bessere öffentliche Dienstleistungen demonstrierten und das Ausbluten der Demokratie beklagten, hätte sich der Lulismus weiterentwickeln können, wenn er nur bereit gewesen wäre, seine Beziehung zur Macht zu hinterfragen. Dieser Chance war sich die Regierung durchaus bewusst. Das zeigen die Stellungnahmen Dilma Rousseffs und ihr Vorschlag, eine Volksabstimmung über das politische System abzuhalten und eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Kaum hatte das konservative Lager mit der ihm eigenen Überheblichkeit abgewunken, gab auch die Regierung klein bei. Noch schien sie zu hoffen, das zerrüttete Verhältnis zur Bevölkerung ließe sich kitten. Als ab 2015 die Forderung nach einem Amtsenthebungsverfahren aufkam, begriff die Regierung, gerade noch dem Druck der Straße entronnen, dass die Rechte die Menschen auf die Straße bringen würde, um endgültig mit dem Lulismus abzurechnen.

Besonders spannend ist die 3. These: Da die Ereignisse nicht abgeschlossen sind, kann man ihren Lauf ändern. Besonders auffallend bei den Demonstrationen der letzten Tage und Wochen ist, dass sie zahlreicher und stärker werden, obwohl die institutionelle Linke nicht dabei ist. Parteien und Gewerkschaftsverbände sind so gut wie gar nicht zu sehen. Zehntausende rufen sich selbst zu Demonstrationen auf. Welche Folgen kann ein solcher Prozess auf lange Sicht haben, wenn man an eine Erneuerung der Linken denkt?

In den kommenden Tagen gilt es, die Demonstrationen zu stärken. Das Ziel ist der Sturz der illegitimen Regierung. Damit wäre ein politischer Sturm entfesselt, der die Kraft besitzt, das Alte von der Landkarte zu fegen. Ganz gleich wie die Geschichte ausgeht, die Lage bleibt verzwickt: Wie schaffen wir politische Strukturen, die über das repräsentative Modell hinausgehen und die Demokratie neu erfinden. Und wie treiben wir zugleich den Kampf für strukturelle Reformen voran?

Die Frage stellt sich überall auf der Welt. Eine Patentlösung gibt es nicht. In Ländern wie Griechenland oder Spanien setzt man vorläufig auf Parteien mit Bewegungscharakter wie Syriza und Podemos. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten entwickeln die traditionellen Linksparteien neue Bindekraft, wobei sich ihre Forderungen radikalisieren, die Führungsebene an Glaubwürdigkeit verliert und Außenseiter wie Jeremy Corbin und, weniger bedeutend, Bernie Sanders die Bühne betreten.

Welche Wege werden sich in Brasilien auftun? Wie wäre es, wenn wir nach den "Temer Raus!"-Rufen in ganz Brasilien Aktionsgruppen gegen den Putsch gründeten? Könnten solche Gruppen in der Zeit zwischen den Demonstrationen dafür sorgen, dass der Kampf für die Rechte, dafür, dass ein anderes Land möglich wird, nicht zum Erliegen kommt? Wie wäre es, wenn wir uns in solchen Gruppen mit der Krise Brasiliens befassten und Alternativen entwickelten? Und wie wäre es, wenn die Gruppen Wurzeln schlügen und mit den neuen Spielarten der Politik in Kontakt kämen, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen und uns oft so wenig "rational" erscheinen? Was würde geschehen, wenn die Ränder der Gesellschaft, die sich in der aktuellen Krise noch zurückhalten, mitmachen?

Mit diesen Fragen wird sich der nächsten Text befassen.


Dies sind die bisher publizierten ersten drei von insgesamt sechs angekündigten Hypothesen von Antonio Martins aus Brasilien. Er ist Gründer und Redakteur des Debattenportals Outras Palavras (Andere Worte)

  • 1. José Sarney trat 1985 das Präsidentenamt an, in das der verstorbene Tancredo Neves gewählt worden war
  • 2. Erster demokratisch gewählter Präsident Brasiliens nach 29 Jahren Diktatur, Amtszeit von 1990-1992
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